Oberkochen veränderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg so rasch, wie kaum eine andere Gemeinde in Baden Württemberg. Durch die Neubürger, deren Zustrom schon in den 30er Jahren begann, gesellten sich zu den alten Traditionen neue Gedanken und Vorstellungen. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg war Oberkochen ein aufstrebender Industrieort, der auch vielen Auswärtigen Arbeit bot. Neben den traditionsreichen Betrieben auf dem Sektor der Holzbearbeitungsmaschinen und anderen Industrien wie z.B. dem Kaltwalzwerk, ist beispielhaft die Firma Fritz Leitz zu nennen, die sich 1938 vom Stammhaus Gebrüder Leitz abgetrennt hatte und auf dem Sektor des Maschinen und Apparatebaus arbeitete. Diese Firma erlebte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges einen überaus raschen Aufstieg und zog viele Neubürger nach Oberkochen; sie verlor ihre Stellung aber mit dem Ende des Krieges. In den großen Fabrikhallen der Fa. Fritz Leitz wurden nach 1945 zwar noch einige Reparaturen ausgeführt, aber größtenteils blieben die Produktionsstätten leer. Sie wurden ab 1946 die Heimat der Carl Zeiss Werke in Oberkochen.
Während die Neubürger vor 1945 bis auf wenige Ausnahmen aus den näheren und weiteren Nachbarorten stammten und die schwäbische Mentalität besaßen, kam ab 1945 ein völlig neues Element nach Oberkochen. Beispielhaft soll das Schicksal derjenigen Neubürger beleuchtet werden, die durch das Kriegsgeschehen ihre Heimat verloren und in Oberkochen ein neues zu Hause gefunden haben. Die ersten Neubürger dieser Art waren Evakuierte aus den zerbombten deutschen Großstädten, z.B. aus Stuttgart. Die große Einwanderungswelle aus den östliche Gebieten begann im Februar 1945, also schon vor Kriegsende. Zuerst waren es kleine Gruppen, die sehr schnell in den Ort integriert wurden, Eine völlig andere Dimension erhielt dann der Zuwanderstrom, als mit den Zeiss Werken zunächst Hunderte, später Tausende von Neubürgern aus Jena und vielen anderen Orten, vor allem aus Thüringen, nach Oberkochen kamen. Die Integration so vieler Menschen war keine leichte Aufgabe, sie darf aber rückblickend als gelungen bezeichnet werden.
Die ersten Zuwanderer aus dem Ostgebieten kamen aus Bielitz. Ihr Schicksal steht hier stellvertretend für das aller anderen Neubürger. Bielitz (heute Bielsko) liegt etwa 100 Kilometer südlich von Kattowitz und ebenfalls ca. 100 Kilometer südwestlich von Krakau unweit des Weichselursprungs. Am Fuße der Beskiden, einem Vorgebirge der Karpaten, landschaftlich ähnlich wie Oberkochen im Tal gelegen, ist Bielitz umgeben von bewaldeten Hängen und Bergen. Die Stadt zählte zum Kriegsende etwa 30.000 Einwohner und konnte ein Schloß, ein Theater und einen großen Marktplatz vorweisen. Wirtschaftlich betrachtet war Bielitz in erster Linie eine Tuchmacherstadt; feine Kammgarne wurden ebenso produziert wie Textilmaschinen, außerdem war eine Glockengießerei vorhanden. Auf schulischem Sektor beherbergte die Stadt z.B. zwei Gymnasien (ein polnisches und ein deutsches) sowie eine Ingenieurschule in ihren Mauern.
Politisch hatte Bielitz ein wechselvolles Schicksal. Vor 1919 gehörte es zu Österreich. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es in den 1919 wiedergegründeten polnischen Staat integriert. Die Menschen in Bielitz erhielten polnische Papiere, und Polnisch wurde zur Amtssprache. Trotzdern fühlten sich die deutschstämmigen Bielitzer weiterhin als Deutsche. 1939 besetzten deutsche Truppen auch das Gebiet, in dem Bielitz liegt, und aus den polnischen Staatsbürgern wurden “Volksdeutsche”.
Während des zweiten Weltkrieges wurde in Bielitz, in Oberkochen und überall sonst ein Teil der Industrieproduktion auf Kriegsbedarf umgestellt. An diesem Punkt beginnt sich die Entwicklung von Oberkochen und Bielitz zu verzahnen: Sowohl die Firma J.A. Bäuerle in Oberkochen als auch die Firma Gustav Josephys Erben in Bielitz hatten im Krieg Lafetten, also Untergeselle für Geschütze, zu produzieren.

Abbildung 9: Bielitz mit den Schlesischen Bergen
Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wich die deutsche Front an allen Abschnitten immer zurück. Im Februar 1945 hatten die russischen Soldaten Bielitz fast erreicht, der Gefechtsdonner war in der Stadt schon zu hören. Daraufhin wurde von höherer Stelle angeordnet, Teile der Lafettenproduktion auszulagern und zwar nach Oberkochen, weil dort fast baugleiche Lafetten hergestellt wurden. So verließ eine Gruppe von 15 Personen Bielitz, hauptsächlich waren es Männer: Ingenieure, Facharbeiter usw., doch schlossen sich auch wenige andere Herzte der Reise in die ungewisse Zukunft an. Sie brachen zu einem Ziel auf, das ihnen nur den Namen nach bekannt war. Viele von ihnen hegten die Hoffnung, bald wieder nach Hause zurückkehren zu können, weil die offizielle Propaganda vom Endsieg immer noch nicht verklungen war und weil so der Abschied von Familie, Hab und Gut ein klein wenig leichter fiel. Jeder hatte nur einen Koffer mit einigen Habseligkeiten, Erinnerungsstücken, einigen Kleidern und z.T. mit Eßproviant dabei. Alles andere blieb zurück. Wenigstens konnten die Auswanderer ihr Geld mitnehmen, denn die Reichsmark war zu diesem Zeitpunkt noch sowohl in Oberkochen als auch in Bielitz offizielles Zahlungsmittel. Separat und in großen Kisten wurden viele Geräte für den Lafettenbau von Bielitz nach Oberkochen transportiert.
Die Reise von der alten in die neue Heimat wurde mit dem Zug absolviert und dauerte mehrere Tage, immerhin konnte jeder Auswanderer einen Sitzplatz bekommen. Die Reiseroute führte über Teschen zunächst nach Prag. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Moldaustadt fuhr der Zug weiter über Nürnberg nach Aalen. Dort eingetroffen übernachteten die Neuankömmlinge in einem Notaufnahmelager und fuhren am nächsten Tag, es war der 14. Februar 1945, mit dem Vormittagszug nach Oberkochen. Zur Begrüßung erhielten sie in der Kantine der Fa. Bäuerle ein warmes Mittagessen. Zum Übernachten waren im Saal des Gasthofes “Grünen Baum” Stockwerkbetten als Notlager für die erste Zeit aufgeschlagen worden. Die Pächterfamilie Betz tat alles, um den Bielitzern den Neuanfang zu erleichtern. Auch der damalige Bürgermeister Heidenreich war den Neuankömmlingen in allen Belangen sehr hilfsbereit: Zunächst vermittelte er endgültige Unterkünfte. Ebenso hilfsbereit wie die offiziellen Stellen zeigten sich auch die Einwohner Oberkochens. Sie brachten ihren neuen Mitbürgern Brot und Obst, obwohl sie selbst keineswegs im Überfluß lebten.
Auch die damaligen Ortsgeistlichen, Pfarrer Matthäus Jans von der katholischen und insbesondere Pfarrer Eberhard Goes von der evangelischen Kirche, trugen nach Kräften zur Integration der Neuankömmlinge bei. Die Geistlichen besuchten die Neubürger in ihren Unterkünften, erkundigten sich auf der Straße nach deren Befinden und luden sie zu sich ein.
Trotz aller Bemühungen war für die Neubürger die erste Zeit in Oberkochen nicht leicht. Sie konnten wegen der Kriegsereignisse zunächst keinen Kontakt mit ihren in der alten Heimat zurückgebliebenen Angehörigen aufnehmen, und immer wieder fühlten sie sich einsam. So war für viele Bielitzer das erste Weihnachtsfest in Oberkochen “furchbar traurig”. Die ganze Gemeinde hatte sich zum Weihnachtsgottesdienst in der Kirche versammelt. Das Gotteshaus war mit Kerzen spärlich beleuchtet und mit Krippe und Weihnachtsbaum geschmückt. Für viele Neubürger war die einzige Weihnachtsfreude ein irdener Kaffeetopf aus der Fabrikation der Hafnerei Elmer, den Pfarrer Goes den Bielitzern am Abend nach dem Gottesdienst schenkte.
Bald jedoch wurden die Bielitzer in den Kreis der Oberkochener aufgenommen, und es entstanden sogar verwandtschaftliche Beziehungen. Die Anfangsschwierigkeiten bezüglich des Dialekts wurden ebenfalls schnell überwunden. Die Bielitzer lernten z.B., daß das schwäbische Wort “laufen” im Hochdeutschen “gehen” und das schwäbische “springen” im Hochdeutschen “laufen” bedeutet. Auch in den Eßgewohnheiten orientierten sich die Bielitzer in vielen Punkten an den Oberkochener Bräuchen, obwohl man in Bielitz mehr die österreichische Küche gewöhnt war. Einige Bielitzer formten die schwäbischen Gerichte jedoch auch nach ihrem Geschmack um.
Bis 1946 waren etwa 20 Familien von Bielitz nach Oberkochen gekommen: Die Familien Bathelt, Bohn, Dubiel, Englert, Hess, Homa, Janotta, Kaiser, Michalik, Mickler (zwei Familien), Piesch, Scharek, Schwarz, Stans, Staschek, Steckel, Urbanke (zwei Familien), Wenzel und Zipser. Alle mußten ihr Hab und Gut in der alten Heimat zurücklassen und einen völligen Neuanfang wagen. Nach der Währungsreform im Jahre 1949 gelang es vielen durch Fleiß und mit finanzieller Unterstützung durch den Staat, sich in Oberkochen einen Ersatz dafür zu schaffen, was sie in der alten Heimat hatten aufgeben müssen.
Die aus Bielitz stammenden Familien sind noch heute in der Gruppe Bielitzer Heimatfreunde zusammengeschlossen. Sie treffen sich etwa zehnmal im Jahr um Erinnerungen auszutauschen oder Bilder anzusehen, die in letzter Zeit bei Besuchen in Bielitz entstanden sind. Es werden aber auch viele Pakete an alte Bekannte in Bielitz zusammengestellt. Die meisten ehemaligen Bielitzer fühlen sich in Oberkochen seit Jahrzehnten heimisch, ohne jedoch die Verbundenheit mit ihrer alten Heimat aufgegeben zu haben.