Zu Beginn unseres Jahrhun­derts war Oberko­chen ein Ort mit etwa 1.300 Einwoh­nern, also für damali­ge Verhält­nis­se kein ganz kleines Dorf, wie es heute manch­mal behaup­tet wird. Doch nur relativ wenige Gebäu­de aus dieser Zeit sind bis in unsere Tage unver­än­dert erhal­ten geblie­ben. Außer einigen Privat­häu­sern sind dies eigent­lich nur die katho­li­sche Kirche und das rote Schul­haus der Dreißen­tal­schu­le (“Fuchs­bau”).

Geprägt war Oberko­chen — außer von der Bohrer­ma­cher­indus­trie — in erster Linie von der Landwirt­schaft; eine sehr große Rolle spiel­te aber auch das Hafner­ge­wer­be. Im äußeren Ortsbild dominier­ten neben vielen Hafner­häu­sern die Bauern­häu­ser, welche unschwer an den “Misthau­fen” vor dem Haus am Straßen­rand zu erken­nen waren. Da eine Kanali­sa­ti­on erst nach dem Zweiten Weltkrieg verwirk­licht wurde, flossen Regen und Abwäs­ser in einer “Kandel” am Straßen­rand ab.

Die Bauern betrie­ben Acker­bau und etwas Viehzucht. Haupt­säch­lich wurde Dinkel gesät, aber auch Gerste, Hafer, Kartof­feln, Rüben usw. gezogen. Um die Zeit des Ersten Weltkrie­ges wurde in Oberko­chen der erste Weizen angebaut, der ertrag­rei­cher und leich­ter zu verar­bei­ten ist als Dinkel. Verbrei­tet war auch der Hafer.

Die beste Düngung, die man damals kannte, war die Schaf­dün­gung. Die entspre­chen­den “Pferch­näch­te” wurden auf dem Rathaus verstei­gert. Der Schäfer erschien darauf­hin an dem verein­bar­ten Tag mit seiner Herde und dem Schäfer­kar­ren auf dem Grund­stück. Er grenz­te mit langen Gittern einen bestimm­ten Teil des Ackers ab. Nachts sperr­te er die Schafe in diesen Pferch. Was die Schafe fallen ließen, blieb als Dung liegen. Die Schaf­dün­gung koste­te pro Nacht etwa den Tages­lohn eines Fabrik­ar­bei­ters. Für die Bauern, die ohnehin immer nur wenig Bargeld besaßen, war dies ein sehr hoher Preis, zumal damit nur ein Bruch­teil eines einzi­gen Ackers versorgt war. Nicht jeder Bauer konnte sich diese teure, aber sehr gute Düngungs­art leisten, doch die Kosten “kamen an der Ernte wieder herein”.

Die Schafe weide­ten tagsüber an den Waldrän­dern rund um den Ort, im Wolfert­s­tal, Zweren­berg und auf dem späte­ren Neubau­ge­biet “Heide”. Viele Neubür­ger Oberko­chens werden sich schon gefragt haben, wie das heuti­ge Waldge­biet “Heide” zu seinem Namen kam. Dieses Areal war früher tatsäch­lich Heide­land: eine Wachol­der­hei­de. Erst als es fast keine Schaf­her­den in Oberko­chen mehr gab und die Tiere die junge Triebe nicht mehr “zurück­stutz­ten”, began­nen dort auch Bäume zu wachsen; ein Prozeß der teilwei­se durch planmä­ßi­ge Auffors­tung voran­ge­trie­ben wurde.

Die Wachol­der­bü­sche auf der “Heide” dienten den Oberko­che­ner Hausfrau­en als Grund­la­ge für einen honig­ar­ti­gen Sirup. Da in der Landwirt­schaft während der Ernte­zeit jede Hand gebraucht wurde, war es günstig, daß die Wachol­der­bee­ren erst im Herbst, also nach der Ernte, reiften. Man pflück­te die Beeren aber nicht einzeln, sondern rüste­te sich mit Handschu­hen und einer Wanne aus, bevor man zu den Wachol­der­bü­schen zog. Mit dem Körper preßte man die Wanne unter den Busch und streif­te mit den Händen und Unter­ar­men die Wachol­der­bee­ren direkt in die Wanne hinein (das sogenann­te “Wachol­der­be­er­strei­fen”). In der Wanne sammel­ten sich auf diese Weise die Beeren, aber auch Nadeln und andere unbrauch­ba­re Dinge an. Durch geschick­tes Schwen­ken der Wanne und Hochwer­fen sonder­te man die Wachol­der­bee­ren ab und brach­te sie anschlie­ßend ins Tal. Den Sirup kochte nicht jede Familie bei sich zuhau­se, sondern man benütz­te gegen eine kleine Gebühr das “Gsälz­häus­le”, das sich noch heute (wenn auch etwas umgebaut und frisch herge­rich­tet) auf dem Anwesen der Familie Gutknecht (Schrei­ner­gäss­le) befindet.

Zum “Gsälzen” waren zwei große Kessel nötig, deren Anschaf­fung sich nicht für jede Familie lohnte. Die Benut­zer des “Gsälz­häus­les” brach­te ihr Brenn­holz für das Feuer und auch das Wasser aus dem Brunnen selbst mit. Zuerst mußten die Beeren mehre­re Stunden in einem großen Kessel gekocht und danach ausge­preßt werden. Der dadurch entstan­de­ne Saft wurde in einem zweiten Kessel so lange weiter­ge­kocht, bis er Fäden zog und zu Sirup gewor­den war. Während dieses stunden­lan­gen Vorgangs saß man oft noch bei Kerzen­licht zusam­men und “schwätz­te” mit den Nachbarn. Der für die Nieren heilsa­me Sirup wurde ohne Zucker zuberei­tet. Sirup wurde auch aus den jungen Tannen­trie­ben gewon­nen (“Tannen­lempf”) und beliebt war ebenso das “Hägen­mark” (“Gsälz” von Hagen­but­ten). Eine weite­re wichti­ge Beeren­sor­te, die in den Wäldern um Oberko­chen noch heute weit verbrei­tet ist, waren die Himbee­ren, und nicht zu verges­sen sind die Heidel­bee­ren, die auf der Bilz wuchsen. In der kurzen Zeit der Beeren­rei­fe schick­ten die Eltern ihre Kinder jeden Tag in den Wald. Sie gaben ihnen ein Gefäß mit, das mit Beeren ganz gefüllt werden sollte. Da meist mehre­re Kinder zusam­men loszo­gen, war der Samme­lehr­geiz sehr groß. Wenn die Suche einmal weniger erfolg­reich ausge­fal­len war, gab es eine einfa­che Möglich­keit, das Mißergeb­nis zu verber­gen und die Ernte wenigs­tens optisch etwas besser ausse­hen zu lassen. Einige erfin­de­ri­sche Kinder legten in diesem Fall unten in ihr Sammel­ge­fäß Gras und füllten es nur oben mit Beeren auf. Begrün­dung: “Leer heimgan­ga isch mer net”.

Die Pilzsu­che scheint übrigens in Oberko­chen vor dem Zweiten Weltkrieg so gut wie unbekannt gewesen zu sein.

In die Zeit des Ersten Weltkrie­ges fällt auch ein heute humor­voll erzähl­ter, damals aber doch ernster Zwischen­fall im Zusam­men­hang mit den Bittpro­zes­sio­nen. Alljähr­lich fanden am Markus­tag (25. April) und in der Woche um Himmel­fahrt von der katho­li­schen Kirche aus Bittgän­ge und Feldbe­ge­hun­gen in alle Richtun­gen über die Äcker und Felder des Ortes statt. Dabei wurde um Segen für die Felder bzw. die Ernte und für günsti­ges Wetter gebetet. Am Markus­tag führte die Prozes­si­on tradi­tio­nel­ler­wei­se nach Unter­kro­chen, um in der dorti­gen Wallfahrts­kir­che eine Messe zu feiern. Um sechs Uhr morgens verließ der Zug mit Kreuz und Fahne die katho­li­sche Kirche in Richtung Unter­ko­chen. Manche Kinder hatten fünf Pfenni­ge mitbe­kom­men, damit sie sich nach der Messe ein kleines Vesper kaufen konnten. Die Prozes­si­on führte an den Feldern entlang in Richtung Unter­ko­chen bis zum Bahnhof der Nachbar­ge­mein­de und dann den Berg hinauf zu Wallfahrts­kir­che. Aber nicht nur die Oberko­che­ner, sondern auch die Unter­ko­che­ner unter­nah­men alljähr­lich am Markus­tag einen Bittgang. Deren Ziel war umgekehrt die katho­li­sche Kirche in Oberko­chen, und folglich begeg­ne­ten sich die beiden Prozes­si­ons­zü­ge auf dem halben Wege. Jedes Jahr kamen bei diesem Zusam­men­tref­fen die alten Zwistig­kei­ten zwischen Ober und Unter­ko­chen wieder neu zum Durch­bruch. Schon wenn man sich aus der Ferne gegen­sei­tig sah (das Unter­ko­che­ner Kreuz war mit einem Band oder Schlei­er weithin sicht­bar geschmückt), fingen beide Seiten an, ihr Gebet immer lauter und grimmi­ger zu verrich­ten. Bei der Begeg­nung versuch­te jeder der beiden Züge, den anderen an Lautstär­ke zu überbie­ten und ihn dadurch aus dem Konzept zu bringen. Das berich­ten überein­stim­mend verschie­de­ne Teilneh­mer der damali­gen Prozes­sio­nen. Einmal, etwa 1916 oder 1917, trafen sich die beiden Prozes­si­ons­zü­ge wieder auf halbem Wege zwischen Ober- und Unter­ko­chen. Keiner war bereit, dem anderen auszu­wei­chen. Schließ­lich gab der Zug aus Oberko­chen nach und ging zur Seite. Einige Oberko­che­ner Buben wollten aber nicht einse­hen, daß gerade sie auswei­chen mußten und bewar­fen die Unter­ko­che­ner mit Steinen, die überall am Weges­rand lagen. Offen­sicht­lich waren die Angegrif­fe­nen von diesem Vorgang so überrascht, daß sie sich nicht dagegen zur Wehr setzten oder zurück­schlu­gen. Schnell schritt der Oberko­che­ner Polizei­die­ner Gold ein und sorgte für Ruhe und Ordnung. Er hatte an der Prozes­si­on teilge­nom­men und war deshalb sofort zur Stelle. Um solche Zwischen­fäl­le nicht mehr zu provo­zie­ren, gingen später die Prozes­si­ons­zü­ge auf getrenn­ten Wegen zu ihrem jewei­li­gen Ziel, so daß sie sich unter­wegs nicht mehr begeg­ne­ten. Es soll auch vorge­kom­men sein, daß die Unter­ko­che­ner mit Messern ihren Namen in die Oberko­che­ner Kirchen­bän­ke einritz­ten (damals waren die Bänke der St. Peter und Paul Kirche erst wenige Jahre alt), und die Oberko­che­ner zahlten mit gleicher Münze heim.

Nach der Messe in Unter­ko­chen erschien regel­mä­ßig ein Brotver­käu­fer mit einem großen Brotkorb an der Wallfahrts­kir­che. Bei ihm konnte man für die mitge­nom­me­nen fünf Pfenni­ge einen “Wecken” kaufen. Das Vesper wurde dann in Unter­ko­chen verzehrt, bevor man den Rückweg nach Oberko­chen antrat. Gegen Mittag waren die Prozes­si­ons­teil­neh­mer wieder zu Hause.

Während des Ersten Weltkrie­ges wurde in der katho­li­schen Kirche jeden Abend um 18 Uhr eine Kriegs­an­dacht für den Frieden und das Leben der Solda­ten gehal­ten. In diesem Zusam­men­hang fand auch eine Wallfahrt nach Ellwan­gen statt, wobei der Hinweg in sechs Stunden zu Fuß, der Rückweg per Eisen­bahn zurück­ge­legt wurde.

Die meisten Oberko­che­ner mußten sehr sparsam leben. In diesem Zusam­men­hang war das Brenn­holz aus den Wäldern eines der wertvolls­ten Geschen­ke der Natur. Wer weder einen Schlag Holz noch sonsti­ge Waldnut­zungs­rech­te hatte, konnte “ins Holz gehen”. Dazu benötig­te er eine kosten­lo­se Geneh­mi­gung, den “Holzschein”. Dieser Erlaub­nis­schein berech­tig­te dazu, Holz vom Waldbo­den aufzu­sam­meln und dürre Äste mit Haken von den Bäumen herun­ter­zu­zie­hen und heimzutragen.

Eine äußerst sparsa­me Lebens­wei­se war insbe­son­de­re in der Zeit des Ersten Weltkrie­ges notwen­dig, weil die damali­gen Nahrungs­mit­tel­zu­tei­lun­gen ständig zu knapp waren. Deshalb griff man auf das zurück, was die Natur in Oberko­chen bot. Als Beispiel sei auf dem Gebiet der Gewür­ze der Kümmel, der noch heute in großen Mengen beim “Wasser­häus­le” im Langert wächst, heraus­ge­grif­fen. Möglichst viele Dinge, etwa die Geträn­ke, wurden selbst herge­stellt. Hier boten sich verschie­de­ne Teesor­ten (Linden­blü­ten, Pfeffer­min­ze u.a) an, und auch das Haupt­ge­tränk, den Most, berei­te­te man selbst. Im Ersten Weltkrieg röste­te man sogar Weizen als Kaffee­er­satz oder um damit den Malzkaf­fee zu “strecken”.

An Festta­gen durften sich die Kinder hin und wieder “für sechs Pfenni­ge Limona­de” kaufen und auch den halben Liter Bier für elf Pfenni­ge, den sich manch­mal der “Ähle” (Großva­ter) der Familie nach einem langen Arbeits­tag gönnte, konnte man nicht selbst brauen. Deshalb wurden die Enkel mit dem Bierkrug zu einer der drei Oberko­che­ner Braue­rei­en (Hirsch, Ochsen, Schell) geschickt, um das kühle Getränk zu holen. Natür­lich war die Versu­chung für die Kinder groß, zu probie­ren, wie das Getränk des Großva­ters schmeck­te. (Auf die Frage, wie denn seiner­zeit das Bier geschmeckt habe, kam die Antwort, daß man damals “nicht wähle­risch” gewesen sei.) In einem unbeob­ach­te­ten Augen­blick ist es vorge­kom­men, daß eines der Kinder nicht wider­ste­hen konnte und einen Schluck probier­te. Das Problem war nur, daß jetzt der “Stein” nicht mehr ganz voll war. Aber zum Glück führte der Heimweg an mindes­tens einem der immer Wasser spenden­den Dorfbrun­nen vorüber…

Das Ortsbild war aber nicht nur durch die Bauern­häu­ser mit den “Misthau­fen” und durch die kleinen Gäßchen geprägt, sondern auch durch die etwa zehn Brunnen, die Oberko­chen mit Trink­was­ser versorg­ten. Diese Brunnen hatten gußei­ser­ne Tröge und wurden über hölzer­ne Wasser­lei­tun­gen (Deichel) aus dem Luggen­loh­brun­nen gespeist. Das Wasser floß selbstän­dig aus den Hahnen. Man mußte nicht pumpen, weil die Brunnen 1836 selbst laufend einge­rich­tet worden waren. Mindes­tens einer dieser Brunnen, der Linden­brun­nen, ist heute noch allge­mein bekannt. Er stammt in seiner jetzi­gen Form aus dem Jahr 1922 und wurde als Denkmal für die 56 Oberko­che­ner Gefal­le­nen des Ersten Weltkrie­ges errich­tet. In der Heiden­hei­mer Straße (früher Langgas­se genannt) befan­den sich vier oder fünf Brunnen: z.B. beim “Rössle” (heute Apothe­ke Mögel), bei Napole­on Fischer und bei Kopp (heute Jelon­nek). In den Seiten­stra­ßen des Katzen­bachs standen drei (Schill und Gentner in der Geigen­gas­se und Gold in der Schrei­ner­gas­se) und in der Aalener Straße (früher Kirch­gas­se) ebenfalls zwei Brunnen (Winter, Schlipf) und noch einer in der Mühlstra­ße. Diese Brunnen spende­ten das Trink- , Koch- und Wasch­was­ser und diente als Viehtränke.

Ab 1918 verlo­ren die Brunnen für Oberko­chen ihre Bedeu­tung. In diesem Jahr erreich­te die Leitung der Landes­was­ser­ver­sor­gung den Ort. Um die Wasser­lei­tung verle­gen zu können, wurden Wiesen, Äcker und viele andere Grund­stü­cke aufge­gra­ben. Da die Oberko­che­ner Männer im Krieg waren, setzte man franzö­si­sche und z.T. auch russi­sche Kriegs­ge­fan­ge­ne für die Grabungs­ar­bei­ten ein. Sie wohnten in Baracken und wurden von Wachmän­nern beauf­sich­tigt. Im Sonner 1918 waren für die Landes­was­ser­ver­sor­gung im Gunder­s­tal zwei große Stollen durch den Berg nach Essin­gen gegra­ben und das “Wasser­häus­le” angelegt worden. Der Erdaus­hub dieser beiden Stollen wurde mit Lohren aus dem Berg heraus­trans­por­tiert und ist noch heute als kleiner Berg mitten im Feld in der Nähe des Wasser­häus­chens zu sehen. Diese Arbei­ten führten zu einem guten Teil Italie­ner aus, die als “Gastar­bei­ter” vorüber­ge­hend in Oberko­chen gelebt und gearbei­tet haben. Betei­ligt waren aber auch Oberko­che­ner und Männer aus der näheren und weite­ren Umgebung, die danach teilwei­se in Oberko­chen geblie­ben sind und eine neue Heimat gefun­den haben.

Abbil­dung 5: Linden­brun­nen um 1930

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