Es war vor wenigen Wochen, als mich mein Weg in ein Bauern­haus der Geislin­ger Alb führte. Dort hatte ich mit dem Bauern eine Unter­re­dung zu führen und da dieser aber gerade im Stall bei der Fütte­rung war, ging ich dorthin um mein Anlie­gen möglichst schnell zu erledi­gen. Doch der Zufall wollte es, daß ich einige Zeit doch noch warten mußte bis der Bauer aus der Scheu­er zurück­kam, zu welcher er mit dem Futter­korb gegan­gen war. Die kurze Warte­zeit, der ich mich nun unter­zie­hen mußte, sollte mir aber, vielleicht darf ich so sagen, ein feines, wenn auch kleines Erleb­nis werden. Ich hatte in dieser Warte­zeit und in diesem Stalle eine Begeg­nung mit einem ganz alten, aber lieben Bekann­ten – aus meinen Kindheits­ta­gen in meinem Vater­haus – es war der »Weihbü­schel«. Oben über der Futter­trau­fe auf einem beson­ders hierfür angebrach­ten Brett da lag er, wohl dürr und vergilbt, aber er sprach zu mir und erinner­te mich an den Tag, an dem er gepflückt worden ist und an dem geschäf­ti­ge Hände von Menschen, die an Gottes­se­gen glauben, ihn gebun­den und in die Kirche zur Weihe getra­gen haben. Ich stand mit einem Schlag in einem Raum voll Erinne­run­gen an diesen Tag mit seiner Weihbü­schel­wei­he, bzw. Kräuter­wei­he. Da sah ich mich als Bub mit Stolz und Würde meinen Weihbü­schel zur Kirche tragen. Aus den Nachbar­häu­sern kamen die Nachbar­bu­ben und Mädchen mit den ihrigen, und an der Linde gesell­ten sich die von der Langgas­se zu uns. Mitun­ter trug den Büschel auch eines von den Großen. Wir aber, die kleinen Träger, hatten es sehr wichtig, denn jeder wollte doch den größten und schöns­ten Büschel gehabt haben. Da wurde gelobt, bemän­gelt und kriti­siert bis vor die Kirchen­tü­re hin. Was wir damals als Kinder an diesem Kräuter­bü­schel gesehen haben, waren äußere Dinge. Inzwi­schen aber dürfte uns allen ein tiefer Sinn über ihn aufge­gan­gen sein. Wohl wußten wir, und es war uns eine selbst­ver­ständ­li­che Sache, daß dieser Kräuter­bü­schel zum Bauern­haus gehört, genau so wie der Palmen, den wir am Palmsonn­tag zur Kirche getra­gen haben, und daß er als Schutz gegen Blitz­schlag und andere Gefah­ren von Seiten der Elemen­te das ganze Jahr auf dem Speicher oder im Stalle aufbe­wahrt wird, jedoch von der tiefe­ren Bedeu­tung seiner Zusam­men­set­zung und seiner Weihe wußten wir nicht viel. Heute sehen wir ihn anders. Da ist einmal die Wetter­ker­ze, die im August hoch und stolz am Feldrain oder im Garten steht und über allem, was um sie ist an Gewäch­sen der Erde, hinweg sieht. Wer könnte in die Mitte des Büschels besser passen als sie. Um die Wetter­ker­ze gruppiert sehen wir von jeder Getrei­de­art drei Ähren, dann Blüten aus Klee und Esper, Blumen und Halme der Wiesen. Blumen und Sträu­cher des Waldes, und auch der Garten ist reich vertre­ten. So schau­en wir in diesem Weihe­bü­schel der auch dieses Jahr wieder an Maria Himmel­fahrt zur Weihe getra­gen wird, gleich­sam den ganzen uns nähren­den Heimat­bo­den. Wir halten ihn in den Händen mit dem Willen, dem Schöp­fer aller Dinge zu danken und ihn zu bitten, er möge in das Darge­reich­te seinen Segen legen, dessen wir auch fürder­hin bedür­fen. Das ist kurz gespro­chen der wohl jedem verständ­li­che Sinn der »Kräuter­wei­he«.

Die Kräuter­wei­he hat eine große, lange und inter­es­san­te Vergan­gen­heit. Es ist daher nicht verwun­der­lich, daß sich auch die Litera­tur längst um sie angenom­men hat. Wir entneh­men dieser unter anderem folgen­des: Die Kräuter­wei­he ist eine spezi­fisch deutsche, kirch­li­che Sitte. Aber sie ist nur eine deutsche Zutat zu einem Komplex alter, allge­mei­ner Benedik­tio­nen um die Zeit der Ernte und ihren Abschluß. Daß die Weihe an Maria Himmel­fahrt statt­fin­det, ist eine Frage der Zeit und des Natur­laufs und hat zu dem Festge­dan­ken dieses Tages keine beson­de­re Bezie­hung. Wie in manch anderem an Brauch­tum, ist auch hier das Bauern­haus der Jahrhun­dert alte Träger dieser Sitte. Im Brauch­tum gesehen hängt die Kräuter­wei­he eng zusam­men mit der Annah­me des Chris­ten­tums durch die germa­ni­schen Völker­schaf­ten. Lothar Schrei­ber erwähnt in seinem Buche »Die Mystik der Deutschen«, »Die Christ­li­che Botschaft hatte bei den Germa­nen eine innere Bereit­schaft gefun­den, denn sie hatten viele natür­li­chen Tugen­den, sie zeich­ne­ten sich aus durch Mäßigung, Stark­mut und Gerech­tig­keit; auch wohnte ihnen eine tiefe Sehnsucht nach dem Ewigen aus dem Zeitli­chen inne.«

Daß sie die Pflan­zen­welt mit ihrem religiö­sen Denken, mit der Sage und dem Kulte auch schon in vorchrist­li­cher Zeit verknüpf­ten, ist geschicht­lich bekannt. Aber nicht nur von ihnen ist dies Tun bekannt, sondern bei allen Völkern des Alter­tums war dies vorhan­den. Die medizi­ni­schen Pflan­zen galten meist dem Apollo und dem Äskulap heilig. Bei den Germa­nen waren dem Thunar, der Freya und dem Balder Pflan­zen geweiht. Das christ­lich gewor­de­ne Volk setzte an ihre Stelle Chris­tus und seine Heili­gen und schuf jene Pflan­zen­le­gen­den in welchen sinni­ge Natur­be­trach­tun­gen und innige Frömmig­keit zum gemüt­vol­len Ausdruck kommen.« Profes­sor Adam schreibt in seinem Buche über »Chris­tus und der Geist des Abend­lan­des«: »Die Germa­nen erfaß­ten die christ­li­che Botschaft nicht nur nach ihrer intel­lek­tu­el­len und insti­tu­tio­nel­len Seite, sondern auch vor allem nach ihren lebens­we­cken­den, inwen­di­gen Kräften.« Unsere Vorfah­ren wollten vom Glauben, von ihrer Religi­on, etwas sehen und haben. Die Lehre Chris­ti erleuch­te­te den Geist. Die Hand der Kirche führte sie durch das Leben. Aber der Gottes­se­gen des Chris­ten­tums sollte auch über Geist und Seele und Inneres und Inners­tes hinaus­ge­hen und herab­tau­en auf das Äußere, Leibli­che, Irdische, auf den Alltag, auf die Arbeit und ihre Not und Sorge, auf den tägli­chen Kampf mit der Welt und der Natur. Alles sollte gehei­ligt werden durch Gottes­wort und Gebet. Unsere Vorfah­ren empfan­den auch an sich und ihrem Leben die Schwä­chung durch die Sünde, und daß die feind­li­chen Mächte des Menschen­ge­schlech­tes sie stets bedroh­ten. Sie baten deshalb die Kirche um ihren Segen, daß Gott sein Heil über sie ausgie­ße und ihnen barmher­zig sei.

In den Blumen und Pflan­zen liegt auch nach der Anschau­ung des Mittel­al­ters eine große gehei­me Kraft. Es ist dies die in sie geleg­te natür­li­che Heilkraft. Aber darüber hinaus schrieb man gewis­sen Pflan­zen beson­de­re Kraft zu des Schut­zes und der Abwehr, als ob die Pflan­zen ihre Heil- und Schutz­wir­kung von den Sternen bekämen. Man erfand gewis­se Formeln, wodurch die Wirkung verstärkt werden sollte. Dieses Denken und Meinen führte zu Aberglau­ben und Verwir­run­gen, gegen die die Kirche oft einen Kampf führen mußte.

Oberkochen

Der Landbau ist der Anfang und die Grund­form aller Menschen­ar­beit. Es ist allge­mein mensch­li­cher, religiö­ser Brauch, den Segen Gottes auf die Arbeit und den Arbeits­er­trag herab­zu­fle­hen durch Gebet und Opfer. Wir finden die Verei­ni­gung von Gott und Landbau bei allen Bauern­völ­kern der Geschich­te. Die agrari­schen religiö­sen Feiern durch­zo­gen das ganze Arbeits­jahr der Bauern überall. Nach der Kirchen­ord­nung der katho­li­schen Kirche hat der deutsche Bauer seine Segnun­gen und Weihun­gen für das Saatkorn und für die Feldbe­stel­lung. Er bittet am Palmsonn­tag im »Palmen« dem ersten Lebens­keim in der Natur, zu segnen. Er ruft bei der Aschpro­zes­si­on den Segen Gottes auf die Saaten und ihr Gedei­hen herab. Er läßt fünf Monate lang täglich im Wetter­se­gen bei dem hl. Opfer Felder und Früch­te segnen. Diese Felderwei­he erlebt ihren Höhepunkt in der Fronleichnams-Prozession.

Die Zeit der Ernte aber ist bedacht mit der Ernte­wei­he, die ihren Ausdruck findet in der Weihe von Kräutern, also der »Kräuter­wei­he«. Wenn der Weihbü­schel nach seiner Weihe und Segnung durch die Kirche, seinen Platz im Bauern­haus auf dem Speicher oder im Stall bekommt, so liegt dem kein abergläu­bi­sches Denken zugrun­de, sondern allein das Wissen um den aus der ständi­gen Verbin­dung mit Gott erfleh­ten Segen.

Die Ernte ist Gottes Gabe. Von dieser gläubig demüti­gen Schau aus stellt die Kirche als Haupt­ge­dan­ken den Satz an den Anfang ihrer Weihe­for­mel: »Gott gibt seinen Segen. Dann gibt die Ernte ihre Früch­te.« Es sind wunder­ba­re Psalmen­ge­be­te, die sie bei der Weihe sprechen läßt. In einem hochge­stimm­ten Dankhym­nus betet sie »Dir, o Herr, gebührt Lobge­sang auf Sion, Du hast das Erdreich heimge­sucht und es getränkt; Du hast es reich geseg­net, Du ließest sein Getrei­de wachsen, Du hast den Boden zuberei­tet, Du tränk­test die Furchen und ließest die Schol­len sinken, Du krönst das Jahr mit Deinem Segen und Deine Spuren triefen von Überfluß«. In einer weite­ren Fortset­zung ist die Rede von einer Erstlings­gar­be, die zum Opfer gebracht werden will.

Wir verste­hen von hieraus den Brauch, den unsere Vorfah­ren auch zu Oberko­chen noch vor 150 Jahren übten. Sie ließen jedes Jahr den ersten Ernte­wa­gen vor die Kirche fahren. Dort wurden zwei Garben dem Wagen entnom­men und vor dem Altar aufgestellt.

Die Ernte ist das große Ereig­nis im bäuer­li­chen Jahr, heiß erarbei­tet, erkämpft, erhofft, erfleht. Der Bauer weiß besser wie alle anderen um das wunder­sa­me, geheim­nis­vol­le Wirken und Weben aus den Händen Gottes in der großen Werkstät­te der Natur. Aus diesem Wissen heraus ist sein religiö­ses Brauch­tum gewor­den. So war es zu allen Zeiten auch in unserem bäuer­li­chen Heimat­dorf Oberko­chen. Unsere Vorfah­ren waren dabei dankbar und glück­lich. Seien auch wir Heuti­gen alle mit einan­der dankbar und froh, solan­ge noch jemand durch unsere Dorfstra­ßen Weihbü­schel zur »Kräuter­wei­he« trägt.

Franz Balle

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