1898 wurde die alte katho­li­sche Pfarr­kir­che abgeris­sen und nach einer sehr kurzen Bauzeit unter Pfarrer Emil Bucher am 25. Oktober 1900 wieder neu einge­weiht. Die Innen­ar­bei­ten in der St.-Peter- und-Paul-Kirche nahmen aber noch über 10 Jahre in Anspruch.

Im Jahre 1900 entstand ein neues katho­li­sches Schul­haus: Der rote Backstein­bau in der Dreißen­tal­stra­ße, der für lange Zeit in etwa das Ortsen­de in Richtung Volkmars­berg markier­te. Aus diesem Schul­haus entwi­ckel­te sich später die Dreißentalschule.

Ebenfalls um die Jahrhun­dert­wen­de trug sich eine der heute noch am bekann­tes­ten Geschich­ten zu, die in verschie­de­nen Versio­nen erzählt, wird.

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg stand in Oberko­chen die konser­va­ti­ve katho­li­sche Zentrums­par­tei unange­foch­ten hoch im Kurs. Die Sozial­de­mo­kra­ten­grup­pe in Aalen versuch­te trotz­dem, in Oberko­chen Anhän­ger zu gewin­nen und hielt deshalb politi­sche Werbe­ver­samm­lun­gen ab. Eine solche abend­li­che Versamm­lung fand einmal im Winter im “Hirsch” statt. Die Aalener Sozial­de­mo­kra­ten kamen mit ihrem Pferde­schlit­ten zu diesem Zweck durch das verschnei­te Kocher­tal angereist und stell­ten ihre “Chaisse” in der “Garage” des “Hirsch” ab. Zwar besuch­ten angeb­lich nur wenige Oberko­che­ner diese politi­sche Veran­stal­tung, dennoch ärger­ten sich “einige junge Kerle vom Zentrum” über die ganze Sache und überleg­ten, welchen Streich sie den Aalenern spielen könnten.

Damals war an eine Kanali­sa­ti­on in Oberko­chen noch nicht zu denken, ebenso­we­nig an Toilet­ten mit Wasser­spü­lung. Eine Abort­gru­be übernahm die entspre­chen­de Funkti­on. Von Zeit zu Zeit mußte man diese Grube, die sich “auf natür­li­che Weise” füllte, ausschöp­fen. Dies geschah mit einem Eimer, der an einem langen Stiel befes­tigt war. Mit diesem sog. “Schapf” beför­der­te man den Gruben­in­halt zum Abtrans­port in ein großes Güllefaß.

Der “Streich” der jungen Leute basiert auf dieser Situa­ti­on. Heimlich und unbemerkt “lupften” sie den Deckel einer nahege­le­ge­nen Abort­gru­be, nahmen einen Schapf Gruben­in­halt mit und leerten ihn in die Kutsche der Sozial­de­mo­kra­ten hinein. Weil die Nacht “bitter kalt” war, fror alles schnell fest. Nach dem Ende ihrer politi­schen Versamm­lung gegen Mitter­nacht hüllten sich die Aalener in ihre Mäntel und Decken und fuhren nach Hause. Durch die Körper­wär­me, die sie ausstrahl­ten, taute der Gruben­in­halt in ihrem Pferde­schlit­ten langsam auf. Das machte sich durch immer stärker werden­de eindeu­ti­ge Gerüche bemerk­bar. Auf der Suche nach der Ursache für die eigen­ar­ti­gen Düfte soll einer der Aalener gesagt haben: “Des riecht grad, wie wenn einer in Schlit­ta neigschißa hätt”. Das trug den Oberko­che­ner den wenig hoffä­hi­ge Beina­men “Schlit­ten­schei­ßer” ein.

Nach der Jahrhun­dert­wen­de fuhr zum ersten Mal ein Auto durch Oberko­chen. In diesen Jahren war jedes Auto noch etwas ganz Beson­de­res (“des war a Fescht”). Der Unter­ko­che­ner Arzt Dr. Schmitt war die erste Person, die mit einem Auto durch Oberko­chen ratter­te. Es handel­te sich dabei um einen Opel “aus der ersten Serie”, also um ein “echtes Museums­stück”. Dieser Wagen hatte das Lenkrad auf der rechten Seite und mußte vorne mit einem “Triebel” angelas­sen werden. Die Hupe war außer­halb des “Fahrer­hau­ses” montiert und wurde durch Zusam­men­pres­sen eines großen “Gummi­bol­lens” betätigt. Der erste Lastwa­gen, der durch Oberko­chen fuhr gehör­te der Braue­rei Neff in Heiden­heim. In diesem Lastwa­gen, der noch mit Vollgum­mi­rei­fen ausge­stat­tet war, liefer­te Neff das Bier an den Gasthof “Grüner Baum”. Auch der erste Liefer­wa­gen, der in Oberko­chen zu sehen war, trans­por­tier­te Geträn­ke. Die Firma Hans Stützel aus Aalen belie­fer­te einige Oberko­che­ner Gasthäu­ser mit Limona­de, die in Fässern abgefüllt war.

Ob es sich um ein Auto, einen Liefer­wa­gen oder einen Lastwa­gen gehan­delt hat, immer konnte man das Gefährt schon von weitem heran­rat­tern hören, und die riesi­ge Staub­wol­ke, die es hinter sich her zog, war weit zu sehen. Die Straßen hatten damals noch keine Teer oder Asphalt­schicht. Nach heuti­gem Verständ­nis kamen sie Schot­ter­we­gen aus zerklei­ner­ten Kalkstei­nen gleich. Auf den Steinen lag eine zenti­me­ter­di­cke Staub– und Dreck­schicht. Immer, wenn es kräftig genug gereg­net hatte, wurde aus dieser Staub­schicht eine dicke schwar­ze “Suppe”. Der Straßen­wart, in den zwanzi­ger Jahren Martin Schoch, hatte die Aufga­be, die Wege regel­mä­ßig “abzulau­fen”, diesen Dreck mit großen, langen Schau­feln an den Straßen­rand zu schie­ben und zu kleinen Häuflein aufzu­rich­ten. Da der Staub z.T. aus dem Kalk der Straßen­stei­ne bestand, wurde der “Straßen­dreck” beim Trock­nen fest und konnte als Füllma­te­ri­al beim Bau oder zum Ausbes­sern z.B. der Ställe verwen­det werden. Damals standen noch einige Häuser aus behaue­nem Natur­stein in Oberkochen.

Während der “Straßen­dreck” für die Erwach­se­nen nützlich sein konnte, berei­te­te er vielen Kindern eine beson­de­re Freude. Es war ein “schau­rig-schönes” Gefühl im flüssi­gen “Straßen­dreck” herum­zu­lau­fen und die “Suppe” zwischen den Zehen hindurch­quel­len zu lassen. Der Staub bei Trocken­heit — und noch viel mehr der Schlamm bei Nässe — führte, das sei am Rande ebenfalls erwähnt, oft zu extrem schmut­zi­gen Schuhen. Entspre­chend aufwen­dig war auch das Schuhe­put­zen, das immer eine Aufga­be der Töchter, so gut wie nie die Arbeit der Söhne war. Dabei mußte man zuerst den gröbs­ten Dreck mit einem Messer “wegschar­ren”. Natür­lich benutz­te man ein stump­fes Messer, um das Leder nicht zu beschä­di­gen. Danach war mit einer Abrei­be­bürs­te der feine­re Dreck zu entfer­nen. Erst im nächs­ten Arbeits­gang konnte mit Schuh­creme einge­schmiert und “glänzig” gerie­ben werden.

In dieser Zeit gab es noch keine Gehwe­ge neben der Straße. Sie waren auch nicht nötig, da man sich damals so gut wie ungestört und auch gefahr­los auf der Straße bewegen konnte.

Damals gab es außer den Straßen sehr viele kleine Wege und Gäßchen, von denen heute leider die meisten verschwun­den sind. Trotz­dem sind den Kennern der “Oberko­che­ner Altstadt” noch einige dieser schönen, alten und verschlun­ge­nen Wege bekannt (z.B. am Kocher bzw. Kocher­ka­nal entlang), und ” es kam schon vor”, daß einige Alt-Oberko­che­ner in einer hellen Mondnacht beschlos­sen: “Komm, jetzt ganga mer ge Wegla Loffa”, um diese liebens­wer­ten Gäßchen wieder einmal zu durchstreifen.

Eine ähnlich große Attrak­ti­on wie das Auto war in den ersten Jahren des 20. Jahrhun­derts das Hochrad von Posthal­ter Späth, das in dieser Zeit das einzi­ge “Velozi­ped” im Ort war. Üblicher­wei­se beweg­te man sich zu Fuß oder im Kuhwa­gen fort. Offen­bar wurden die Pferde in Oberko­chen in diesen Jahren immer selte­ner. Der Grund: “D’ Gäul sind für da Hang wenig geeig­net und d’ Küh gäbet zusätz­lich Milch”.

Im Febru­ar 1905 wütete ein großer Brand in Oberko­chen. Fünf Häuser beim heuti­gen “Gubi” (damals eine Huf und Nagel­schmie­de) fielen den Flammen zum Opfer. Zwei Menschen wurden verletzt, und es entstand ein beträcht­li­cher Sachscha­den. Manche Bewoh­ner der brennen­den Häuser konnten außer ihrem Leben nur die Kleider retten, die sie auf dem Leib trugen. Die Brand­ur­sa­che blieb ungeklärt, immer wieder ist in diesem Zusam­men­hang jedoch von Brand­stif­tung die Rede. Daß das Feuer fünf Häuser auf einmal vernich­ten konnte, lag an der damali­gen Bauwei­se: Die verbrann­ten Gebäu­de waren nur durch ganz enge Wege getrennt, so daß das Feuer sehr schnell übergrei­fen konnte.

Wenige Jahre später (um 1908) war der erste Skifah­rer in Oberko­chen zu bewun­dern. Er kam mit seinen “Brettern” den Katzen­bach entlang und kehrte im “Hirsch” ein. Er stell­te seine Skier vor dem Wirts­haus ab, und schnell sammel­ten sich staunen­de Kinder um dieses unbekann­te Fortbewegungsmittel.

In jenen Jahren — und auch noch einige Zeit später — gab es in Oberko­chen wie überall einen Steuer­ein­neh­mer, der die verschie­de­nen Abgaben kassier­te. Die Steuern waren eine Bring­schuld, man mußte das Geld also in das Haus des jewei­li­gen Steuer­ein­neh­mers tragen. Der letzte Vertre­ter dieses Berufs­stan­des in Oberko­chen war Anton Hug, der 1913 starb. Die bei ihm abgelie­fer­ten Beträ­ge trug er mit Tinite in ein großes Buch ein, über das Geschrie­be­ne streu­te er zum Trock­nen Sand.

Auf dem Speise­zet­tel standen damals oft “Knöpf­le”, die aufwen­di­gen “Spätz­le” galten schon fast als “Herre­nes­sen”. Ein noch wichti­ge­res Nahrungs­mit­tel waren in manchen Famili­en Kartof­feln. Oft gab es schon zum Frühstück Pellkar­tof­feln oder eine Kartof­fel­sup­pe, und abends wurde eine große Pfanne Bratkar­tof­feln zuberei­tet. Auch aß man Kartof­fel­pü­ree; Salzkar­tof­feln und Kartof­fel­klö­ße waren damals noch unbekannt. (Diese Gerich­te konnten sich in Oberko­chen erst mit dem Zuzug der Neubür­ger nach dem Zweiten Weltkrieg durch­set­zen). Als Vesper gab es eine Rote oder einen Landjä­ger sowie Backstein­kä­se. Schin­ken­wurst war schon etwas Beson­de­res. Ebenfalls nur ganz selten wurde das Kranz­brot gebacken. Dieser süße Zopf, der etwa einen Meter lang und 25 Zenti­me­ter breit sein konnte, kam nur zu hohen Festta­gen — wie Weihnach­ten, Ostern und Pfings­ten — auf den Tisch. Häufi­ger wurden dagegen Pfannen­ku­chen, Siedfleisch oder Kutteln gegessen.

Ein typisches “Freitags­es­sen” waren “Bruck­höl­zer”, die auch heute noch gerne gekocht werden. Die Grund­la­ge dieser Mahlzeit ist ein “Schupf­nu­del­teig”, der in die Form finger­di­cker “Rollen” gebracht wird. Diese Teigrol­len sind dann Lage für Lage gitter­för­mig in einem Kochtopf überein­an­der­zu­schich­ten, mit Milch zu übergie­ßen und zu backen.

Viele Hausfrau­en stell­ten jeden Samstag den Teig für die “weißen Kipf” her. Die Zutaten sind sehr einfach: Zwei Pfund Mehl, Milch, Hefe und Salz. Auf luxuriö­se­re Dinge wie Eier wurde verzich­tet. Den “Kipft­eig” brach­te man in einer Schüs­sel zu einer der vier Bäcke­rei­en Geißin­ger, Sachter, Storchen­bäck Widmann (der lange Zeit ein Strochen­nest auf dem Dach hatte) und Wannen­wetsch. Der Bäcker formte aus dem Teig die langen Weißbro­te und buk sie goldgelb und knusp­rig. Die “Kipf” waren zum Eintun­ken in den Kaffee gedacht und mußten eine ganze Woche bis zum nächs­ten Samstag “reichen”, oft waren sie aber schon am Donners­tag verzehrt. Sonntags gab es “Kathrei­ners-Malzkaf­fee”.

Heute mag es erstaun­lich klingen, daß man die “Kipf” weder völlig selbst gebacken noch ganz fertig beim Bäcker einge­kauft hat, sondern sich nur den Teig ausba­cken ließ. Für damali­ge Verhält­nis­se war das nichts Beson­de­res, denn die Bäcker waren meist Kunden­bä­cker. Ein Bäcker­la­den mit Verkauf stell­te eher die Ausnah­me dar. Weil man früher einer­seits so viel wie möglich selbst herstell­te, sich anderer­seits aber ein großer Backofen nicht für jede Familie lohnte, lag der beschrie­be­ne Mittel­weg nahe. Aus demsel­ben Grund gab es im Ort auch nur ein “Gsälz­häus­le”, nur eine Dresch­ma­schi­ne usw. Die Idee, die heute in der Landwirt­schaft unter dem Stich­wort “gemein­sa­mer Maschi­nen­park” immer stärker aufkommt, ist also schon alt.

Weit herum­zu­kom­men oder gar fremde Länder zu besuchen war damals für die meisten Leute die Ausnah­me, wenn auch viele Männer als Solda­ten im Ersten Weltkrieg auslän­di­schen Boden betre­ten hatten. Für manche begann “die große weite Welt” schon in einer Entfer­nung von wenigen Dutzend Kilome­tern. Es wird von einer alten Frau erzählt, die ihr Leben lang Oberko­chen so gut wie nie verlas­sen hatte. Im hohen Alter besuch­te sie zum ersten Mal das Härts­feld. Dabei soll sie ausge­ru­fen haben: “I hab gar net gwußt, daß d’Welt so groß isch”.

Wer damals etwas in Aalen einkau­fen wollte, mußte nicht unbedingt selbst in die benach­bar­te Stadt fahren. Was heute große lndus­trie­be­trie­be zwischen den Konti­nen­ten unter­hal­ten, gab es damals zwischen Aalen und Oberko­chen: Es war ein tägli­cher Boten­dienst einge­rich­tet. Auf diese Weise konnten die Oberko­che­ner wichti­ge Besor­gun­gen erledi­gen lassen. Der Bote fuhr jeden Morgen mit dem Zug nach Aalen; die einfa­che Bahnfahrt koste­te übrigens 20 Pfenni­ge, der Preis nach Unter­ko­chen betrug die Hälfte. Wer Schuhe kaufen wollte, konnte sich einige Paare zur Auswahl mitbrin­gen lassen und in Oberko­chen anpro­bie­ren. Der Rest ging am nächs­ten Tag wieder nach Aalen zurück. Wichtig waren diese Kurier­diens­te, die lange Zeit Klara Fischer (“Böde”) versah, auch für Arznei­mit­tel­ein­käu­fe, denn erst seit der Eröff­nung der Apothe­ke Irion im Jahre 1950 waren auch in Oberko­chen Arznei­mit­tel erhältlich.

An dieser Stelle sei noch eine kleine Geschich­te berich­tet, die sich um die Jahrhun­dert­wen­de in Oberko­chen zugetra­gen hat. Damals badeten die Jungen oft und gerne im Kocher, während für Mädchen dieses Vergnü­gen verbo­ten war. Einmal mißach­te­te eines der Mädchen das Badever­bot und tummel­te sich zusam­men mit den Jungen im Wasser. Zufäl­lig kam der katho­li­sche Ortsgeist­li­che vorbei und tadel­te die Kleine: “Man badet doch nicht mit Buben zusam­men!”. Darauf entgeg­ne­te das Mädchen mit ängst­li­cher und reuevol­ler Stimme: “Herr Pfarrer, i hab net gwußt, daß des Buba sind, die habet ja keine Hosen anghabt”.

Abbil­dung 4: Katho­li­sche Kirche nach 1900. Zu erken­nen sind außer­dem zwei “Misthau­fen” und die “Kandel” am Straßenrand.

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