Auch in Oberkochen kristallisierten sich Jugendtreffs heraus. Am Eck der neuen Oberkochener Bank hing man gern mit schrägen Typen herum, beliebt war aber auch der Musik-Pavillon zwischen „Grießer und Rathaus“, wo sich die ersten Rockmusiker, und solche die es werden wollten, von Oberkochen trafen. In den unteren Räumen der neuen evangelischen Kirche gab es irgendwann am Sonntagnachmittag eine „Teatime“. Junge Leute, heute würde man sie „DJs“ nennen, legten Rock- und Pop-Platten auf. Die Oberkochener Jugend übte den Stehblues, zu Procol Harums „A whiter shade of pale“ und „Salty Dog“, jene alten Heuler, die bis heute im SWR1 hin und wieder laufen.
Die katholische Kirche versuchte sich im Rupert-Mayer-Haus mit Jugendarbeit. „Sozialkritische“ Filme wurden gezeigt, das Kino war damals schon für immer geschlossen. Dixi-Jazz-Gruppen traten auf, darunter auch die „Halbe Lunge“ bei der mein Cousin, das musikalische Multitalent Paul Hug, Akkorde schrubbte. Im Rupert-Mayer-Haus machten wir lebendige Bekanntschaft mit dem heutigen Dauerproblem der Kirche, etwa mit einem Vikar, der nach einem Glas Wein oder Bier an so manchem Jungenoberschenkel übergriffig wurde. Wir wussten uns schamlos zu wehren, daher blieb das in unseren Sturm-und-Drang-Tagen eher amüsant. Aber wie das damals so war: Was nicht sein darf, das kann nicht sein. Wahrhaben wollte es natürlich niemand. „Gerüchte“ wurden großzügig unter den Kirchenteppich gekehrt. Uns war es lästig, aber letztlich wurscht.
Einschub von seinem Cousin, dem Huga-Paule zu „Halbe Lunge“. Die in den 60er Jahren aufgekommenen Jazzmessen (spielten etwa bei den vier autofreien Sonntagen 1973 in Biberach und anderen Orten) waren mit die Wurzeln für die Dixieland-Band, die wir später in Studienzeiten, zum Spaß und vor allem auch zum Geld verdienen, starteten (neben Tanzband in 3er, 4er Besetzung). Aus unserem Heimatraum wirkten da Robert Wahl (Aalen, Trompete), Kurt Goldmann (Unterkochen, Posaune), Erich Hacker (Ottenbach, Klarinette), ich (Banjo, Gitarre) mit. Da gab es auch dann die „PH Big Band“ mit 15 Mann (3 Trompeten, 3 Posaunen, 5 Saxophone), Bass; Schlagzeug; Klavier, Gitarre). Neben tollen Auftritten haben wir auch in einem Tonstudio in Ludwigsburg eine Langspielplatte aufgenommen (besitze noch ein Exemplar). Kleines ergänzendes Beispiel: Mit der Dixie-Band waren wir auch mal zwei Wochen im Zelt auf der Nordseeinsel Spiekeroog, um mit Auftritten Kohle zu verdienen. Da machten wir auch mal einen Schwäbischen Abend. Als der Vorhang aufging und ich die Leute im vollen Saal begrüßen wollte, saß in der ersten Reihe die gesamte Familie Schrenk, was für einen weiteren Abend mit Geigen und deren Mitwirkung sorgte.
In den Wirren der Jahre 1967 bis 1969 hatte ich gottseidank ein untrügliches Vorbild, meinen Bruder Willi, der nach erfolgreicher Lehre als Elektriker bei der Firma Fritscher, über den zweiten Bildungsweg in der Berufsaufbauschule (BAS) in Aalen die Hochschulreife nachholte, anschließend an der Fachhochschule (formerly known as Ingenieurschule) studierte und später bei Carl Zeiss in der Forschung landete, wo er lange sehr erfolgreich tätig war. Er wies mir damit insgeheim einen Weg, die Schmach des verpassten Gymnasiums auszumerzen. So war es keine Frage, mich der Physik AG in den letzten Klassen der Volkschule der Dreißentalschule anzuschließen. Friedrich Ruoff unterrichtete damals Physik, ein Fach das mich neben der abstrakten Mathematik, begeisterte. Logisches zog mich offenbar an, Unlogisches blieb mir schon damals diffus.
In der Klasse 9 stellte sich immer dringender die Frage, wie geht‘s nach der Schule weiter? Meine Mutter wünschte sich einen Beamten im Rathaus (würg), oder einen Bankkaufmann (würgwürg), oder eine Lehre bei Zeiss (hmm). Das alles führe zu sichereren Arbeitsplätzen. Aber ich liebte Mathematik und Physik. Ich hatte zwar schon die Zusage von der Aalener Handelsschule in der Tasche, aber als Kaufmann zu arbeiten, Betriebswirtschaftslehre und den ganzen darum-herum- Krampf zu lernen? Konnte ich mir nicht vorstellen.
Also bat ich Herrn Ruoff um Rat: „Gibt es nicht etwas, wo man auch als Volksschüler in Physik weitermachen kann?“ Seine Antwort, samt Stimme, habe ich noch heute im Ohr: „In Physik direkt nicht, aber es gibt in Aalen eine ganz neue Berufsfachschule (BfS) Metall, mit viel Technik, viel Physik, Chemie und Mathematik.“
Sakrament! Das war‘s! Ich fuhr am nächsten Tag mit dem Zug nach Aalen, marschierte durch die permanent „versoicht“ stinkende Bahnhofsunterführung in Richtung Galgenberg und meldete mich dort an. Das blieb 5 Jahre dann mein neuer Schulweg: Zwei Jahre BfS. Dort traf ich Lernwillige aus „em ganze Oschtalbkrois, vom Härtsfeld ra, von Bopfegg und Utzmemegg dromma, von Ellwanga riebr und waschechte Oalamer“. Wir waren erst der zweite Jahrgang dieser neuen Schule, ein Oberkochener, mit dem Spitznamen „Bedeller“ war im ersten Jahrgang auch mit dabei.
Einschub von seinem Cousin, dem Huga-Paule zu „Bedeller“. „Bedeller“ ist heute noch der Spitzname von Thomas Gentner, aufgrund seiner Redewendung „Bedeller bedahlt.
In der BfS fühlte ich mich zum ersten Mal gut aufgehoben. Wir wurden als Erwachsene wahrgenommen, klar, die Lehrer unterrichteten an der Technikerschule, der BAS, Meisterschule und hatten wenig Erfahrungen mit kindhaften Jugendlichen wie uns. Tat uns sehr gut, wenn auch der Drill und Leistungsdruck sehr hoch war. Frontalunterricht, Algebra, Geometrie, Technisches Rechnen und Zeichnen, Physik, Chemie, Werkstoffkunde bescherten mir unbeschreibliche Glücksmomente, einen nie gekannten Leistungsansporn. In der Klasse rechneten wir um die Wette mit dem Lehrer und jeden Freitag gab es „Werkstatt“, das war der Hauch einer praktischen Ausbildung am Schraubstock mit der Feile, an Bohr‑, Dreh- und Fräsmaschinen, an Schweißgeräten, mit Hammer am Schmiedeambos, sowie Elektro- und Kunststofftechnik. All das waren Prüfungsfächer und zur Erlangung der mittleren Reife Pflicht, Englisch inklusive.
So gestählt schloss ich drei Jahre Technisches Gymnasium (TG) an. Nochmals verschärfte Physik, Mathe, Geometrie, Chemie, Werkstoffkunde, Technisches Zeichnen, Technisches Rechnen, (leider keine Biologie), ein wenig Wirtschaftskunde, wenig Geisteswissenschaften, aber dafür ein paar wunderbare Deutschlehrer, die uns Klassiker weitgehend ersparten, dafür die Gegenwartsliteratur, damals Heinrich Böll, Günter Grass, Georg Trakl & Co, sogar rororo Thriller und Asterix (einer der Deutschlehrer schrieb seine Lehramtsarbeit darüber) ans Herz legten, ein prachtvoller Ausgleich zu den harten Naturwissenschaften. Religion gab es auch, allerdings ohne Gott, dafür viel Sexualkunde, Soziologie und Politik. Wer keine Lust darauf hatte, schwänzte die Stunde und schlenderte in die Stadt ans „Eduscho“ auf einen Kaffee. Das war derzeit der bekannteste Aalener Gammlertreff. Man fand tatsächlich immer jemand, mit dem man herumdiskutieren konnte.
In der Zwölften ergab sich für mich eine riesige Überraschung: Eine altbekannte und berühmte Oberkochener Figur stieß in unsere Klasse: Wolfgang Hörndl, ein Intellektueller und Musiker (E‑Gitarre) aus dem damaligen Stumpf-Funke-Pogel-Dunstkreis. Wir blieben uns lange verbunden und liefen uns immer wieder an verschiedenen Orten über den Weg.
Einschub von Friedemann Blum über Wolfgang Hörndl. Ich habe Wolfgang im Alter von 16/17 Jahren über Stefan Stumpf kennengelernt, mit dem er bis zu seinem Tod eng befreundet war. Wolfi hat wohl bei Zeiss eine Ausbildung zum Feinmechaniker gemacht. Er wohnte ganz in der Nähe mit Mutter und Stiefvater „Am Holunderrain 6“. Er hat sich später zum Psychologen weitergebildet, in Göppingen ein Haus mit Praxis gebaut. Vor ca. 20 Jahren musste er wegen eines Augenleidens seinen Beruf aufgeben. Er verkaufte sein Haus und zog nach Spanien. Der Gitarre ist er treu geblieben und baut hobbymäßig E‑Gitarren und bespielt sie dann auch. Wolfi erinnerte sich noch, dass Billie Manager der Oberkochner Gruppe VRS Vehicle Repair Shop sein sollte, aber der Billie gesteht — auch mangels eines Autos — nichts auf die Reihe gebracht zu haben.
Während meiner Aalener Schulzeit blieb ich Oberkochen treu. Meine Kumpels waren alle hier und die Verbundenheit blieb. Mit Joachim Glaser aus meiner Klasse konnte ich über alles reden, wir trafen uns oft. Auch das Fachliche schloss uns weiter zusammen, er lernte Feinmechaniker in „Charlys Linsenschuppen“ (so nannten wir die Weltfirma CZ), und wir tauschten uns über Werkstoffkunde, Stahlnomenklaturen, Härtegrade und die Tortur am Schraubstock aus. Über die Jugendfreizeiten in „Bezau und Bizau“ mit Frau Seitz, ihrem Sohn, Karl Seitz und dem Huga-Paule geriet ich an Rudolf Trittler, der ebenfalls beim Fritscher Elektriker lernte. Heinrich Kleinhans aus dem oberen Dreißental und Bernd Gold aus der Lenzhalde, Alfons Hug aus dem Langert stießen dazu, sowie Werner Dörrer aus Aalen. Als Arbeiterkind blieb ich den Arbeitenden treu. Auch Heinrich Nolte, seines Zeichens Plattenleger, war eine Konstante unserer Clique. Er floh einst über die grüne Grenze der DDR und landete in Oberkochen. Spätestens über ihn wurde uns klar, dass der real existierende Sozialismus im Alltag der Menschen wenig mit den klugen Sätzen vieler tonangebender Intellektueller zu tun hatte.

Der Superschlitten von Wolfgang „Knypsilon“ Kny – ein Opel Kadett GT/E Rally (Archiv Kny)

Der Stolz von Thomas – sein damaliger Sportwagen (Archiv Vilgis)
Wir kurvten mit unseren ersten Autos, einem Fiat, einem Borgward Isabella, einem NSU-Prinz und meinem von der Ferienarbeit in Bäuerles Motorenbau verdienten Opel Kadett B durch die Gegend. Klar, kein Vergleich mit Wolfgang Knys rasant gelb-schwarzen „Ralley Kadett GT/E“ oder Thomas Golds „Spider“, aber unsere Dinger hatten vier Räder, einen Motor und brachten uns vorwärts. Unser aller Fahrlehrer hieß Albert Abele, damals noch bei Holzbauer, der beste von allen. Bis heute wirken seine Anweisungen und Sätze nach.
Das Abi, Entschuldigung, die Fachgebundene Hochschulreife (wir durften, wegen des fehlenden Latinums, nicht Medizin studieren), schaffte ich mit links. Das Glücksgefühl wurde durch den bald eintrudelnden Einberufungsbescheid getrübt. Es gab Wehrpflicht und das damals in Mode gekommene „Verweigern aus Gewissensgründen“ wollte und konnte ich nicht. Warum? Genau das sehen wir heute mehr denn je. Also ging‘s nach der Musterung in Schwäbisch Gmünd schweren Herzens nach Nagold. Es blieb für mich aber ein kurzes Gastspiel, ein Arzt im Bundeswehrkrankenhaus in Bad Wildbad meinte, solche dürren Schwächlinge taugen nicht mal für die Schreibstube.
Super, das freute mich, denn die Zeit reichte gerade noch für eine Blitz-Immatrikulation für das Wintersemester 1975/76 an der noch jungen Universität Ulm, damals eine Medizinisch-Naturwissenschaftliche Hochschule; natürlich in Physik und Mathematik. Auch dort traf ich altbekannte Oberkochener, Werner Seitz, Karls Bruder, auch er verstarb viel zu früh, und Wolfgang Kny. Beide studierten Mathematik und Physik für das Lehramt und man lief sich dauernd über den Weg.
Die Studienzeit verging wie im Flug, ich wollte schnell fertig werden, also Diplom in Physik, dann Doktorarbeit in Physik, Polymere und weiche Materie, damals völliges Neuland und wunderbar interdisziplinär. In Ulm lernte ich auch meine Frau Barbara aus Göppingen kennen, wir heirateten 1984 und nach der Promotion 1984 gingen wir beide nach Cambridge (UK) zum „postdocen am Cavendish-Laboratory“, danach ans neue „Max-Planck-Institut für Polymerforschung“ nach Mainz. Dort blieben wir bis heute kleben. Es gab immer wieder Intermezzos, zwei Jahre Strasbourg, ein viertel Jahr London, Paris, und all solche Geschichten. 1990 habilitierte ich in Theoretischer Physik, erhielt die „venia legendi“ (Lehrberechtigung) und wurde ein paar Jahre später Professor an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. So hielt ich regelmäßig Vorlesungen, vergrub mich jahrelang in die Welt der Formeln, theoretisierte mit Papier, Bleistift und zahlreichen Diplomanden, Doktoranden und Postdocs aus aller Welt, an abstrakten und anwendungsorientierten physikalischen Problemen herum.
Regelmäßige Forschungsaufenthalte in Frankreich, vor allem Strasbourg versauten mich vollends: Ich wurde von dem langjährigen Direktor des Instituts, an dem ich arbeitete, systematisch in die französische Gastronomie und Lebensart eingeführt. Am Institut „Charles Sadron“ gab es in der Kantine zum Mittagessen Wein (!), meine bescheidenen Vorkenntnisse in Riesling, Gewürztraminer, Pinot-Gris wurden um Auxerrois, handwerkliche, elsässische foie gras, lièvre à la royal systematisch erweitert. Besuche in Sterne-Restaurants nahmen deutlich und systematisch zu. 1998 begannen die ersten Gehversuche in der Provence, wir lernten die hohe Kunst des mediterranen Aperitifs kennen, gewöhnten uns an (hier unübersetzbare) Marsaillaiser Abkürzungen wie PSG CD PD. 2001 wurden wir dort partiell sesshaft. Seit mehreren Jahren mit voll funktionierendem Büro und dem Luxus einer stabilen und superschnellen Glasfaserverbindung in den Rest der Welt; das bekommt die Deutsche Telekom in Mainz bis heute nicht hin.
Diese kulinarischen Erweiterungen kamen mir sehr entgegen, denn die wirklich wahre Konstante in meinem Leben waren Wochenmärkte und das Hantieren am eigenen Herd. Selbst in höchsten Stresszeiten musste dies sein. Schon als Bub in Oberkochen ging mein Vater jeden Samstag auf den Wochenmarkt und brachte frische Lebensmittel mit nach Hause. In Aalen war jeden Samstag der Gang zum Wochenmarkt Pflicht, ebenso in Ulm, in Cambridge, London, Strasbourg und in der Provence. Dies bescherte mir ein weit besseres Kennenlernen von Land, Leuten und Gebräuchen, ein Muss für die Integration auf fremdem Gebiet. Der regelmäßige Besuch des Wochenmarkts in Aix-en-Provence zeigt mehr Kulturelles, Elementares, mehr Menschliches als jede Lesung der noch so berühmtesten Philosophen oder jede der unzähligen weltberühmten und hochgelobten Theateraufführungen und Musikfestivals.

Einer seiner Lieblingsplätze – der Markt in Aix-en-Provence (Wikipedia Rolf Kranz, Aix-en-Provence, Marché provençal, CC BY-SA 4.)
1999 wurde mir eine Kolumne in dem Gruner-und-Jahr Blatt „essen&trinken“ angetragen. Der nullte Schritt in die „soft-matter-food-physics“, denn es sollte um Naturwissenschaft des Kochens gehen. Das lief sehr gut, und bis 2010 war dies ein spannender Nebenjob. Ich begann nebenher Bücher über „Molekularküche“ zu schreiben, hauptsächlich während der gestückelten Jahresurlaube im provencalischen Homeoffice und so kam eins zum andern. Jede Menge Arbeit zwar, aber jedes meiner Bücher war für mich die große Chance echtes Neuland zu betreten, viel über Lebensmittelforschung zu lernen, z.B. über Aroma-Chemie, von der ich vor 2011 absolut keine Ahnung hatte. Auch in molekularer Biologie, Biophysik, Biochemie und Sensorik hatte ich unendlich viel Nachholbedarf. Ohne diese Kenntnisse verstand ich Lebensmittel einfach nicht. Außerdem brachten die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge reichlich unerwarteten Genuss an den Tisch.

Ein kleiner Ausschnitt seines journalistischen Schaffens (Archiv Müller)
Um das Jahr 2007 legte ich den Theoretiker-Bleistift endgültig beiseite und baute am MPI für Polymerforschung eine neue experimentelle Gruppe für molekulare Lebensmittelphysik (im Neudeutsch „soft matter food physics“) auf. Ich bekam Laborräume, Startkapital für Laborausrüstung und Personal. Mit dem jahrelang erarbeiteten theoretischen Hintergrund entwickelte ich mit meiner neuen Arbeitsgruppe eine ungewöhnliche Sicht auf die Physik und die physikalische Chemie von Lebensmitteln. Dieser komplette Umschwung war vielleicht die beste Entscheidung in meinem Berufsleben. Schließlich gestattet die Max-Planck-Gesellschaft freie Forschung und wir toben uns bis heute aus. Dazwischen kam dann noch ein Lehrauftrag an der Justus-Liebig-Universität Gießen für Lebensmittelphysik, ‑technologie, Ernährung. In diesem Jahr wurde mir dort eine Honorarprofessur angetragen. Und wenn die #&%!=/{*^*} – Rente *** nicht gekommen wäre, forschten wir noch viele Jahre unbekümmert weiter (*** nur Comic-Spezialisten verstehen diesen Begriff).

Thomas in seinem Element – dem Kochen mit Niveau (Archiv Vilgis)
Hie und da kam dazwischen ein bisschen Fernsehen, damals war ich noch dunkelblond, falten- und knitterfrei, heute ist es immer noch das Radio, wöchentlich beim SWR2 Samstagnachmittag für die Radiokolumne „GastroJet“. Da spielen Falten und graue Haare noch keine Rolle. Der damalige Redakteur und kochbegeisterte Abteilungsleiter Thomas Koch (!) kürte mich mit der Wortneuschöpfung zum „Genussforscher“.
Im Januar 2010 starb mein Vater, ein gutes Jahr nach meiner Mutter. Ihm wurde wegen einer drohenden Sepsis mit 91 Jahren ein Bein abgenommen, was ihn ins Oberkochener DRK-Altenpflegeheim brachte. Nach Mainz zu uns wollte er nicht mehr. Meine Frau und ich kamen während dieser Zeit wieder wöchentlich mehrmals nach Oberkochen und wohnten nebenan im Hotel am Rathaus. In den letzten beiden Wochen meines Vaters zogen wir ins Gästezimmer des Pflegeheims und begleiteten ihn in seinen letzten Tagen und Nächten. Dies war meine beste Zeit, denn selten wurde mir der Sinn des Lebens so klar, wie beim Sterben des Vaters. Als es zu Ende war und meine Frau und ich die letzten Habseligkeiten in eine Reisetasche packten, kam Frau Hauber, in das Zimmer. Ja, „meine“ Hebamme, sie war selbst Bewohnerin des Pflegeheims, und umarmte mich mit den Worten, ich hätte mehr als meine Pflicht getan. Mein Kreis schloss sich. Auf diese einmalige und wundersame Weise ging meine Oberkochener Zeit endgültig zu Ende.

Der Hauptbahnhof Oberkochen – erbaut als Modell von Alois Vilgis (Archiv Vilgis)
Stopp, so ganz stimmt das auch wieder nicht. Oberkochen begegnet mir täglich. Unser Labor und unser Haus steht voll mit Oberkochener Gerätschaften. Wir haben ein bestausgerüstetes Mikroskop aus Oberkochen von Carl Zeiss in unserem Präparationslabor. Die Elektronenmikroskope des Hauses stammen ebenfalls von dort. Auf dem Fensterbrett meines Büros blicke ich täglich auf den „Hauptbahnhof Oberkochen“, ein (fast) maßstabsgerechter Nachbau des damaligen Originals meines Vaters aus alten Obstkisten. Wenn ab und zu ein Serviceauto von Zeiss mit dem Kennzeichen AA auf dem Parkplatz des Max-Planck-Instituts steht, wird es mir ganz „pfingstig“ ums Gemüt „zumahn“. Der Geist der alten Heimat weht dann stürmisch und lässt mich schwäbelnd an alte Zeiten erinnern.
Kaum zu glauben, dass sich die Mutter von Thomas einst dem Vernehmen nach fragte: „Was soll bloß aus dem Bua werra?“
Abschließend kann der Billie nur feststellen: Der Jahrgang 1955 ist schon auch ein besonderer, haben doch viele aus diesem Jahrgang Bemerkenswertes erreicht und interessanterweise stammen einige unser Gäste zu unseren jährlichen Schulzeit-Treffen aus genau diesem Jahrgang.
Wilfried Wichai Müller „Billie vom Sonnenberg“