Karl Fried­rich Fischer (Archiv Müller)

Intro. Heute geden­ken wir des Oberleh­rers Karl Fried­rich Fischer aus Oberko­chen. Geboren am 10. Novem­ber 1875 als Sohn der Aloisia Mauser und des Josef Anton Fischer sowie als Bruder des „Herrgotts­häf­ners“ Josef , gehei­ra­tet am 4. März 1903 Walbur­ga geb. Niest (seine Frau ist wohl früh verstor­ben, Nachkom­men sind keine bekannt) und am 8. März 1963 gestor­ben. Gewohnt hat er im Eckhaus Dreißen­tal­stra­ße / Turmweg, im ehema­li­gen Schmid-Haus. Neben Franz Balle, Pfarrer Josef Tritt­ler und Alfons Mager gehör­te er zum schrei­ben­den heimat­kund­li­chen Kreis um Bürger­meis­ter Gustav Bosch, die das Amtsblatt in den 50er Jahren schon damals zu etwas Beson­de­rem machten – lange bevor jemand überhaupt an einen Heimat­ver­ein dachte. Da ist es geboten einen alten Bericht über Oberko­chen von ihm zu überar­bei­ten, mit ein paar Fotos zu verse­hen und zum Geden­ken an ihn zu veröf­fent­li­chen. Der Bürger­meis­ter übergab ihm vier Bilder mit der Bitte er möge etwas daraus machen.

1882: Die zweit­äl­tes­te Aufnah­me von Oberko­chen in seiner ganzen ländli­chen Beschau­lich­keit (Archiv Müller)

Hinweis. Es ist das ältes­te Foto von Oberko­chen aus dem Jahr 1876, einst im Besitz von Emil Leitz und es vermit­telt den Geist fried­li­cher Einsam­keit, an dem die Eisen­bahn seit 1864 vorbei­dampft. Wir sehen aber auch schon Indus­trie­an­sied­lun­gen, die das stille Dorf in nicht allzu ferner Zukunft in eine fulmi­nan­te Zeit katapul­tie­ren werden, die sich damals niemand vorstel­len konnte. Ich habe bewusst ein anderes Bild gewählt, weil das von Hr. Fischer angespro­che­ne Bild inzwi­schen jeder schon oft genug gesehen hat. Der blaufar­bi­ge Text stammt nicht von Hr. Fischer, sondern von mir.
„Nur die beiden Bahnwär­ter­häu­ser und der Bahnhof, zwölf Jahre vorher erstellt, die Kreuz­müh­le, das Mauser­haus, das alte Leitz-Haus und das Schleif­haus, die Ziege­lei und der Ziegel­hof sind außer­halb der geschlos­se­nen Ortschaft. „Wie könnt ich dein verges­sen,“ ruft der durch den Amtsan­tritt Pfarrer Lechlers 1875 in den Schwarz­wald versetz­te evange­li­sche Pfarr­ver­we­ser Dürr in einem Gruß an Oberko­chen aus: „Mein schönes Kocher­tal, wie sollt ich euch nicht lieben, ihr Berge allzu­mal“. Dann fährt er in neun weite­ren Strophen fort zu preisen:

• Die waldum­kränz­ten Höhen
• Die goldnen Ähren­fel­der
• Die blumen­rei­chen Auen
• Die klaren Bächlein
• Die Häuser in Reih‘ und Glied
• Die überra­gen­den Türme
• Und das hoch aufra­gen­de Felsenkreuz

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vor 1936: Blick direkt auf das heuti­ge Haus „Wirth / Polizei“ – auf das Haus des Oberleh­rers Fischer weist der rote Pfeil (Archiv Müller)

Es ist wahr. Die Lage Oberko­chens ist schön. Wenn aber auf einer Ansichts­kar­te vor 30 Jahren gedruckt stand „Luftkur­ort Oberko­chen“, so kann ich mich damit nicht einver­stan­den erklä­ren. Luftkur­ort ja, derb und herbe zugrei­fend, aber nicht mildernd, erhebend, reini­gend, trock­nend, heilend wie es bei Luftkur­or­ten über 800 M der Fall ist. Wem ich zu viel gesagt habe, der möge zu gegebe­ner Stunde mitkom­men auf die Aalener Straße außer­halb des Orts, auf die Dreißen­tal­stra­ße, auf den Bahnhof­per­ron, dann will ich ihm zeigen, wer das Essin­ger Tal herein­kommt, über Langert und Zweren­berg herein­stürzt, den Dreißen­tal­wind verur­sacht. In kalter Nacht muss man gesehen haben, wie sich die Brenz- und Donau­ne­bel durch die enge Pforte bei Königs­bronn wie böse Geister ins Tal schlei­chen, über die Bahnhof­ge­gend hinweg­zie­hen oder im Tale lagern, dass man des Nachbarn Haus nicht mehr erken­nen kann. Wenn dann der nasse eiskal­te Wind dazwi­schen­faucht, dann ist es aus mit dem neu erwach­ten Leben der Natur.
Nach dieser Randbe­mer­kung über die Witte­rungs­ver­hält­nis­se Oberko­chens (die heute längst nicht mehr so sind), wollen wir einen Blick auf die Lebens­ver­hält­nis­se der 1.240 Einwoh­ner des Dorfes vor 50 bis 75 Jahren werfen, also auf die Bewoh­ner unter den Dächern der schön angeord­ne­ten Häuser sehen.

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1954: Oppold, Leitz und Zeiss – Noch sind die Wohnba­ra­cken bewohnt (Archiv Müller)

Am 10. Novem­ber 1956 schrieb ein Herr ohne Einschrän­kung, also auch Oberko­chen betref­fend „Vor 50 Jahren hat man in Bequem­lich­keit und ererb­ter Schlaf­krank­heit dahin­ge­lebt“ (das gäbe heute einen Shits­torm). Für abseits gelege­ne Ortschaf­ten mag das zutref­fen, nicht aber für die aufge­schlos­se­nen, hellhö­ri­gen Bewoh­ner des oberen Kocher­tals. Ich, der ich selbst die letzten 25 Jahre des 19ten Jahrhun­derts miter­leb­te, kann bezeu­gen, dass sich die alten Oberko­che­ner stets durch Fleiß und Beschei­den­heit auszeich­ne­ten.
Die Landwir­te, fast alle Famili­en umfas­send, hatten durch Erbtei­lung, Hangbe­bau­ung, weite Wege, Dreifel­der­wirt­schaft mit gerin­gem Futter­bau, ungenü­gen­dem Wiesen­be­stand keine rosige Lage. In nassen Jahrgän­gen gedie­hen Getrei­de und Hackfrüch­te, Heu und Öhmd (beim zweiten Schnitt einer Mähwie­se gewon­ne­ne Biomas­se); in trocke­nen Jahren hunger­ten Mensch und Vieh. Manche Söldner (Besit­zer einer Sölde, eines kleinen Bauern­gu­tes) mussten schon von März ab Heu und Stroh kaufen, um ihre Tiere nicht schlach­ten zu müssen. Trotz­dem behiel­ten die Bauern Oberko­chens ihren Humor; denn die Frauen und die Töchter der Mütter sorgten dafür, dass trotz des für den Gemüse­an­baus kurzen Sommer und langen Winters nur Gutzu­be­rei­te­tes, Abwechs­lungs­rei­ches auf den Tisch gebracht und beim Vesper­brot statt des fehlen­den Obstmos­tes ein Gläschen Braun­bier (1÷2 Liter koste­te 10 Pf.) und ein „Bröcke­le“ aus der Rauch­kam­mer oder vom Krämer verab­reicht wurden. Obst fehlte leider ganz, bis Oberpost­in­spek­tor Mahler uns Oberkoch­nern zeigte, wie man mit raueren Sorten Erfol­ge erzie­len kann. Statt Obst sammel­te man die wohlschme­cken­den Waldbee­ren und die mannig­fal­tigs­ten Wildfrüch­te. Milch war immer ein rarer Artikel. Bei Ochsen­hal­tung, wie sie üblich war, nicht anders möglich. Die anfal­len­de Milch brauch­te man zur Morgen- und Abend­spei­se, zum Kochen und Backen. Nur einmal im Jahr – Mitte Oktober – rollte das Butter­fass der Mutter, wenn es galt, die würzi­gen Kuchen für die Familie und das Gesin­de zu backen für die Kirch­weih­zeit. Eine Molke­rei oder Milch­sam­mel­stel­le gab es um die Jahrhun­dert­wen­de nicht. Ebenso wenig Süßbut­ter, Sahne oder Schlag­rahm. So beschei­den wie die Nahrung waren die Kleidung und der Aufwand bei öffent­li­chen Festlich­kei­ten; aber alles war echt und recht!

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1936: Eine rare Luftbild­auf­nah­me – die Besie­de­lung des Dreißen­tals hat bereits begon­nen (Archiv Müller)

Du fragst mich: „Hatten die Dorfbe­woh­ner mit dem Wald zu tun?“ O ja, sehr viel! Die Pflan­zen­set­ze­rin­nen, die Wegema­cher, die Holzfäl­ler und ‑aufbe­rei­ter, die Holzkip­pe­rer, aber auch die übrigen Bewoh­ner des Dorfes. 600 Jahre – ab 1317 – war die Oberko­che­ner Realge­mein­de unein­ge­schränk­te Herrin der Wälder rings um das Dorf und einiger Exkla­ven wie „Bilz“ und „Riesen“ im Staats­wald. Der ganz Besitz umfass­te 3.400 Morgen (Generell gilt heute, dass 1 Morgen ¼ Hektar umfasst, also ca. 0,25 ha bzw. 25 a. Früher entsprach 1 Morgen derje­ni­gen Acker­flä­che, die mit dem regio­nal üblichen Gespann bei den vorherr­schen­den Böden an einem Vormit­tag gepflügt wurde) – der Staats­wald hinge­gen 6.700 Morgen – und wurde in 34jährigem Betrieb abgeholzt. Jedjähr­lich fielen nahezu 100 Morgen dem Beil oder der Säge zum Opfer. Da gab es Holz in Menge, beson­ders an Hängen, wo der Wald gut geraten war. Kohlen­feu­er waren im Dorf nicht nötig. Das Aufar­bei­ten des Holzes verlang­te aber viel Zähig­keit und Ausdau­er, und der Verkaufs­preis war gering. Ich erinne­re mich an ein Jahr, in dem der „Bürger­recht­ler“ – 100 durften es bloß sein – 28 RM (Der Raumme­ter oder auch Ster ist ein metri­sches Raummaß für Holz, das als ein Kubik­me­ter (1 m³) paral­lel geschich­te­tes Rund- bzw. Scheit­holz — inklu­si­ve dabei auftre­ten­der Zwischen­räu­me — definiert ist. Ein Festme­ter ist etwas anderes.) Holz und 800 Wellen zugeteilt bekam. 1 RM Buchen­holz erbrach­te 8–12 Mark, 10 Wellen, fein säuber­lich zuberei­tet, 11 Mark, Fuhrlohn inbegrif­fen. Welch ungeheu­re Belas­tung für Mensch und Vieh um ein paar Pfenni­ge bares Geld! Der Waldrechts­preis betrug um die Jahrhun­dert­wen­de 3.600 Mark, heute (also 1958) soll er auf den 4fachen Wert angestie­gen sein. Durch Einfluss des Staates hat sich inzwi­schen die Bewirt­schaf­tung des Realwal­des geändert; die Realge­nos­sen­schaft hat ihren Wald unter Staats­be­förs­te­rung gestellt und ganz der staat­li­chen Bewirt­schaf­tung des Waldes angeschlos­sen. Die „Bürger­recht­ler“ sollen mit der neuen Lage sehr zufrie­den sein und die jährli­chen Renten dankba­ren Herzens entge­gen­neh­men.
Im vorigen Jahrhun­dert (also dem 19ten), in dem ein wahrer Holzstrom über Oberko­chen wegging, mühten sich im Dorfe drunten ein Jahrhun­dert lang 20 Famili­en in ein, zwei oder drei Genera­tio­nen in der Hafne­rei, mit oder ohne Landwirt­schaft, um auf dies Weise ein paar Mark zusätz­lich oder den ganzen Lebens­un­ter­halt zu verdie­nen. Man kann sich das heute kaum mehr vorstel­len, wie schwer alle Glieder der Familie mitar­bei­ten mussten, wie gering die Gewinn­span­ne war, und wie schließ­lich die Hafne­rei aus Mangel an geeig­ne­tem Lehm und Glasur und durch die aufkom­men­de Konkur­renz von Email­le (Im Origi­nal­text steht Email und damit ist sicher nicht die E‑Mail gemeint), Porzel­lan und Alumi­ni­um und elektri­schen Geräten erlie­gen musste.

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1951: Oberko­chen Downtown der Sound und Geruch meiner Kindheit (Archiv Müller)

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1951: Oberko­chen Downtown – Blick in die andere Richtung (Archiv Müller)

Die Klein­hand­wer­ker waren im 19ten Jahrhun­dert haupt­säch­lich mit Ausbes­se­rungs­ar­bei­ten beschäf­tigt. Die Wagner und Schmie­de hatten Mühe genug, die zerbro­che­nen Deich­seln und Räder, die Wagen­lei­tern und Karren­tei­le zu erset­zen, die Tiere zu beschla­gen, aber die Arbeit auf Jahres­rech­nung zu machen war eine unange­neh­me Sache, denn die Rechnun­gen wurden so in der Weihnachts­zeit fürs ganze zurück­lie­gen­de Jahr geschrie­ben und vorher gab es kein Geld! Die Schrei­ner machten Wiegen, Möbel für die Aussteu­er und Särge; zu Bauar­bei­ten gab es nur selten Gelegen­heit. Die Bauhand­wer­ker hatten nur wenig zu tun. Die Mauerer waren zugleich Tünch­ner * und im Winter die Holzfäl­ler im Staats­wald. Gipser und Maler gab es nicht.. (* Darun­ter verstand man im 19. Jahrhun­dert einen Handwer­ker, welcher tüncht, und daraus ein Geschäft macht. Im Rahmen des Geschäf­tes streicht er die Wände und Mauern mit Tünche und wurde deswe­gen regio­nal auch Weißer genannt.)
Die Bohrer­ma­che­rei, einge­führt durch Johann Jakob Bäuerle (1855), weiter­ver­zweigt durch Albert Leitz (1876), Jakob Schmid (1882), Wilhelm Grupp (1890), Hans Schoch, Wilhelm Sapper, Karl Wannen­wetsch (1906), hatte trotz der den vier Werken gelun­ge­nen Nutzung der Wasser­kraft bis zur Jahrtau­send­wen­de keinen leich­ten Stand, aber Aussicht auf besse­re Zeiten war allen geschenkt: „Das Zeital­ter der elektri­schen Kraft und besse­ren Lichts war angebro­chen.“
Die Erfin­dun­gen Edisons und Werner Siemens‘ leite­ten einen neuen Abschnitt in der Indus­tria­li­sie­rung Deutsch­lands und der Welt ein. 1908 wurde Oberko­chen an das elektri­sche Strom­netz angeschlos­sen. Damit begann die Entwick­lung zum Indus­trie­zen­trum des oberen Kocher­tals. Jetzt konnten die Hand- und Wasser­an­trie­be, die Trieb­rie­men und Trans­mis­sio­nen fallen: ein Hebel­griff, und Licht und Strom waren ein oder ausge­schal­tet! Das alles verfolg­ten die Bewoh­ner des Dorfes unter ihren Dächern mit Aufmerk­sam­keit. Sie hörten, dass Daimler 1883 in Gemein­schaft mit Maybach seinen ersten Schnell­läu­fer mit Benzin­an­trieb schuf, 1885 sein erstes Motor­rad fuhr, 1886 das erste Auto ohne Gespann durch die Straßen von Cannstadt lenkte, wie Lilien­thal in Berlin der erste Freiflug glück­te und Zeppe­lin über den Boden­see und den Rhein hinab­flog. Der Bedäch­ti­ge sagte: „Das ist alles nichts für uns“, während andere den ganzen Auto- und Luftver­kehr voraus­sag­ten.
Im “Deutschen Automo­bil-Adreß­buch” wurden 1909 erstmals alle deutschen Automo­bil-Besit­zer zentral erfasst. 45.000 Fahrzeu­ge waren regis­triert — Pkw, Lkw und Motor­rä­der. Per Suche können Sie heraus­fin­den, wer wo mit welchem Gefährt unter­wegs war. Vielleicht ja auch in ihrer Nähe?

Hatte Opas Opa ein Auto? Stöbern Sie im “Automo­bil-Adreß­buch” 

In unserer nächs­ten Nachbar­schaft finden wir im Jahr 1909 Autobe­sit­zer in Heiden­heim, Unter­ko­chen und Aalen – noch nicht in Oberko­chen.
Bevor ich das Bild der alten Heimat verlas­se, muss ich mich noch den kultu­rel­len Belan­gen Oberko­chens um die Jahrhun­dert­wen­de zuwen­den. Es sollen damit zugleich die letzten Gründe für den Vorwurf „angebo­re­ner Schlaf­krank­heit“ entkräf­tet werden. Die Bürger beider Konfes­sio­nen waren stets für gute Schul­bil­dung und volle Befrie­di­gung der religiö­sen Belan­ge besorgt. Aus dem fried­li­chen Neben­ein­an­der gab es oft ein glück­li­ches Fürein­an­der, beson­ders dann, wenn der andere Teil große Unter­neh­mun­gen durch­zu­füh­ren hatte. Der gemein­sa­me, oft preis­ge­krön­te Gesangs­ver­ein und der später hinzu­ge­kom­me­ne Musik­ver­ein waren stets bereit, für die gemein­sa­men Inter­es­sen einzu­tre­ten. Wir Katho­li­ken, unter Papst Leo XIII., Pius X. und Bischof Keppler stehend, hatten um die Jahrhun­dert­wen­de das Glück, in Pfarr­ver­we­ser Bucher *** aus Ravens­burg einen Mann zu besit­zen, der die „Verjäh­rungs­kir­che“ abrei­ßen und an ihrer Stelle unser schönes Gottes­haus aufbau­en ließ. Allsei­ti­ge Unter­stüt­zung war ihm sicher. Er aber riskier­te seine Gesund­heit für immer. Ein beson­de­res Lob unseren Kirchen­chö­ren, die mit ihren schönen Stimmen immer Hervor­ra­gen­des leiste­ten. Der Schul­haus­bau 1901, erstellt unter dem aufge­schlos­se­nen Schult­hei­ßen Bezler von hier, ist nach Stellung und Planung kein idealer Bau, aber er zeigt, dass man auch damals Kindern und Lehrer das Beste bieten wollte.
*** Emil Bucher war ab 21.11.1897 in Oberko­chen »Pfarr­ver­we­ser« gewesen und hat als solcher den Kirchen­neu­bau und den Schul­haus­neu­bau durch­ge­zo­gen. Pfarrer in Oberko­chen wurde Emil Bucher erst am 20.11.1901. Pfarrer Bucher schreibt in seinem Verset­zungs­ge­such vom 6.3.1906, dass er »auf letzte­rem Posten (Oberko­chen) sich infol­ge Überan­stren­gung ein chroni­sches Lungen­lei­den zugezo­gen habe, welches ihn daran hinde­re, in abseh­ba­rer Zeit seine Pfarrei Oberko­chen zu übernehmen.

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vor 1900: Die alte katho­li­sche Kirche vor dem großen Umbau (Archiv Müller)

Nun sprin­gen wir in die Zeit nach dem I. Weltkrieg, mitten in Infla­ti­on und nach der großen Krise in die Hitler-Zeit. Das Bild zeigt uns die ersten Aussied­lun­gen aus der bisher geschlos­se­nen Dorfge­mein­de. Zwei Brüder mit Namen Mangold aus Zipplin­gen, gelern­te Maurer, nun Eisen­bahn­an­ge­stell­te, bauten auf Balles Acker an der Birgel mit eigenen Händen ein Doppel­wohn­haus, den Anfang der Sperber­stra­ße. Niemand half ihnen. Der Wert der Mark war inzwi­schen auf ein Billi­ons­tel gefal­len. Was man heute verdien­te, war morgen wertlos. Bauma­te­ria­li­en waren nur durch Kompen­sa­ti­on zu erhal­ten. Zweiter Aussied­ler war mein Hausherr Karl Schmied, der auf dem Acker meines Bruders siedel­te (Ecke Dreißen­tal­stra­ße 30 Abzw. Turmweg). Ihm schlos­sen sich die Bewoh­ner des Turmwegs an, darun­ter auch Cafétier Gold. Alles in allem: die Siedlung mutet uns an wie eine Wohnin­sel im weiten Kessel des Dreißen­tals. Das vorde­re Dreißen­tal wurde für so unantast­bar gehal­ten wie bis vor kurzem der Bühl. Aber auch hier setzten, nachdem die Schwie­rig­kei­ten überwun­den waren, zielbe­wuss­te Arbei­ter, Werkmeis­ter und Angestell­te Spaten und Schau­fel an, um an der Kelten­stra­ße, wie sie der Gräber­fun­de wegen genannt wurde, Eigen­hei­me zu bauen. Auch die Firma Schmied begann 1928, ihren Betrieb vom Stamm­haus weg zu verlegen.

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vor 1937: Oberko­chen aus der Luft – zwischen Villa und Bahnglei­se sehen wir die „Riesen­wie­se“ (Archiv Müller)

Die Fabri­ken waren die einzi­gen, die unter­neh­men und ihren Besitz erwei­tern konnten. Die Firma Bäuerle konnte den Schul­zen-Garten und 1928 die „Obere Mühle“ samt den dazu gehören­den Fabrik­an­la­gen erwer­ben und ab 1937 die „Riesen­wie­se“ (auf dem Bild deutlich sicht­bar). Firma Leitz war es möglich, sich 1917 in den Besitz der „Ziege­lei“ zu setzen, Lände­rei­en nach Süden und Norden zu erwer­ben und ab 1938 groß angelegt zu bauen.
Sonst zeigt sich nach dem Bild im Dorf nichts Neues. Freund­lich grüßen die Kirchen und die wohlge­ord­ne­ten Häuser zur Höhe herauf. In diese äußer­lich ungestör­te Idylle fielen am 11. April 1945 Bomben, acht Tote mussten aus den Trümmern des Hauses gebor­gen werden. Beim Artil­le­rie­be­schuss am 24. April 1945 waren Menschen­le­ben Gott sei Dank nicht zu bekla­gen.
Mit dem Zusam­men­bruch im Mai 1945 war schlimms­te Zeit angebro­chen. Arbeit, Verkehr und Ernäh­rung stock­ten. Nur langsam begann es da und dort mit Aufräum­ar­bei­ten. Wer in die Kreis­stadt oder nach Stutt­gart, musste zu Fuß dahin gehen oder versu­chen, sich von einem, wenn auch noch so klapp­ri­gen, Auto mitneh­men zu lassen. Für die Ernäh­rung reich­te das bisschen, das man zugeteilt bekam, nicht hin. Die reiche Bucheckern­er­n­te („Buchele“) war ein wahrer Segen nicht nur für unser Dorf, sondern für die nähere und weite­re Umgebung. Die ganze Bevöl­ke­rung sollte büßen für die Gräuel­ta­ten des Regimes und seiner Helfer, weil das ganze Volk für mitschul­dig erklärt worden war.

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Um 1936: Das alte Rathaus in die Farben des 1000jährigen Reiches gehüllt (Archiv Müller)

Hier ist ein Einschub erfor­der­lich, weil ich das im letzten Abschnitt Gesag­te und Nicht-Gesag­te so nicht stehen lassen kann und will. Oberko­chen war keine heile Insel, auf der es keine Nazis gab und die Welt in Ordnung war. Es war hier wie überall:

• Am 5. März wählten 43,9 % (Württem­berg 41,9 %) der wahlbe­rech­tig­ten die NSDAP mit dem Wissen, was das Ziel der Partei war. Am 6. Novem­ber 1932 waren es nur 23,2%.
• Der Bürger­meis­ter Richard Frank wurde abgesetzt.
• Örtli­che Verei­ne wurden verbo­ten.
• Das einzi­ge HJ-Heim im Altkreis Aalen wurde 1938 in Oberko­chen am Turmweg 24 gebaut.
• Wir hatten den Wehrwirt­schafts­füh­rer Fritz Leitz mit kriegs­wich­ti­ger Produk­ti­on.
• Zwangs­ar­bei­ter wohnten in Baracken, im alten Turner­heim (heute TSV-Heim) im Katzen­bach und im „Grünen Baum“.
• Kriegs­wich­ti­ge Produk­ti­on fand auch in anderen hiesi­gen Betrie­ben statt. Eine rühmli­che Ausnah­me war die Firma JSO Jakob Schmid.
• Bürger wurden drang­sa­liert und auch ins KZ verbracht.
• Mitbür­ger wurden denun­ziert und lande­ten an der Front.
• Kath. Kirch­gän­ger wurden sonntäg­lich überwacht.
• Usw. usf.

In den ersten Jahrzehn­ten nach der Hitler­zeit wollten viele Deutsche vor allem verges­sen, verdrän­gen und “endlich einen Schluss­strich ziehen”. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Verbre­chen der Deutschen für alle Welt sicht­bar wurden und die Deutschen selbst die Augen nicht mehr verschlie­ßen konnten, schien eine Rückkehr in den Alltag kaum denkbar. Es dauer­te nicht lange, bis die ersten Stimmen danach riefen, “endlich einen Schluss­strich zu ziehen”. Verschwie­gen und verdrängt wurde im öffent­li­chen wie im priva­ten Leben. Im Osten wie im Westen. In beiden deutschen Staaten wurden Mitläu­fer und das riesi­ge Heer der ehema­li­gen NSDAP-Mitglie­der rasch in die neuen Gesell­schafts­ord­nun­gen integriert. Oft kamen sogar dieje­ni­gen, die schon unter Adolf Hitler Karrie­re gemacht hatten und überzeug­te Natio­nal­so­zia­lis­ten gewesen waren, erneut in Amt und Würden (siehe das örtli­che unrühm­li­che Beispiel Thümm­ler. Sehr oft waren es Juris­ten wie z.B. auch Hans Globke unter Adenau­er). In der jungen Bundes­re­pu­blik glaub­te man, ohne das Wissen der alten, belas­te­ten Fachleu­te sei kein neuer Staat zu machen, sei die Wirtschaft nicht wieder­auf­zu­bau­en und hätte man kein Perso­nal für die neue Bundes­wehr, die im Kalten Krieg so dringend gegen die kommu­nis­ti­sche Gefahr gebraucht wurde. Die Straf­ver­fol­gung von NS-Verbre­chen verlief schlep­pend. Vielfach wurden Unter­su­chun­gen einge­stellt oder verlie­fen ergeb­nis­los. Erst mit den Frank­fur­ter Ausch­witz­pro­zes­sen der 1960er-Jahre, in denen Mitglie­der des Lager­per­so­nals vor dem Richter standen, begann zöger­lich eine Ausein­an­der­set­zung mit der Vergan­gen­heit. (Thümm­ler wurde dort ledig­lich als Zeuge gehört, eine Ankla­ge wurde gegen ihn nie erhoben.) Auch in den Famili­en wurde geschwie­gen. Wenn überhaupt, kreis­ten die weiter­ge­ge­be­nen und erzähl­ten Erinne­run­gen an den Natio­nal­so­zia­lis­mus und den Krieg um Themen wie Erfah­run­gen in der Hitler­ju­gend und im Bund Deutscher Mädel, den Bomben­krieg und die Flucht gegen Ende des Krieges. Erinne­run­gen an die Juden­ver­fol­gung wurden hinge­gen verdrängt (“Wir haben das alles nicht gewusst”). Manch ehema­li­ger Volks­ge­nos­se verschwieg lieber ganz sein aktives Mittun oder die Tatsa­che, dass er sich an den enteig­ne­ten Besitz­tü­mern der Juden berei­chert hatte. Das hat die US-Besat­zer schon hin und wieder genervt, dass niemand etwas wusste und im Grunde doch alle im Wider­stand waren.

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1953: Boom-Dorf Oberko­chen – Blick über Zeiss ins Dreiß­ten­tal hinein (Archiv Müller)

Im Jahr 1946 begann das, was in der Zwischen­zeit zu der stürmi­schen Entwick­lung der Gemein­de geführt hat. Die bishe­ri­gen Fabri­ken Bäuerle, Grupp, Leitz, Oppold und Schmid hatten wohl Beschäf­ti­gungs­mög­lich­kei­ten geboten und den Rückhalt für die Gemein­de­kas­sen gebil­det. Denn alle waren auf solider Basis aufge­baut und weiter­ent­wi­ckelt, hatten erstklas­si­ge Werkmeis­ter, Vor- und Fachar­bei­ter, erzeug­ten ausge­zeich­ne­te Holzbe­ar­bei­tungs-Werkzeu­ge und ‑Maschi­nen und hatten sich mit ihren Erzeug­nis­sen Anerken­nung der gesam­ten Branche verschafft. Die Beleg­schaf­ten wurden ständig ergänzt durch Indus­trie­ar­bei­ter bahnauf- und bahnab­wärts gelege­ner Orte und vom nahen Härts­feld her.
Im Jahr 1946 begann unter der Firma OPTON die Evaku­ie­rungs­grup­pe von Carl Zeiss (Jena) hier etwas aufzu­bau­en. Die Gesamt­ge­mein­de war erfreut, dass die vorhan­de­nen damals leerste­hen­den Gebäu­de nicht dem Zerfall oder gar der Vernich­tung anheim­ge­ge­ben wurden, sondern nahezu der gesam­te Komplex, von Fritz Leitz im II. Weltkrieg erst erstellt (Indus­trie- und Verwal­tungs­ge­bäu­de, Lehrlings­heim, Martha-Leitz-Haus) pacht­wei­se von den aus Jena Vertrie­be­nen (eher von den Ameri­ka­nern Evaku­ier­ten) genutzt wurde. Zunächst fing es wohl mit 150 Perso­nen (meine Info lautet 87) an, bis zur Währungs­re­form waren schon über 1.500 beschäf­tigt. Der Betrieb wuchs immer weiter. So entstan­den die großen Indus­trie­ge­bäu­de, die heute das Dorfbild und das Tal beherr­schen. Manche Beschau­er meinen, dass die Gebäu­de etwas zu stark aufge­tra­gen seien. Ich kann dem nicht beipflich­ten. Sie übertref­fen, was Stil und Feinheit der Gliede­rung betrifft, bei weitem alle „Indus­trie­pa­läs­te“ Heiden­heims, des Fils‑, Rems- und Neckar­tals. Es muss herrlich zu arbei­ten sein, in den hohen lufti­gen Räumen der Zeiss-Werke. Mit der Zunah­me der Beleg­schaf­ten, der Aufnah­me der Heimkeh­rer, Flücht­lin­ge, Evaku­ier­ten und Vertrie­be­nen erwuch­sen der Gemein­de neue, schwe­re Aufga­ben. Es begann mit der Verbes­se­rung der Wasser­ver­hält­nis­se für die höher gelege­nen Ortstei­le. Durch Erstel­lung des Hochbe­häl­ters am Waldrand war erst die Besie­de­lung des Sonnen­bergs möglich. Der zweite Hochbe­häl­ter wurde beim Jugend­heim errich­tet und damit die Voraus­set­zung für die Wasser­ver­sor­gung der Coburg-Siedlung an der Brunnen­hal­de geschaf­fen. Der dritte und größte Hochbe­häl­ter, der für die Versor­gung von Guten­bach- und Tierstein­ge­biet bestimmt ist, ist noch im Bau begrif­fen. Daneben gingen die Sorgen um

• Verbes­se­rung der Straßen
• Entfer­nung der Dungla­gen
• Neuan­le­gung von Gehwe­gen
• Erbau­ung neuer Straßen
• der Kinder­schu­le
• der Schule 1951 mit Turnhal­le und Bädern
• die Verle­gung des Sport­plat­zes an den Kreuz­wa­sen
• die Ordnung der Abwas­ser­ver­hält­nis­se
• endlich die Anlage des neuen Fried­hofs am Abhang des Volkmars­ber­ges
• der Bau eines dritten Schul­baus
• und die Errich­tung des Progymnasiums.

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1960: Der Bauboom ist ausge­bro­chen – bezahl­ba­res moder­nes Wohnen – heute nicht möglich (Archiv Müller)

In der Kirchen­ge­mein­de wirken Geist­li­che, die unabläs­sig um das Wohl ihrer Gläubi­gen besorgt waren. Herr Pfarrer Hager, der auf eigenen Wunsch von uns gehen will, hat sich bleiben­de Verdiens­te um die katho­li­sche Pfarr­ge­mein­de Oberko­chen erwor­ben. Er sorgte neben der Durch­fi­nan­zie­rung des großen Geläu­tes für eine neue Orgel, für den Bau der lieblich von der Höhe grüßen­den Marien-Kapel­le, im Zusam­men­wir­ken mit und unter­stützt von der Gemein­de­ver­wal­tung für die Errich­tung des Schwes­tern­hau­ses und endlich die Erneue­rung der Pfarr­kir­che. Es gehör­te viel Mut dazu, die große Aufga­be in Angriff zu nehmen. Sie ist gelun­gen! In aller Stille verschwand alles überflüs­si­ge Beiwerk. Wer das Gottes­haus zum ersten Mal betritt, ist überrascht von der schlich­ten Schönheit.

In der evange­li­schen Pfarr­ge­mein­de waltet seit dem Weggang des liebens­wür­di­gen Herrn Stadt­pfar­rer Fiedler Herr Pfarrer Gottfroh. Er verstand es die Jugend zu gewin­nen und damit auch die Erwach­se­nen. Ein volles Gottes­haus ist sein Lohn. Wir Katho­li­ken freuen uns, dass auch in der Schwes­ter­ge­mein­de neues Leben erwacht ist. Die Zahl derer, die keine Religi­on angaben, darf uns nicht schre­cken. Sie störten bis jetzt das Zusam­men­wach­sen der Alt- und Neubür­ger nicht. Doch der Schmerz und die Sorge um diese unbekann­ten Menschen bleibt uns allen. Gott segne unser gemein­sa­mes Heimatdorf.

Auch hier muss ich meinen Senf dazu geben. Das war nicht immer so freund­lich wie Herr Fischer das darstellt. Alt- und Neubür­ger hatten stark unter­schied­li­che Biogra­fien, Bedürf­nis­se und Erwar­tun­gen. Es wurde gehei­ra­tet zwischen Alt- und Neubür­ger, zwischen Flücht­lin­gen, Vertrie­be­nen und Einhei­mi­schen, zwischen Stadt­leut‘ (Jena) und Landleut‘ (Oberko­chen). Das „falsche“ Gesang­buch war durch­aus ein Problem. Und manche Meinungs­ver­schie­den­hei­ten wurden auf der Straße zwischen „Hirsch“ und „Ochsen“ ausge­tra­gen. Und auch in der Nacht zum 1ten Mai entlud sich mitun­ter einiges durch mutwil­li­ge Strei­che. Das brauch­te schon seine Zeit, bis alle mitein­an­der konnten. Das rege örtli­che kultu­rel­le und sport­li­che Vereins­le­ben, das einen gewal­ti­gen Aufschwung verzeich­ne­te, war und ist der sozia­le Bindungs­kitt bis heute.

Heute kommen die Menschen aus völlig anderen Kultur­krei­sen und wir müssen wieder lernen mitein­an­der auszu­kom­men –

„Billie vom Sonnenberg“

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