Die Bräuche, wie wir sie jedes Jahr in der Karwoche immer wieder sehen und miterleben, auch in unserem Heimatdorf, entstammen dem volksfrommen Brauchtum einer, man darf ruhig so sagen, uralten Zeit. Den Sinn dieser Bräuche, wie wir solche auch schon vor 50 und mehr Jahren kannten, finden wir wiederum in der mittelalterlichen Volksfrömmigkeit am stärksten in ihrem Ausdruck. Der volkskundlichen Literatur entnehmen wir, daß diese Volksfrömmigkeit entstanden ist aus einer seelischen Grundhaltung heraus, wobei Stammesart und Landschaft formend mitwirkten. Gerade von den Gesellschaftsformen des Mittelalters, ob Bauernstand oder Handwerkerstand, wissen wir, daß in deren Bereich des Volksreligiösen ein starker Zug zur sinnfälligen, faßlichen Gestaltung der Ausdrucksformen vorhanden war. Als Urquell der Volkssitte galt der Drang des Volkes: Freude, Trauer und andere besondere Ereignisse, die regelmäßig wiederkehrten, durch Worte und Handlungen bildhaft auszudrücken, wieviel mehr aber war und ist dies der Fall, wenn Feierliches und Heiliges nach Ausdruck verlangte und verlangt. So entstanden auch die Bräuche in der Karwoche.
Wir haben in einem an dieser Stelle vor wenigen Wochen geschriebenen Artikel gelesen, welche Bedeutung das 40tägige Fasten vor Ostern bei unseren Vorfahren gehabt hat und daß am Anfang dieser Zeit wie auch heute noch der Aschermittwoch steht. Diesen Aschermittwoch sah zu allen Zeiten der Christ in seiner religiösen Schau als den Mahner und Wächter, der uns nach den Tagen des Faschingstreibens zuruft: »Mensch bedenke, daß du bist Staub und zu ihm wieder zurückkehrst.« Gleich sehen wir auch hier wieder den Drang zum handelnden Ausdruck. Der religiöse Mensch kniet sich nieder und läßt sich das Haupt mit Asche bestreuen einerseits als Symbol der Buße und andererseits als Vorbereitung auf die heilige stille Zeit, in welcher er das große Geschehen, den Erlösertod Christi, in besonderer Weise im Geiste der Buße betrachten möchte.
Der Palmsonntag, der am Eingang der Karwoche steht, war uns Kindern auch schon vor 50 Jahren, gerade seiner Bräuche wegen, ein lieblicher Tag – ein Tag voll kindlicher Freude. Da ging es schon frühmorgens los. Wer wird heute, frug sich jedes im Stillen unter der Decke, der Palmesel sein? Jedes schlich sich ganz leise aus dem Bett, nicht ohne sich vorher vergewissert zu haben, ob der andere nicht schon aufgestanden war. Kam dann der letzte Aufsteher in die Stube wurde er mit großem Hallo empfangen mit dem Rufe: »Palmesel, Palmesel« Nicht lange danach, wenn alles am Kaffeetisch saß, kam die zweite Spannung, wiederum beschert von einem brauchmäßigen Tun, die Palmbrezeln. In einem Körbchen aufgebeugt stellte sie die Mutter auf den Tisch. Für jedes der Kinder war eine Brezel bestimmt. Ach war das eine Wonne! Jedes schielte nach d e r Brezel von der es meinte, daß es die größte und die mit Zucker am meisten bestreute sei. Dann kam der Kirchgang. Auch er war so ganz anders wie die üblichen Kirchgänge. Es galt doch den Palmen in die Kirche zu tragen. Schon der Samstagabend zuvor war das »Palmenrichten« eine Geheimnistuerei der größeren Geschwister oder der Mutter. Die Kleineren waren bei Zeit in das Bett geschickt worden. Beim Nachbar am Bach durfte man den Palmen holen, der immer schon voll hing mit weißen Palmkätzchen. Er wurde zugerichtet für die Weihe in der Kirche. Zuoberst am Gipfel bekam er einen Buxbaumbüschel angeheftet zusammen mit einem Fähnchen aus Goldpapier. Dieselbe Verzierung, nur kleiner, bekamen die Äste. Dazu wurde dann noch der Stamm und die Äste mit buntem Papier umwickelt. Der ihn tragen durfte hatte seinen Stolz dabei, doch die anderen begleiteten ihn mit nicht weniger Stolz. Ja man konnte sagen, es war ein echter »Gemeinschaftsstolz« von dem der Palmen umgeben war. Dieser Stolz allerdings kam manchesmal zum Einschrumpfen, wenn von der Langgaß oder der Kirchgaß her einer auftauchte, der schöner und größer war. Es war nicht unbekannt, daß die Kratzersfranzen, die Schmiedjörgles, die Hofmänner, aber auch die Minder und Wingert vom Kies, manchesmal den Vogel abschossen. Auch war nicht unbekannt, daß in den Häfnersgärten und in den Gärten am Kocher hinunter die schönsten Palmenbäume wuchsen, also noch schönere wie am Katzenbach. Die Tage nach dem Palmsonntag war der Palmen dann im Hofraum aufgesteckt bis im Hause, meist im Stall, er seinen Platz gefunden hatte. Außer dem Palmen wurde von jedem Familienmitglied ein Palmzweig mit in die Kirche zur Weihe genommen. Einer dieser fand im Herrgottswinkel der Stube seinen Platz.
Der Palmesel, die Palmbrezel und der Palmenbaum haben im Raume der Sinndeutung eine sehr interessante Geschichte. Da ist einmal der Esel, dieser verlachte und verspottete Trottel unter den Zug- und Lasttieren. Er aber hatte die Ehre, Christus bei seinem Einzug in Jerusalem zu tragen. Außerdem sehen wir den Esel im Stalle zu Betlehem und auf der Flucht der Heiligen Familie nach Ägyptens. Das mittelalterliche Volk in seinem Drang zu bildhafter Gestaltung, nahm daher den Esel als Figur herein in die großen Palmsonntagsprozessionen. Berühmt waren von diesen um das Jahr 1400 diejenige in Antwerpen und die in Heidelberg. Heute finden wir den Esel nur noch als Palmesel bei dem zuletzt aufgestandenen Schläfer.
Die Palmbrezel verdankt ihren Einzug in den deutschen Raum der Fastenzeit, einst Fastenbrezel genannt. Ursprünglich war sie ein mürbes Gebäck, das seinem Nährgehalt wegen in der fleischlosen Zeit hergestellt wurde. In Dokumenten heißt sie »Brezillimbs«. Man fand ihre Spur zuerst in den Klöstern, wobei auch festgestellt wurde daß die Brezel schon die Griechen und Römer kannten unter dem Namen »bräcellum«.
Die Palmen und die Palmzweige erinnern an den Einzug Jesu in Jerusalem, gleichzeitig aber bittet der Landmann im Palmen, dem ersten Lebenskeim in der Natur, um den Segen Gottes für seine Saat. Die letzten drei Tage in der Karwoche: Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag sind Tage, an denen wir Kinder einst auch schon etwas mitahnten von dem Geheimnis um den Erlösertod. Wir fühlten uns mit hineingenommen in den heiligen Ernst, den wir bei den großen Leuten sahen. Am Gründonnerstag morgens in der Kirche nach dem »Gloria« starben die Glocken wie man uns sagte, eine andere Redart meinte, sie seien nach Rom geflogen. Jedenfalls hörte man die folgenden zwei Tage keinen Glockenklang mehr. Das war dann die Zeit in der wir Buben den Turm besteigen durften um dort zu rätschen (Ratsche, hölzernes Instrument). Ganz früher trugen die Buben die Ratsche durch das Dorf und rätschten in jeder Gasse vor dem Gottesdienst an drei bestimmten Stellen.
Auch die Altarklingeln waren verstummt und ersetzt durch einen hölzernen Klöpfel. Die Fenster in der Kirche und die Altäre waren mit schwarzen Tüchern verhängt, wie dies auch heute noch ist. Alles war auf Trauer eingestellt und die Gemeinde betet am Karfreitag den ganzen Tag vor dem »Allerheiligsten« Die liturgisch-zeremonielle »Feier« verfolgten wir Kinder mit kindlichem Ernst und großer Ehrfurcht. Später verstanden wir etwas von der Gesinnung und der Haltung der Großen, die diesen Tag still und ernst zubrachten, aber auch etwas von ihrem Wissen um das Wort der Schrift: »Beim Tode Jesu trauerte die ganze Natur.«
Am Karsamstag in früher Morgenstunde fand hinter der Kirche, zur Zeit der alten Kirche, an der Mauer bei dem Lindenbaum, die Feuerweihe statt. Da brachten wir Buben Holzscheite mit, ließen diese während der Weihe durch den Geistlichen anbrennen und trugen sie dann glostend nach Hause. Auch dieses Holzscheit bekam im Hause seinen Platz, denn auch in ihm sah man durch sein Geweihtsein Gottessegen ins Haus genommen, an dem gerade den Bauersleuten soviel gelegen war. Den tieferen Sinn dieser Feuerweihe (auch Notfeuer genannt) finden wir in den Gebeten der Segnung, sie erflehen Erleuchtung der Gläubigen und Schutz vor dem Feinde, auch, daß alle Speisen, die mit Feuer zubereitet werden, des Segen Gottes teilhaftig werden. Licht und Feuer sei gesegnet für das ganze Jahr!
Wenn dann am Karsamstagmorgen auf einmal wieder die Glocken läuteten, dann glaubten wir Kinder in diesem Läuten etwas besonderes zu hören, wirklich etwas von einer Auferstehung – so jubelnd hörten wir sie schallen hinüber an die Rothalde und an die Brunnenhalde. War es dann an diesem Tage Abend und wir kamen aus der Auferstehungsfeier heim, stibitzten wir gerne in die Küche, ob nicht schon der Hase mit seinen gefärbten Ostereiern um den Weg sei. Ach ja, es gab ja auch einmal eine selige Zeit, in der wir an den Osterhasen wirklich fest geglaubt haben. Auch hier hat Brauchtum und Sitte ein Stücklein Welt eingeschaltet mit dem Osterei, dem Sinnbild des Werdens und Wachsens. Vieles wäre noch zu sagen über Sinn und Schönheit der Karwochbräuche, aber da der Platz nicht reicht, möchte geschlossen sein mit den Worten eines berühmten Schriftstellers der sagte: »Es liegt ein feiner Sinn in unserem Volksbrauchtum. In ihm spiegelt sich die Tiefe unserer Volksseele, es ist Kraft der Innerlichkeit, Bekenntnis und Treue.«
Franz Balle