War wohl damals schon ausdrucks- und willens­stark (Archiv Vilgis)

Intro. Prof. Dr. Thomas Vilgis, ein gebür­ti­ger Oberko­che­ner des Jahrgangs 1955. Er ist dieses Jahr 68 Jahre alt gewor­den und somit für ihn eine gute Gelegen­heit einen Blick in die Vergan­gen­heit zu riskie­ren. Seine Kindheit und Jugend­zeit verbrach­te er überwie­gend im und um den Heide­weg herum. Wie im Bericht über die Autoren­In­nen schon erwähnt, ist Thomas Vilgis eine beein­dru­cken­de Persön­lich­keit, auch wenn er sich gelegent­lich als ganz norma­ler Feld, Wald- und Wiesen­phy­si­ker bezeich­net. Ganz im Stile von Jürgen Klopp: „I’m the normal one“. Lassen wir ihn nun zu Wort kommen und lesen seine ganz spezi­el­len Erinne­run­gen.
Verwur­ze­lung. Thomas ist ein wasch­ech­ter Oberkoch­ner – auch wenn der Name Vilgis das nicht gerade sugge­riert. Aber er stammt aus einer Hug’schen Verbin­dung und damit „kannsch gar et mehr Oberkocha sei“. Mutter Maria Hug (1921−2009) war eines der neun Kinder des Huga-Schrei­ners, und wuchs im elter­li­chen Haus zwischen Heiden­hei­mer Straße, Kratzers Miste und der alten Molke am Kocher auf. Das Haus steht heute noch auf der linken Seite, wenn man das schma­le Gässle beim Kaufmann zum Kocher hinun­ter­läuft. Der erste Mann von Maria, Wilhelm Appt (1921−1945), starb kurz vor Ende des 2. Weltkriegs und hinter­ließ Maria und ihre zwei Kinder Willi­bald (1945-) und Heinz Appt (1942−2016). Alois Vilgis wurde während des Krieges in Oberko­chen statio­niert und nach Ende des Krieges kam er nach Oberko­chen zurück. 1954 heira­te­te er die Maria und die nun fünfköp­fi­ge Familie mit Alois, Maria, Willi­bald, Heinz und Thomas wohnte anfangs in der Blumen­stra­ße 22, wo Thomas, unter tatkräf­ti­ger Mithil­fe der Hebam­me Gertrud Hauber, am 9. Juli 1955 gegen 23:30 Uhr das Licht der Welt erblick­te. Der Bericht 268 von Didi Bantel enthält die Erinne­run­gen von Alois Vilgis (1918−2010) zu seiner Oberkoch­ner Zeit. Zu erwäh­nen ist noch, dass der Huga-Paule sein Cousin ist und die Barba­ra Czerner seine Cousine.

Cousin Thomas Vilgis mit Cousi­ne Barba­ra Czerner – oifach scheeeee (Archiv Vilgis)

Thomas erinnert sich an. In der Blumen­stra­ße lebten wir bis 1959. An manche Gegeben­heit kann ich mich sogar noch erinnern. Etwa an den riesi­gen Garten, der in Richtung Bauge­schäft Wingert hinun­ter­reich­te und wahrhaf­ti­ge Schät­ze bot: Die hohen Bohnen­stan­gen mit den dicken und köstli­chen Feuer­boh­nen, grüne Bohnen, Sträu­cher mit köstli­chen Beeren, Karot­ten, Tomaten und ebenso den Hackstock, der so manchen Hühnern und Hasen als Unter­la­ge diente, bevor sie der Hausbe­sit­zer Bayer darauf mit seinem „Schnai­er“ durch ein gekonn­tes Köpfen schlach­te­te. Dieser bluti­ge Tod der Tiere war für mich immer ein gutes Zeichen, denn mit großer Wahrschein­lich­keit fiel für unsere Familie immer wieder ein kleines Festessen davon ab, mal ein Huhn, mal ein ganzes Karni­ckel, das im Oberko­che­ner Slang natür­lich „Staal­haas“ hieß und vermut­lich heute noch so heißt. Vokale werden in dieser Ecke von „The Länd“ bekannt­lich lang ausge­spro­chen.
Mein Vater Alois schaff­te sein Leben lang beim Bäuerle im Motoren­bau, später auch mit diver­sen Neben­jobs, damit wir über die Runden kamen. In der Blumen­stra­ße wohnten wir im oberen Stock­werk auf engstem Raum und schnell war nach meiner Ankunft klar, dass wir eine etwas größe­re Wohnung brauch­ten. In der Blumen­stra­ße war die Küche der einzi­ge Raum mit glattem Stein­fuß­bo­den, wo ich mich mit meinem Holzbull­dog austo­ben konnte. Wie so oft im Schwä­bi­schen üblich, war das Wohnzim­mer mit der sofakis­sen­be­leg­ten Couch strengs­tens verbo­ten. Darin wohnte man aller­höchs­tens mal sonntags oder zu den großen Feier­ta­gen.
1959 war es dann soweit. Wir zogen „far out into the Outbacks of Oberko­chens“, in den Heide­weg Hausnum­mer 12. Dieses Vierfa­mi­li­en­haus war damals eines der wenigen Häuser direkt unter­halb des Natur­freun­de­haus und dem Wäldchen, das mal mein Abenteu­er­land werden sollte. Vor dem Haus befand sich damals noch eine riesi­ge, schwar­ze Schutt­hal­de (aus der Gieße­rei Bäuerle), darin gab es viel zu entde­cken. Riesi­ge alte Schrau­ben, Winkel­ei­sen, Gieße­rei­schutt und Indus­trie­schrott. Für die heuti­gen Kinder wäre das hochgra­dig verbo­te­nes Terrain, zu viele Schad- und Giftstof­fe. Das inter­es­sier­te damals aber niemand, bisher habe ich es schad­los überstan­den. Weiter unten am Berg war der Heide­weg schon bebaut, Dr. Borst, unser damali­ger Hausarzt wohnte dort, wie auch die Famili­en Gruber. Rasch freun­de­te ich mich mit Claus Zieschank an. Der Bub war ebenfalls 1955 geboren, aller­dings in Jena, wie so manche meiner damali­gen Wegge­fähr­ten, die mit der Firma Carl Zeiss von Jena nach Oberko­chen kamen, und letzt­lich dafür sorgten, dass aus dem landwirt­schaft­lich gepräg­ten Dorf mit mittel­stän­di­schen Unter­neh­men, 1968 zu einem florie­ren­den Städt­chen erhoben wurde. Wir Oberko­che­ner lernten schnell den Gebrauch der Vokabeln „nuuu“ und „ei vorbibbsch“, im Gegen­zug konnte die Thürin­gen-Sachsen-Vogtland-Frakti­on auch bald die Unter­schie­de zwischen „Grasdaggl, Halbdaggl und Hierabig­gr“ genau­er als Einhei­mi­sche erklären.

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Auch ein kochen­der, lehren­der und schrei­ben­der Physi­ker fängt als Green­horn an (Archiv Vilgis)

Heide­weg, Ahorn- und Holun­der­rain wurden, Dank der rasant steigen­den Arbeits­plät­ze, zügig bebaut, worauf der berühm­te Gymna­si­al­leh­rer Otto Krug und seine Familie unsere Nachbarn wurden. Es gab also einen neuen Kamera­den in den „Outbacks“. Sein Sohn Reinhard und ich gründe­ten eine Bande mit den Lenzhald­nern Micha­el Grau (Socken-Grau) sowie dessen Schwes­ter Sabine und spiel­ten Cowboy und India­ner, Winne­tou und Old Shatter­hand. Natür­lich waren wir mit Käpse­les-Pisto­len und Holzge­weh­ren bewaff­net und „erschos­sen“ uns recht­zei­tig vor dem Vesper gegen­sei­tig, wie wir es während der Karl-May-Filme im Kino im Dreißen­tal gelernt hatten. Damals durften wir so politisch unkor­rekt sein, jeder und jede waren mal Cowboy mal India­ner oder arabi­sche Schuts. Heute empfin­de ich diese Spiele­rei nach wie vor als die ersten Schrit­te zum Freigeist, der ich mein Leben lang bleiben sollte.
In die „Kinder­schu­le“ wollte ich nie – ich hing „immer am Rockzip­fel meiner Mutter“, war ein echtes „Mama-Kendle“. Mir war der Kinder­gar­ten ein Graus, ich war schon damals ein intro­ver­tier­ter Eigen­bröd­ler, der lieber eigenen Gedan­ken nachhing. 1962 wurde ich in die Dreißen­tal­schu­le einge­schult. Der langjäh­ri­ge Rektor Hagmann begrüß­te uns und Frau Wilhel­mi­ne Wurst wurde meine erste Klassen­leh­re­rin. Bei Frau Stefa­nie Batzill, nein Fräulein, denn darauf legte sie Wert, hatten wir Religi­on. Sie reckte immer gern die Hände nach oben und rief „heilig-heilig“, was mir schon damals suspekt vorkam. Auch Pfarrer Forster gab katho­li­sche Religi­ons­stun­den, der uns öfter mal eine Gewal­ti­ge scheu­er­te und uns mit oberleut­nant­mä­ßi­ger Stimm­la­ge in den Senkel stell­te, wenn wir nicht spurten. Heute undenk­bar, aber letzt­lich war dies für uns eine handfes­te Bekannt­ma­chung mit den Tugen­den „Diszi­plin“ und „Respekt“ im Alltag, denen es heute vieler­orts fehlt, vor allem mit der Vorsil­be „Selbst“.

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Das seiner­zeit übliche Schüler­fo­to – nicht ganz billig, aber schön, wenn man’s heute noch hat (Archiv Vilgis) Vorne vlnr: Thomas Vilgis, Gerhard Schus­ter / hinten vlnr: Richard Burger, Hans-Joachim Bayer

Tröstend für uns war immer die große Pause, als wir für ein paar Pfenni­ge eine Brezel beim Hausmeis­ter Leonhard Burghard, dem heimli­chen Schul­lei­ter, kaufen durften. Klasse 3 und 4 übernahm Rudolf Heite­le. Von da an ging‘s mit mir bergab, denn viele idioti­sche Textauf­ga­ben im Fach „Rechnen“, die sich nicht auf schwä­bisch überset­zen ließen, blieben mir ein Rätsel. Dennoch wollte ich in die „Oberschu­le“ und melde­te mich heimlich, gegen den Willen, meiner Eltern, zur Aufnah­me­prü­fung für 1964 an. Ich sehe mich noch heute mit den anderen im Klassen­zim­mer bei der Mathe­ma­tik­prü­fung sitzen, brütend über einer schrä­gen Textauf­ga­be über einen „Kühlschrank“ und hatte aber schon bei der Abgabe meiner Ergeb­nis­se ein schlech­tes Gefühl.
Als ein paar Tage später Rudolf Heite­le in der Dreißen­tal­schu­le verkün­de­te: Alle haben bestan­den, nur einer ist durch­ge­fal­len, entfuhr es mir sofort “Ich”. Heite­le nickte und Gabrie­le Kadura, sie saß mir schräg gegen­über, schau­te mich irgend­wie tröstend an. Das war mein erstes großes Schei­tern und ich blieb eben Volks­chü­ler, so wie es sich für ein Arbei­ter­kind gehör­te. Die Wege meiner alten Klassen­ka­me­ra­den, darun­ter Gerhard Schus­ter, Hans-Joachim Bayer (er sollte ein Geolo­ge werden), und Richard Burger (Lehrer und langjäh­ri­ger Stadt­rat) waren nun andere als meine und unser gemein­sa­mer Schul­weg durch die Katzen­bach­stra­ße, vorbei an Sappers Miste, ging zu Ende.
Einschub vom Billie zu Bayer und Schus­ter. Dr. Hans-Joachim Bayer, geb. 1955 in Oberko­chen, studier­te Geolo­gie an der Techni­schen Univer­si­tät Claus­thal. Von 1982 bis 1987 war er wissen­schaft­li­cher Angestell­ter am Lehrstuhl für Angewand­te Geolo­gie der Univer­si­tät Karls­ru­he. Seit 1987 Betriebs­geo­lo­ge der Firma FlowTex — Gesell­schaft für Horizon­tal­bohr­sys­te­me in Ettlin­gen.
Gerhard Schus­ter, Diplom­kauf­mann, geb. 1955 in Oberko­chen, studier­te Betriebs­wirt­schaft an der Univer­si­tät Mannheim und seit 1982 bei einer Großbank tätig, zunächst in Karls­ru­he, ab 1987 in Mannheim.
Beide haben sich auch in der Ostalb­re­gi­on einen Namen gemacht und veröf­fent­lich­ten auch einen Führer zum Besucher­berg­werk „Tiefer Stollen“. Unser Karst­quel­len­weg geht auch auf eine Idee von HJ Bayer zurück.
Die Klassen wurden neu zusam­men­ge­wür­felt. Wenigs­tens kam ich dann ab Klasse 5 in den “A‑Kurs” und wir began­nen bei Kurt Schmieg mit Algebra. Und „heiman­dzack“, ja, das war meine Sprache! Plötz­lich konnte ich die saudum­men Textauf­ga­ben in “Rechnen mit x und y”, sprich in logisch struk­tu­rie­re Formeln, überset­zen. Die Liebe zur Mathe­ma­tik und den Natur­wis­sen­schaf­ten war schlag­ar­tig geboren. Ich verstand bis Klasse 4 offen­bar das geschraub­te Deutsch dieser idioti­schen Textauf­ga­ben zu wenig. Aber von nun an ging‘s bergauf, denn die beiden Kurzschul­jah­re packte ich mit links und liefer­te Bestno­ten ab. Frau Kny führte uns streng durch Geschich­te und der leider viel zu früh verstor­be­ne Sport­leh­rer Wagner hetzte uns über die Geräte der Dreißen­tal­turn­hal­le. Ich war im Fach Sport eine komplet­te Null, bekam beim Völker­ball jedes Mal den Medizin­ball ins Kreuz, aber ich rechne es Wagner bis heute hoch an, dass er nieman­den mit miesen Leistun­gen fallen ließ, eben durch und durch ein Sportsmann.

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Seine Abschluss­klas­se der Dreißen­tal­schu­le im Jahr 1970 (Archiv Rathaus) Untere Reihe vlnr: Roland Harpeng, Thomas Vilgis, Ulrich Schoch, Helmut „Jacky“ Grupp, Thomas Stiebritz, Jürgen Riede, Peter Schlund Mittle­re Reihe vlnr: Oberleh­rer Ulrich, Reiner Schmid, Norbert Strese, Claus Zieschank, Heinz Gold, Dieter Gremer­ath, Heinrich Klein­hans, Bernd Heselich, Joachim Glaser, Josef Wunder­le Hinte­re Reihe vlnr: Karl Balle, Herbert Meixner, Roland Seipold, Ottmar Bihlmai­er, Harald Werle, Bernd Karcher, Günter Fohrer, Herbert Rauer, Juan Sogas, Norbert Romoth

In dieser Zeit wurde zum ersten Mal eine Hauswirt­schafts-AG angebo­ten. Die Hauswirt­schafts-lehre­rin Renate Edinger vom „Ochsen­ja­kob“ (dem Wirt des Gasthofs „Ochsen“) lud auch Buben ein, daran teilzu­neh­men und so gab es im neuen Schul­jahr das Fach „Kochen“. Da ich schon immer meiner Mutter gerne beim Kochen zusah, jeden Topfde­ckel lupfte und Feuer­stel­len (damals noch mit Holz und Kohle), den Herd und das Essen faszi­nie­rend fand, begeis­ter­te ich mich dafür, auch wenn ich Gemüse zeitwei­se verab­scheu­te, und ein Fan von SZ-Schnit­ten und Leber­wurst­brot war. Bei ihr lernte ich neben elemen­ta­ren Kochtech­ni­ken ganz neue Gerich­te kennen, zum Beispiel „Basch­da Schud­da“ (Pasta asciut­ta) und die Bollonn­je­se (Ragù alla Bologne­se), die ich begeis­tert mit nach Hause brach­te und meine Mutter fortan auch zu Hause kochte. Die Gastar­bei­ter aus Südeu­ro­pa brach­ten einen Hauch inter­na­tio­na­les kulina­ri­sches Flair nach Oberko­chen. Dies zeigte sich auch beim „Sogas“, dessen Sohn Juan bei mir in der Klasse war, aber mit uns bestes Schwä­bisch schwätz­te und oft einen frischen Laugen­we­cken als Pausen­brot mitbrach­te. Auch die neue italie­ni­sche Eisdie­le „Italia“ in der Heiden­hei­mer Straße zeugte davon. Diese wurde gern genutzt, beson­ders für die ersten Gehver­su­che im „Poussie­ren“, das in Oberko­chen mit weichem B ausge­spro­chen werden muss.
Aber es war auch eine „schlim­me Zeit“, die Volks­schul­jah­re zwischen 1966 und 1969, neben Mathe­ma­tik, Chemie und Physik, spuck­ten uns bislang unbekann­te Idole in die Suppe. Die Rocker und Under­groun­der von Jethro Tull, der bis heute vielleicht genials­te Gitar­rist Jimi Hendrix, die stunden­lang jazzig impro­vi­sie­ren­de „Super­group“ Cream, die ersten „electric blue notes“ eines Miles Davis oder Led Zeppe­lin waren plötz­lich zu Gast in Peter Mordo‘s Mittwochspar­ty (Südfunk Stutt­gart) und im Beatclub (Radio-Bremen), und ja, „The Beatles“ blieben für mich immer eine zu brave, engli­sche Schla­ger­band. „Die verlaus­ten Gammler“, wie sie von unseren Eltern genannt wurden, gruben sich mit ihrem Rhythm & Blues und ihrer „Neger­mu­sik“ (so der damals übliche Begriff der Eltern­ge­nera­ti­on) in unsere Gehir­ne. Den verstaub­ten 60er und 70er Jahren der Republik wurde auch bei uns in Oberko­chen der Marsch gebla­sen und wir saßen mit Tonband­ge­rä­ten und Mikro­phon am Radio, den Finger am Aufnah­me­knopf. Heinz Gold, Norbert Strese und Dieter Gremer­ath schlepp­ten das Magazin POPFOTO an. Nein, die gab‘s nicht beim Foto Kristen, sondern manch­mal in Aalen am Bahnhofs­ki­osk. Englisch wurde auch in der Volks­schu­le als Fremd­spra­che immer wichti­ger, und die ersten Schlag­jeans und Jacken mit Fellbe­satz gab‘s sogar im gedie­ge­nen Beklei­dungs­haus Löhlein in Aalen.
Es kam, wie es kommen musste. Die Haare wurden länger, Eskapa­den starte­ten. Man traf sich in den damals existie­ren­den Oberko­che­ner Szene­knei­pen, also zum Tisch­fuß­ball im „Café Muh“ (Norbert Richter: „Därfsch du scho Biar drenga?“), im „Café Gullmann“ im Neben­raum zum Flipper und Billard, inklu­si­ve der klaren Ansage vom Kneipier „Wear Osche auf‘n Bodn schmaißt, der zohld fünf Morg“, inklu­si­ve. Es gab Musik­bo­xen mit den neues­ten Hits, die schon mal das ohnehin spärli­che Taschen­geld früher auffra­ßen als gedacht. Die ganz Verwe­ge­nen zog es schon in das damals frisch eröff­ne­te „Disco Pub“ nach Aalen, wo es düste­ren Verlaut­ba­run­gen zufol­ge, schon mal „Schwar­zen Afgha­nen“ gab (wovon ich bis heute strikt die Finger ließ, ganz rock’n‘roll without drugs). Ich verlieb­te mich in eine Mitschü­le­rin aus der Paral­lel­klas­se (Jungs und Mädels waren getrennt), wir „gingen mitein­an­der“, bis sie mir ein Mitschü­ler meiner Klasse ein paar Monate später wieder ausspann­te. Meine Eltern hatten große Angst, „my g‑g-g-genera­ti­on“ (The Who) und ich würden vollkom­men im Hippie­sumpf „versag­gern“. Unser Klassen­leh­rer Ulrich redete uns ins Gewis­sen, Frau Düver in der Paral­lel­klas­se ebenfalls. Wir hangel­ten uns durch die Klassen 8 und 9, getrie­ben zwischen Lernei­fer und gesell­schaft­li­chem Aufbruch, einem diffu­sen Wunsch einen Weg heraus­zu­fin­den, aus der verstaub­ten, immer noch nazige­schwän­ger­ten Zeit, die vielen von uns wie ein Wider­spruch zum wirtschaft­li­chen Aufschwung und begin­nen­dem Wohlstand vorkam. In der Tat, ein seltsa­mer Satz für einen Dorfbu­ben, der nie einer politi­schen Gruppe angehör­te. Grund dazu hätte ich als Arbei­ter­kind gehabt. Meine Mutter arbei­te­te ab 1963 von 18 bis 23 Uhr als Reini­gungs­kraft bei Zeiss, damit das Geld für meine Kommu­ni­on reichte.

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So ein Bild hat jeder katho­li­sche Bub aus Oberko­chen in seinem fotogra­fi­schen Fundus (Archiv Vilgis)

Mein Vater fuhr täglich mit dem Rad (später mit einem Moped) im „Blauen Done“ in die Fabrik, kam nach Hause, wusch sich, zog sich um und ging wieder aus dem Haus, um beim „Jelon­nek“ zu arbei­ten, oder später im Rathaus­ho­tel nach der Arbeit Hausmeis­ter­tä­tig­kei­ten zu verrich­ten. Vor halb neun abends war er nie zu Hause. Ich erinne­re mich noch genau, als er einmal von der Fabrik nach Hause kam und von der Bäcke­rei Ficht­ner ein Brot mitbrach­te. Dort, so erzähl­te er, habe eine in den Laden kommen­de Kundin gemeint, hier röche es aber komisch. Die Arbeit im Motoren­bau hinter­ließ offen­bar das Parfüm der Arbeiterklasse.

Teil 2 folgt nächs­te Woche.

Wilfried Wichai Müller „Billie vom Sonnenberg“

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