Auch in Oberko­chen kristal­li­sier­ten sich Jugend­treffs heraus. Am Eck der neuen Oberko­che­ner Bank hing man gern mit schrä­gen Typen herum, beliebt war aber auch der Musik-Pavil­lon zwischen „Grießer und Rathaus“, wo sich die ersten Rockmu­si­ker, und solche die es werden wollten, von Oberko­chen trafen. In den unteren Räumen der neuen evange­li­schen Kirche gab es irgend­wann am Sonntag­nach­mit­tag eine „Teati­me“. Junge Leute, heute würde man sie „DJs“ nennen, legten Rock- und Pop-Platten auf. Die Oberko­che­ner Jugend übte den Stehblues, zu Procol Harums „A whiter shade of pale“ und „Salty Dog“, jene alten Heuler, die bis heute im SWR1 hin und wieder laufen.
Die katho­li­sche Kirche versuch­te sich im Rupert-Mayer-Haus mit Jugend­ar­beit. „Sozial­kri­ti­sche“ Filme wurden gezeigt, das Kino war damals schon für immer geschlos­sen. Dixi-Jazz-Gruppen traten auf, darun­ter auch die „Halbe Lunge“ bei der mein Cousin, das musika­li­sche Multi­ta­lent Paul Hug, Akkor­de schrubb­te. Im Rupert-Mayer-Haus machten wir leben­di­ge Bekannt­schaft mit dem heuti­gen Dauer­pro­blem der Kirche, etwa mit einem Vikar, der nach einem Glas Wein oder Bier an so manchem Jungen­ober­schen­kel übergrif­fig wurde. Wir wussten uns scham­los zu wehren, daher blieb das in unseren Sturm-und-Drang-Tagen eher amüsant. Aber wie das damals so war: Was nicht sein darf, das kann nicht sein. Wahrha­ben wollte es natür­lich niemand. „Gerüch­te“ wurden großzü­gig unter den Kirchen­tep­pich gekehrt. Uns war es lästig, aber letzt­lich wurscht.
Einschub von seinem Cousin, dem Huga-Paule zu „Halbe Lunge“. Die in den 60er Jahren aufge­kom­me­nen Jazzmes­sen (spiel­ten etwa bei den vier autofrei­en Sonnta­gen 1973 in Biber­ach und anderen Orten) waren mit die Wurzeln für die Dixie­land-Band, die wir später in Studi­en­zei­ten, zum Spaß und vor allem auch zum Geld verdie­nen, starte­ten (neben Tanzband in 3er, 4er Beset­zung). Aus unserem Heimat­raum wirkten da Robert Wahl (Aalen, Trompe­te), Kurt Goldmann (Unter­ko­chen, Posau­ne), Erich Hacker (Otten­bach, Klari­net­te), ich (Banjo, Gitar­re) mit. Da gab es auch dann die „PH Big Band“ mit 15 Mann (3 Trompe­ten, 3 Posau­nen, 5 Saxopho­ne), Bass; Schlag­zeug; Klavier, Gitar­re). Neben tollen Auftrit­ten haben wir auch in einem Tonstu­dio in Ludwigs­burg eine Langspiel­plat­te aufge­nom­men (besit­ze noch ein Exemplar). Kleines ergän­zen­des Beispiel: Mit der Dixie-Band waren wir auch mal zwei Wochen im Zelt auf der Nordsee­insel Spieker­oog, um mit Auftrit­ten Kohle zu verdie­nen. Da machten wir auch mal einen Schwä­bi­schen Abend. Als der Vorhang aufging und ich die Leute im vollen Saal begrü­ßen wollte, saß in der ersten Reihe die gesam­te Familie Schrenk, was für einen weite­ren Abend mit Geigen und deren Mitwir­kung sorgte.
In den Wirren der Jahre 1967 bis 1969 hatte ich gottsei­dank ein untrüg­li­ches Vorbild, meinen Bruder Willi, der nach erfolg­rei­cher Lehre als Elektri­ker bei der Firma Fritscher, über den zweiten Bildungs­weg in der Berufs­auf­bau­schu­le (BAS) in Aalen die Hochschul­rei­fe nachhol­te, anschlie­ßend an der Fachhoch­schu­le (former­ly known as Ingenieur­schu­le) studier­te und später bei Carl Zeiss in der Forschung lande­te, wo er lange sehr erfolg­reich tätig war. Er wies mir damit insge­heim einen Weg, die Schmach des verpass­ten Gymna­si­ums auszu­mer­zen. So war es keine Frage, mich der Physik AG in den letzten Klassen der Volkschu­le der Dreißen­tal­schu­le anzuschlie­ßen. Fried­rich Ruoff unter­rich­te­te damals Physik, ein Fach das mich neben der abstrak­ten Mathe­ma­tik, begeis­ter­te. Logisches zog mich offen­bar an, Unlogi­sches blieb mir schon damals diffus.
In der Klasse 9 stell­te sich immer dringen­der die Frage, wie geht‘s nach der Schule weiter? Meine Mutter wünsch­te sich einen Beamten im Rathaus (würg), oder einen Bankkauf­mann (würgwürg), oder eine Lehre bei Zeiss (hmm). Das alles führe zu siche­re­ren Arbeits­plät­zen. Aber ich liebte Mathe­ma­tik und Physik. Ich hatte zwar schon die Zusage von der Aalener Handels­schu­le in der Tasche, aber als Kaufmann zu arbei­ten, Betriebs­wirt­schafts­leh­re und den ganzen darum-herum- Krampf zu lernen? Konnte ich mir nicht vorstel­len.
Also bat ich Herrn Ruoff um Rat: „Gibt es nicht etwas, wo man auch als Volks­schü­ler in Physik weiter­ma­chen kann?“ Seine Antwort, samt Stimme, habe ich noch heute im Ohr: „In Physik direkt nicht, aber es gibt in Aalen eine ganz neue Berufs­fach­schu­le (BfS) Metall, mit viel Technik, viel Physik, Chemie und Mathe­ma­tik.“
Sakra­ment! Das war‘s! Ich fuhr am nächs­ten Tag mit dem Zug nach Aalen, marschier­te durch die perma­nent „versoicht“ stinken­de Bahnhofs­un­ter­füh­rung in Richtung Galgen­berg und melde­te mich dort an. Das blieb 5 Jahre dann mein neuer Schul­weg: Zwei Jahre BfS. Dort traf ich Lernwil­li­ge aus „em ganze Oschtalb­krois, vom Härts­feld ra, von Bopfegg und Utzmemegg dromma, von Ellwan­ga riebr und wasch­ech­te Oalamer“. Wir waren erst der zweite Jahrgang dieser neuen Schule, ein Oberko­che­ner, mit dem Spitz­na­men „Bedell­er“ war im ersten Jahrgang auch mit dabei.
Einschub von seinem Cousin, dem Huga-Paule zu „Bedell­er“. „Bedell­er“ ist heute noch der Spitz­na­me von Thomas Gentner, aufgrund seiner Redewen­dung „Bedell­er bedah­lt.
In der BfS fühlte ich mich zum ersten Mal gut aufge­ho­ben. Wir wurden als Erwach­se­ne wahrge­nom­men, klar, die Lehrer unter­rich­te­ten an der Techni­ker­schu­le, der BAS, Meister­schu­le und hatten wenig Erfah­run­gen mit kindhaf­ten Jugend­li­chen wie uns. Tat uns sehr gut, wenn auch der Drill und Leistungs­druck sehr hoch war. Frontal­un­ter­richt, Algebra, Geome­trie, Techni­sches Rechnen und Zeich­nen, Physik, Chemie, Werkstoff­kun­de bescher­ten mir unbeschreib­li­che Glücks­mo­men­te, einen nie gekann­ten Leistungs­an­sporn. In der Klasse rechne­ten wir um die Wette mit dem Lehrer und jeden Freitag gab es „Werkstatt“, das war der Hauch einer prakti­schen Ausbil­dung am Schraub­stock mit der Feile, an Bohr‑, Dreh- und Fräsma­schi­nen, an Schweiß­ge­rä­ten, mit Hammer am Schmie­de­am­bos, sowie Elektro- und Kunst­stoff­tech­nik. All das waren Prüfungs­fä­cher und zur Erlan­gung der mittle­ren Reife Pflicht, Englisch inklu­si­ve.
So gestählt schloss ich drei Jahre Techni­sches Gymna­si­um (TG) an. Nochmals verschärf­te Physik, Mathe, Geome­trie, Chemie, Werkstoff­kun­de, Techni­sches Zeich­nen, Techni­sches Rechnen, (leider keine Biolo­gie), ein wenig Wirtschafts­kun­de, wenig Geistes­wis­sen­schaf­ten, aber dafür ein paar wunder­ba­re Deutsch­leh­rer, die uns Klassi­ker weitge­hend erspar­ten, dafür die Gegen­warts­li­te­ra­tur, damals Heinrich Böll, Günter Grass, Georg Trakl & Co, sogar rororo Thril­ler und Asterix (einer der Deutsch­leh­rer schrieb seine Lehramts­ar­beit darüber) ans Herz legten, ein pracht­vol­ler Ausgleich zu den harten Natur­wis­sen­schaf­ten. Religi­on gab es auch, aller­dings ohne Gott, dafür viel Sexual­kun­de, Sozio­lo­gie und Politik. Wer keine Lust darauf hatte, schwänz­te die Stunde und schlen­der­te in die Stadt ans „Eduscho“ auf einen Kaffee. Das war derzeit der bekann­tes­te Aalener Gammler­treff. Man fand tatsäch­lich immer jemand, mit dem man herum­dis­ku­tie­ren konnte.
In der Zwölf­ten ergab sich für mich eine riesi­ge Überra­schung: Eine altbe­kann­te und berühm­te Oberko­che­ner Figur stieß in unsere Klasse: Wolfgang Hörndl, ein Intel­lek­tu­el­ler und Musiker (E‑Gitarre) aus dem damali­gen Stumpf-Funke-Pogel-Dunst­kreis. Wir blieben uns lange verbun­den und liefen uns immer wieder an verschie­de­nen Orten über den Weg.
Einschub von Friede­mann Blum über Wolfgang Hörndl. Ich habe Wolfgang im Alter von 16/17 Jahren über Stefan Stumpf kennen­ge­lernt, mit dem er bis zu seinem Tod eng befreun­det war. Wolfi hat wohl bei Zeiss eine Ausbil­dung zum Feinme­cha­ni­ker gemacht. Er wohnte ganz in der Nähe mit Mutter und Stief­va­ter „Am Holun­der­rain 6“. Er hat sich später zum Psycho­lo­gen weiter­ge­bil­det, in Göppin­gen ein Haus mit Praxis gebaut. Vor ca. 20 Jahren musste er wegen eines Augen­lei­dens seinen Beruf aufge­ben. Er verkauf­te sein Haus und zog nach Spani­en. Der Gitar­re ist er treu geblie­ben und baut hobby­mä­ßig E‑Gitarren und bespielt sie dann auch. Wolfi erinner­te sich noch, dass Billie Manager der Oberkoch­ner Gruppe VRS Vehic­le Repair Shop sein sollte, aber der Billie gesteht — auch mangels eines Autos — nichts auf die Reihe gebracht zu haben.
Während meiner Aalener Schul­zeit blieb ich Oberko­chen treu. Meine Kumpels waren alle hier und die Verbun­den­heit blieb. Mit Joachim Glaser aus meiner Klasse konnte ich über alles reden, wir trafen uns oft. Auch das Fachli­che schloss uns weiter zusam­men, er lernte Feinme­cha­ni­ker in „Charlys Linsen­schup­pen“ (so nannten wir die Weltfir­ma CZ), und wir tausch­ten uns über Werkstoff­kun­de, Stahl­no­men­kla­tu­ren, Härte­gra­de und die Tortur am Schraub­stock aus. Über die Jugend­frei­zei­ten in „Bezau und Bizau“ mit Frau Seitz, ihrem Sohn, Karl Seitz und dem Huga-Paule geriet ich an Rudolf Tritt­ler, der ebenfalls beim Fritscher Elektri­ker lernte. Heinrich Klein­hans aus dem oberen Dreißen­tal und Bernd Gold aus der Lenzhal­de, Alfons Hug aus dem Langert stießen dazu, sowie Werner Dörrer aus Aalen. Als Arbei­ter­kind blieb ich den Arbei­ten­den treu. Auch Heinrich Nolte, seines Zeichens Platten­le­ger, war eine Konstan­te unserer Clique. Er floh einst über die grüne Grenze der DDR und lande­te in Oberko­chen. Spätes­tens über ihn wurde uns klar, dass der real existie­ren­de Sozia­lis­mus im Alltag der Menschen wenig mit den klugen Sätzen vieler tonan­ge­ben­der Intel­lek­tu­el­ler zu tun hatte.

Der Super­schlit­ten von Wolfgang „Knypsi­lon“ Kny – ein Opel Kadett GT/E Rally (Archiv Kny)

Der Stolz von Thomas – sein damali­ger Sport­wa­gen (Archiv Vilgis)

Wir kurvten mit unseren ersten Autos, einem Fiat, einem Borgward Isabel­la, einem NSU-Prinz und meinem von der Ferien­ar­beit in Bäuer­les Motoren­bau verdien­ten Opel Kadett B durch die Gegend. Klar, kein Vergleich mit Wolfgang Knys rasant gelb-schwar­zen „Ralley Kadett GT/E“ oder Thomas Golds „Spider“, aber unsere Dinger hatten vier Räder, einen Motor und brach­ten uns vorwärts. Unser aller Fahrleh­rer hieß Albert Abele, damals noch bei Holzbau­er, der beste von allen. Bis heute wirken seine Anwei­sun­gen und Sätze nach.
Das Abi, Entschul­di­gung, die Fachge­bun­de­ne Hochschul­rei­fe (wir durften, wegen des fehlen­den Latinums, nicht Medizin studie­ren), schaff­te ich mit links. Das Glücks­ge­fühl wurde durch den bald eintru­deln­den Einbe­ru­fungs­be­scheid getrübt. Es gab Wehrpflicht und das damals in Mode gekom­me­ne „Verwei­gern aus Gewis­sens­grün­den“ wollte und konnte ich nicht. Warum? Genau das sehen wir heute mehr denn je. Also ging‘s nach der Muste­rung in Schwä­bisch Gmünd schwe­ren Herzens nach Nagold. Es blieb für mich aber ein kurzes Gastspiel, ein Arzt im Bundes­wehr­kran­ken­haus in Bad Wildbad meinte, solche dürren Schwäch­lin­ge taugen nicht mal für die Schreib­stu­be.
Super, das freute mich, denn die Zeit reich­te gerade noch für eine Blitz-Immatri­ku­la­ti­on für das Winter­se­mes­ter 1975/76 an der noch jungen Univer­si­tät Ulm, damals eine Medizi­nisch-Natur­wis­sen­schaft­li­che Hochschu­le; natür­lich in Physik und Mathe­ma­tik. Auch dort traf ich altbe­kann­te Oberko­che­ner, Werner Seitz, Karls Bruder, auch er verstarb viel zu früh, und Wolfgang Kny. Beide studier­ten Mathe­ma­tik und Physik für das Lehramt und man lief sich dauernd über den Weg.
Die Studi­en­zeit verging wie im Flug, ich wollte schnell fertig werden, also Diplom in Physik, dann Doktor­ar­beit in Physik, Polyme­re und weiche Materie, damals völli­ges Neuland und wunder­bar inter­dis­zi­pli­när. In Ulm lernte ich auch meine Frau Barba­ra aus Göppin­gen kennen, wir heira­te­ten 1984 und nach der Promo­ti­on 1984 gingen wir beide nach Cambridge (UK) zum „postdo­cen am Caven­dish-Labora­to­ry“, danach ans neue „Max-Planck-Insti­tut für Polymer­for­schung“ nach Mainz. Dort blieben wir bis heute kleben. Es gab immer wieder Inter­mez­zos, zwei Jahre Stras­bourg, ein viertel Jahr London, Paris, und all solche Geschich­ten. 1990 habili­tier­te ich in Theore­ti­scher Physik, erhielt die „venia legen­di“ (Lehrbe­rech­ti­gung) und wurde ein paar Jahre später Profes­sor an der Johan­nes-Guten­berg-Univer­si­tät Mainz. So hielt ich regel­mä­ßig Vorle­sun­gen, vergrub mich jahre­lang in die Welt der Formeln, theore­ti­sier­te mit Papier, Bleistift und zahlrei­chen Diplo­man­den, Dokto­ran­den und Postdocs aus aller Welt, an abstrak­ten und anwen­dungs­ori­en­tier­ten physi­ka­li­schen Proble­men herum.
Regel­mä­ßi­ge Forschungs­auf­ent­hal­te in Frank­reich, vor allem Stras­bourg versau­ten mich vollends: Ich wurde von dem langjäh­ri­gen Direk­tor des Insti­tuts, an dem ich arbei­te­te, syste­ma­tisch in die franzö­si­sche Gastro­no­mie und Lebens­art einge­führt. Am Insti­tut „Charles Sadron“ gab es in der Kanti­ne zum Mittag­essen Wein (!), meine beschei­de­nen Vorkennt­nis­se in Riesling, Gewürz­tra­mi­ner, Pinot-Gris wurden um Auxer­rois, handwerk­li­che, elsäs­si­sche foie gras, lièvre à la royal syste­ma­tisch erwei­tert. Besuche in Sterne-Restau­rants nahmen deutlich und syste­ma­tisch zu. 1998 began­nen die ersten Gehver­su­che in der Provence, wir lernten die hohe Kunst des mediter­ra­nen Aperi­tifs kennen, gewöhn­ten uns an (hier unüber­setz­ba­re) Marsaillai­ser Abkür­zun­gen wie PSG CD PD. 2001 wurden wir dort parti­ell sesshaft. Seit mehre­ren Jahren mit voll funktio­nie­ren­dem Büro und dem Luxus einer stabi­len und super­schnel­len Glasfa­ser­ver­bin­dung in den Rest der Welt; das bekommt die Deutsche Telekom in Mainz bis heute nicht hin.
Diese kulina­ri­schen Erwei­te­run­gen kamen mir sehr entge­gen, denn die wirklich wahre Konstan­te in meinem Leben waren Wochen­märk­te und das Hantie­ren am eigenen Herd. Selbst in höchs­ten Stress­zei­ten musste dies sein. Schon als Bub in Oberko­chen ging mein Vater jeden Samstag auf den Wochen­markt und brach­te frische Lebens­mit­tel mit nach Hause. In Aalen war jeden Samstag der Gang zum Wochen­markt Pflicht, ebenso in Ulm, in Cambridge, London, Stras­bourg und in der Provence. Dies bescher­te mir ein weit besse­res Kennen­ler­nen von Land, Leuten und Gebräu­chen, ein Muss für die Integra­ti­on auf fremdem Gebiet. Der regel­mä­ßi­ge Besuch des Wochen­markts in Aix-en-Provence zeigt mehr Kultu­rel­les, Elemen­ta­res, mehr Mensch­li­ches als jede Lesung der noch so berühm­tes­ten Philo­so­phen oder jede der unzäh­li­gen weltbe­rühm­ten und hochge­lob­ten Theater­auf­füh­run­gen und Musikfestivals.

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Einer seiner Lieblings­plät­ze – der Markt in Aix-en-Provence (Wikipe­dia Rolf Kranz, Aix-en-Provence, Marché proven­çal, CC BY-SA 4.)

1999 wurde mir eine Kolum­ne in dem Gruner-und-Jahr Blatt „essen&trinken“ angetra­gen. Der nullte Schritt in die „soft-matter-food-physics“, denn es sollte um Natur­wis­sen­schaft des Kochens gehen. Das lief sehr gut, und bis 2010 war dies ein spannen­der Neben­job. Ich begann neben­her Bücher über „Moleku­lar­kü­che“ zu schrei­ben, haupt­säch­lich während der gestü­ckel­ten Jahres­ur­lau­be im proven­ca­li­schen Homeof­fice und so kam eins zum andern. Jede Menge Arbeit zwar, aber jedes meiner Bücher war für mich die große Chance echtes Neuland zu betre­ten, viel über Lebens­mit­tel­for­schung zu lernen, z.B. über Aroma-Chemie, von der ich vor 2011 absolut keine Ahnung hatte. Auch in moleku­la­rer Biolo­gie, Biophy­sik, Bioche­mie und Senso­rik hatte ich unend­lich viel Nachhol­be­darf. Ohne diese Kennt­nis­se verstand ich Lebens­mit­tel einfach nicht. Außer­dem brach­ten die natur­wis­sen­schaft­li­chen Zusam­men­hän­ge reich­lich unerwar­te­ten Genuss an den Tisch.

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Ein kleiner Ausschnitt seines journa­lis­ti­schen Schaf­fens (Archiv Müller)

Um das Jahr 2007 legte ich den Theore­ti­ker-Bleistift endgül­tig beisei­te und baute am MPI für Polymer­for­schung eine neue experi­men­tel­le Gruppe für moleku­la­re Lebens­mit­tel­phy­sik (im Neudeutsch „soft matter food physics“) auf. Ich bekam Labor­räu­me, Start­ka­pi­tal für Labor­aus­rüs­tung und Perso­nal. Mit dem jahre­lang erarbei­te­ten theore­ti­schen Hinter­grund entwi­ckel­te ich mit meiner neuen Arbeits­grup­pe eine ungewöhn­li­che Sicht auf die Physik und die physi­ka­li­sche Chemie von Lebens­mit­teln. Dieser komplet­te Umschwung war vielleicht die beste Entschei­dung in meinem Berufs­le­ben. Schließ­lich gestat­tet die Max-Planck-Gesell­schaft freie Forschung und wir toben uns bis heute aus. Dazwi­schen kam dann noch ein Lehrauf­trag an der Justus-Liebig-Univer­si­tät Gießen für Lebens­mit­tel­phy­sik, ‑techno­lo­gie, Ernäh­rung. In diesem Jahr wurde mir dort eine Honorar­pro­fes­sur angetra­gen. Und wenn die #&%!=/{*^*} – Rente *** nicht gekom­men wäre, forsch­ten wir noch viele Jahre unbeküm­mert weiter (*** nur Comic-Spezia­lis­ten verste­hen diesen Begriff).

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Thomas in seinem Element – dem Kochen mit Niveau (Archiv Vilgis)

Hie und da kam dazwi­schen ein bisschen Fernse­hen, damals war ich noch dunkel­blond, falten- und knitter­frei, heute ist es immer noch das Radio, wöchent­lich beim SWR2 Samstag­nach­mit­tag für die Radio­ko­lum­ne „Gastro­Jet“. Da spielen Falten und graue Haare noch keine Rolle. Der damali­ge Redak­teur und kochbe­geis­ter­te Abtei­lungs­lei­ter Thomas Koch (!) kürte mich mit der Wortneu­schöp­fung zum „Genuss­for­scher“.
Im Januar 2010 starb mein Vater, ein gutes Jahr nach meiner Mutter. Ihm wurde wegen einer drohen­den Sepsis mit 91 Jahren ein Bein abgenom­men, was ihn ins Oberko­che­ner DRK-Alten­pfle­ge­heim brach­te. Nach Mainz zu uns wollte er nicht mehr. Meine Frau und ich kamen während dieser Zeit wieder wöchent­lich mehrmals nach Oberko­chen und wohnten neben­an im Hotel am Rathaus. In den letzten beiden Wochen meines Vaters zogen wir ins Gäste­zim­mer des Pflege­heims und beglei­te­ten ihn in seinen letzten Tagen und Nächten. Dies war meine beste Zeit, denn selten wurde mir der Sinn des Lebens so klar, wie beim Sterben des Vaters. Als es zu Ende war und meine Frau und ich die letzten Habse­lig­kei­ten in eine Reise­ta­sche packten, kam Frau Hauber, in das Zimmer. Ja, „meine“ Hebam­me, sie war selbst Bewoh­ne­rin des Pflege­heims, und umarm­te mich mit den Worten, ich hätte mehr als meine Pflicht getan. Mein Kreis schloss sich. Auf diese einma­li­ge und wunder­sa­me Weise ging meine Oberko­che­ner Zeit endgül­tig zu Ende.

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Der Haupt­bahn­hof Oberko­chen – erbaut als Modell von Alois Vilgis (Archiv Vilgis)

Stopp, so ganz stimmt das auch wieder nicht. Oberko­chen begeg­net mir täglich. Unser Labor und unser Haus steht voll mit Oberko­che­ner Gerät­schaf­ten. Wir haben ein bestaus­ge­rüs­te­tes Mikro­skop aus Oberko­chen von Carl Zeiss in unserem Präpa­ra­ti­ons­la­bor. Die Elektro­nen­mi­kro­sko­pe des Hauses stammen ebenfalls von dort. Auf dem Fenster­brett meines Büros blicke ich täglich auf den „Haupt­bahn­hof Oberko­chen“, ein (fast) maßstabs­ge­rech­ter Nachbau des damali­gen Origi­nals meines Vaters aus alten Obstkis­ten. Wenn ab und zu ein Service­au­to von Zeiss mit dem Kennzei­chen AA auf dem Parkplatz des Max-Planck-Insti­tuts steht, wird es mir ganz „pfings­tig“ ums Gemüt „zumahn“. Der Geist der alten Heimat weht dann stürmisch und lässt mich schwä­belnd an alte Zeiten erinnern.
Kaum zu glauben, dass sich die Mutter von Thomas einst dem Verneh­men nach fragte: „Was soll bloß aus dem Bua werra?“
Abschlie­ßend kann der Billie nur feststel­len: Der Jahrgang 1955 ist schon auch ein beson­de­rer, haben doch viele aus diesem Jahrgang Bemer­kens­wer­tes erreicht und inter­es­san­ter­wei­se stammen einige unser Gäste zu unseren jährli­chen Schul­zeit-Treffen aus genau diesem Jahrgang.

Wilfried Wichai Müller „Billie vom Sonnenberg“

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