Als ich 2014 die Idee für diesen Bericht hatte, konnte ich nicht ahnen, dass das Thema während des Recher­chie­rens und Schrei­bens ungeahn­te Dimen­sio­nen aufgrund des Flücht­lings­dra­mas anneh­men würde. Aufneh­men ist das eine, unter­brin­gen und integrie­ren das andere. Nach dem Krieg stran­de­ten 12 Millio­nen deutsch­spra­chi­ge Flücht­lin­ge und Heimat­ver­trie­be­ne aus den Ostge­bie­ten im Rest-Deutsch­land. Davon entfie­len über 4 Mio. auf die SBZ (Sowje­ti­sche Besat­zungs­zo­ne) und 2 Mio. auf Bayern. In den 50er Jahren kamen viele Thürin­ger nach Oberko­chen und im Rahmen des Mauer­falls kamen auch viele aus den damals so genann­ten neuen, den östli­chen Bundes­län­dern über die Auffang­la­ger in die so genann­ten alten, die westli­chen Bundes­län­der. Wir wollen uns in diesem Bericht die Situa­ti­on in den 40ern und 50er des vergan­ge­nen Jahrhun­derts näher anschau­en. Wie immer gibt es in meinen Berich­ten Erinne­run­gen von Mitbür­gern und ‑innen die von mir in den Gesamt­be­richt einge­bet­tet wurden.

Ein paar Zahlen vorne weg

Heute bewohnt eine Person durch­schnitt­lich 40 qm, in den 70ern 20 qm, in den 50ern 12 qm und in den 20er Jahren 5 qm. Für Miete werden heute ca. 30 % des Einkom­mens aufge­bracht, in den 20ern waren dazu 50 % notwen­dig. Für Ernäh­rung benöti­gen wir heute 14 % unseres Einkom­mens, in den 70ern 25 %, in den 50ern 44 % und um 1900 herum 57 %. Das macht einem schlag­ar­tig klar wie gut es uns heute geht.

Sowie eine Anmer­kung zu Anfang

Dieser Bericht umfasst über 50 Fotos und Dokumen­te und kann daher im Amtsblatt nicht umfas­send darge­stellt werden, denn das Blätt­le ist ja nun mal kein Bilder­buch. Deshalb sei hier wärms­tens auf die WebSite des Heimat­ver­eins verwie­sen. Dort lassen sich alle Bilder genüss­lich im Detail betrach­ten. Ich bin mir sicher, dass dieser Bericht viele Gesprä­che auslö­sen wird. Und das ist für den Autor das Schöns­te: Recher­chie­ren, Struk­tu­rie­ren, Erinnern, Schrei­ben und Reaktio­nen bei den LeserIn­nen auslösen.

Vor dem Krieg

Wir schrei­ben das Jahr 1939. Am Rande der Ostalb liegt das Dorf Oberko­chen. Neben Remscheid und Schmal­kal­den das Zentrum der Werkzeug- und Maschi­nen­in­dus­trie zur Holzbe­ar­bei­tung, aber trotz­dem noch sehr bäuer­lich geprägt. Die Einwoh­ner­zahl beläuft sich auf 2002 davon 2/3 Katho­li­ken und 1/3 Evange­li­sche. Damals gab es 1.379 Beschäf­tig­te davon 979 in der Indus­trie bei einer wöchent­li­chen Arbeits­zeit von knapp unter 50 Stunden.

Zurück auf „Los“ Mai 1945

Oberkochen
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Heiden­hei­mer Straße (Archiv Müller)

Millio­nen Menschen, Flücht­lin­ge und Vertrie­be­ne, auf dem Marsch von Ost nach West. Die größte humani­tä­re Aktion nach dem Ende des II. Weltkrie­ges begann ohne eine Willkom­mens-Kultur. Nicht selten sprach man vom „Pack aus dem Osten“. Genau­so kam es beim Kampf um Nahrungs­mit­tel zwischen Ausge­bomb­ten, Flücht­lin­gen, Kriegs­heim­keh­rern, Habenicht­sen und Vertrie­be­nen fast zu bürger­kriegs­ähn­li­chen Zustän­den. Die einen schütz­ten die Felder mit Waffen und die anderen stahlen. Schwarz­han­del blühte trotz Straf­an­dro­hun­gen und Kardi­nal Frings in Köln dulde­te den Kohlen­klau aufgrund des harten Winters 1946. Man ging also „hamstern“ (Nahrungs­mit­tel beschaf­fen) und „fringsen“ (Kohlen klauen). In den Städten hauste man in Ruinen, auf dem Land bei den Bauern (die alles andere als erfreut darüber waren) und in kleinen Gemein­den wurde jedes Zimmer mit mehre­ren Menschen belegt. Die Einhei­mi­schen waren, mit Ausnah­men, alles andere als hilfs­be­reit und hilfs­wil­lig. In den Kreisen Waiblin­gen und Aalen war 1946/47 folgen­des Schmäh­ge­bet im Umlauf: „Herrgott im Himmel, sieh‘ unsere Not / wir Bauern haben kein Fett und kein Brot / Flücht­lin­ge fressen sich dick und fett / und stehlen uns unser letztes Bett / wir verhun­gern und leiden große Pein / Herrgott schick‘ das Gesin­del heim / Schick sie zurück in die Tsche­cho­slo­wa­kei / Herrgott mach‘ uns vor dem Gesin­del frei / sie haben keinen Glauben und keinen Namen / die dreimal Verfluch­ten, in Ewigkeit Amen.“ Man glaubt gar nicht was man beim Recher­chie­ren so alles findet. Es ist kaum vorstell­bar, aber das obige „Gebet“ ist da noch recht harmlos. Geleb­te christ­li­che Nächs­ten­lie­be sieht anders aus. Sie kamen aus Regio­nen, welche die Jungen heute überhaupt nicht mehr kennen: „Ostpreu­ßen, Pommern, Schle­si­en (Bielitz), Böhmen (Braunau), Mähren (Roster­nitz), Balti­kum, Posen-Westpreu­ßen, Galizi­en, Sudeten­land, Egerland, Banat, Sieben­bür­gen, Bukowi­na, Bessa­ra­bi­en, Wolga­ge­biet, Kauka­sus, Ungarn usw. usf. (Auflis­tung nicht vollstän­dig). Heute ist man stolz darauf damals 12 Millio­nen integriert zu haben, aber es war schwer, mühsam und hat seine Zeit gedau­ert. Und Menschen, welche die Flücht­lin­ge ablehn­ten gab es damals auch schon in nicht gerin­ger Zahl, – auch bei uns in Oberko­chen. Ein Spruch, der bis weit in die 60er Jahre Gültig­keit hatte und beson­ders für die Mädchen galt, laute­te: „Bring m’r bloß koin Flicht­ling“. Dazu eine kleine Oberko­che­ner Episo­de: „In der Katzen­bach­stra­ße wurde ein Trans­for­ma­to­ren­häus­le gebaut. Kommt eine alte Oma vorbei und fragt den Kapo „Wer kommt jetzt da nei?“ Der Kapo antwor­tet maulfaul: „Trans­for­ma­tor“. Oma fragt zurück: „Isch des au widdr so a Flicht­ling?“ Beim Recher­chie­ren fiel mir auf, dass bei folgen­den Adres­sen bei den An- und Abmel­dun­gen im Amtsblatt ein reges „Kommen-und-Gehen“ statt­fand: „Ölwei­her 18, 20, 22 und 24 (die Baracken); Turmweg 24 (Bergheim) und Aalener Str. 1 (Gasthaus Ochsen). Der Zuzug, vor allen aus Thürin­gen, hörte aber nicht auf und ging bis Ende der 50er Jahre in mehre­ren Wellen weiter.

Heidi Proehl (heute USA) schil­dert ihre Erlebnisse

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Heidi’s Freun­din Angeli­ka (überlas­sen von Heidi Pröhl)

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Formu­lar Heidi Pröhl (überlas­sen von Heidi Pröhl)

Von 1947 bis 1953 – 6 lange kalte Jahre haben wir in den Baracken in der Nähe von Carl Zeiss gewohnt. Unsere Anschrift laute­te „Am Ölwei­her 5“. Man sah auf die heuti­ge Straße, den dahin­ter­lie­gen­den Kocher und die Leitz’sche Insel. Wir Kinder konnten nachmit­tags wegen des Arbeits­lär­mes, der von der Insel herüber­klang kaum schla­fen. Ich glaube mich zu erinnern, dass die Baracken in die wir einzie­hen mussten angeb­lich für Solda­ten gebaut wurden bis wir Flücht­lin­ge gezwun­gen wurden dort einzu­zie­hen (sicher bin ich mir da aber nicht). Die Gemein­de wollte in der Brunnen­hal­de Wohnun­gen für uns bauen aber das dauert viel zu lange. In der Rückschau scheint es mir heute dass wir wie der letzte Dreck behan­delt wurden. Mutti war immer wütend, weil die anderen Geld zum Leben bekamen und wir für jeden Pfennig schuf­ten mussten. Vielleicht lag es daran dass wir nicht als Flücht­lin­ge einge­stuft wurden. Mein Vater war 3 Jahre lang als Kriegs­ge­fan­ge­ner der Franzo­sen in Marok­ko gefan­gen. Ich sah ihn dann erst in Oberko­chen wieder und war sehr eifer­süch­tig. Ich nannte ihn lange Onkel Vati und sagte ihm: „Geh weg, das ist meine Mutti“.

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Heidi’s Freun­din Angeli­ka (überlas­sen von Heidi Pröhl)

Die Familie Paul, die auch in den Baracken wohnte, übernahm die Babysit­ter­tä­tig­keit über meine Schwes­ter Hanne­lo­re und mich. Ich erinne­re mich auch noch an die Famili­en Rose, Blume, Plum und Nikels. Für mich war das so schwer in den Baracken zu wohnen. Wir wurden in Schmölln geboren und dort hatten wir richti­ge Häuser mit Treppen und großen Fenstern sowie herrli­chen Obstgär­ten. Hier in Oberko­chen war es einfach beschis­sen. Vor der Tür lagen Schla­cken, 3 Famili­en mussten sich die Plumps­klos teilen, die auf dem Gang waren. Beson­ders im Winter war das ein Drama, so blieb oft nur der Weg auf den Nacht­topf. Igitt. Wenn ich mich recht erinne­re lebten mit uns die Famili­en Glaess und Pantke. In einer Baracke gab es 3 Wohnun­gen mit je 2 Zimmern. Die Wände waren dünn und wo Menschen eng aufein­an­der wohnen gab es auch Streit und Schlä­ge. Wenn es zu laut wurde haben wir eben an die Wände geklopft. Die Kälte und immer wieder die Kälte machte mir zu schaf­fen. Mutti ging immer auf Kohlen­klau, ein Brikett pro Abend musste genügen. Alle hatten Häuser, nur wir mussten in diesen verdamm­ten Baracken wohnen (natür­lich war das nicht so aber ich empfand das damals so). Zum Baden musste auf einem kleinen Ofen das Wasser in Töpfen heiß gemacht werden und wurde dann in eine Wanne geschüt­tet. Dann haben nach und nach alle darin gebadet, die jüngs­te zuerst und Vati am Schluss. Sonst immer nur kaltes Wasser bei der morgend­li­chen Katzen­wä­sche ins Gesicht. Mutti sagte immer dass das gesund sei ☺. Die einzi­gen Blumen die wir hatten blühten im Winter am Fenster. 1953 packten wir unsere Habse­lig­kei­ten und machten uns auf die lange Reise über den Ozean und kamen am 14. Nov 1953 in New York an wo ein völlig anderes Leben begann. 2014 machte ich mich auf eine 7wöchige Reise in die Vergan­gen­heit nach Deutsch­land auf wo ich auch nach 64 Jahren meine ehema­li­ge Kinder­gar­ten­freun­din Angeli­ka Bachmann geb. Rupp in Mainz besuchte.

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Heidi vor den Baracken (überlas­sen von Heidi Pröhl)

Der Baracken-Mensch

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Blick vom Leitz auf die Baracken (Archiv Leitz)

Die FAZ erfand 1952 den „Homo baracki­en­sis“, der sich 1955 mit mehr als 250.000 Menschen in über 1.900 Lagern einge­rich­tet hatte. Auch Oberko­chen hatte Baracken um den Zustrom aus der „Zone“ irgend­wie bewäl­ti­gen zu können. Zu diesem Thema hat Dietrich Bantel schon einige Berich­te geschrie­ben und man findet 32 Einträ­ge zu diesem Stich­wort auf der Website des HVO. Eine gute Gelegen­heit diese alten Berich­te nochmals zu lesen. Carl Zeiss errich­te­te 1947/48 einige Baracken mit integrier­tem Kindergarten

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Kinder­gar­ten in den Baracken (überlas­sen von Werner Hilgart)

auf dem Werks­ge­län­de. Diese sollten nach Amtsblatt­un­ter­la­gen von 1955 geschlos­sen und abgebro­chen werden. Das wurde aber nichts, wie der Bericht von Uwe Lärz zeigt. Wann die Baracken letzt­end­lich abgebro­chen wurden ist unklar. Es wird berich­tet, das einige Bewoh­ner gar nicht auszie­hen wollten – vermut­lich wegen der billi­gen Miete.

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Isarta­ler Doppel­ba­ra­cke im Dreißen­tal (Archiv Rathaus)

Auch in meinem Wohnvier­tel gab es eine große Baracke: Die Isarta­ler Holzba­ra­cke im Dreißen­tal auf dem Grund der heuti­gen Hausnum­mern 77 bis 81. Die Baracke wurde 1955 abgeris­sen und ein Teil der Bewoh­ner zog in die neuen Häuser Nr. 6 — 12 im Staren­weg ein (Hermann, Peter­mi­chel, Donner, Hille­mey­er, Köhler, Motschen­bach, Schnee­milch, Parlow, Eberhard und Pöna). Grund­sätz­lich habe ich den Eindruck, dass die Kinder in den 50ern das Baracken­le­ben nichts so schlimm wie Heidi das in den 40ern empfand.

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spielen­de Kinder bei den Baracken (überlas­sen von Marion Stumpf, geb. Triemer)

Uwe Lärz, Sohn von Anni und Werner Lärz erzählt uns eine kleine Episo­de aus einer Baracke Am Ölweiher

1957 kam ich mit meinen Eltern mit dem Nacht­zug aus Jena nach Oberko­chen. Die blaue Notbe­leuch­tung vor den Schlaf­ka­bi­nen sehe ich heute noch vor mir. Nach ein paar Wochen, die wir in einem winzi­gen Dachzim­mer in der Garten­stra­ße 28 beim Maler­meis­ter Burkhardts­mai­er verbracht hatten, durften wir in eine der Zeiss-Baracken umzie­hen. Wir Zeissia­ner-Kinder hatten in meiner Erinne­rung in den Baracken eine schöne Zeit. Es ging fast zu wie in einer Großfa­mi­lie. Es gab viele Gemein­sam­kei­ten, die wichtigs­te war natür­lich die ständi­ge Lust auf echte Thürin­ger Rostbrat­würs­te und Rostbrätchen.

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Ohne Thürin­ger geht gar nix (vermut­lich 1956, Archiv Müller)

Mein Vater Werner ging eines Tages im Ort spazie­ren und lande­te dabei im Elektro­fach­ge­schäft Fritscher. Dort sahen seine staunen­den Augen die moder­nen techni­schen Wunder­wer­ke der damali­gen Zeit – in diesem Fall eine Musik­tru­he mit einem 10-Platten­wechs­ler. Hr. Fritscher sah wohl das Inter­es­se und überging die Beden­ken meines Vaters galant. Was man sich vielleicht jetzt nicht leisten könne, könnte man aber doch durch Raten­zah­lung trotz­dem anschaf­fen. Vater zöger­te immer noch und da holte Hr. Fritscher zum entschei­den­den Schlag aus – 14 Tage kosten­los zur Probe in unserer Baracken­woh­nung. Vater versuch­te dem Verkaufs­druck zu entge­hen, lehnte ab und suchte das Weite. Jeder Verkäu­fer hätte aufge­ge­ben, nicht aber Wilhelm Fritscher. Ein paar Tage später kamen zwei kräfti­ge Männer im Auftrag von Hr. Fritscher und stell­ten das verspro­che­ne Probe­ge­rät auf. Mutter ließ sich völlig überfah­ren, Vater war nicht zuhau­se und wir hatten plötz­lich Musik in der Wohnung. Kosten­los dazu gab es EINE Platte von Catha­ri­na Valen­te. Die Platte lief von nun an ständig, das Gerät wurde nie mehr abgeholt, die Kosten wurden abgestot­tert und Wilhelm Fritscher war wieder einmal erfolg­reich. Eines Tages brüll­te jemand mitten in der Nacht: „Feuer! Alles muss raus! Es brennt!“ Aus dem Schlaf geris­sen rannten wir in den Schlaf­an­zü­gen in den Flur. Die Hühner­lei­ter zur Dachlu­ke brann­te bereits lichter­loh. Meine Eltern konnten gerade noch das Nötigs­te ins Freie retten. Aus siche­rem Abstand mussten wir zusehen wie unsere Baracke nieder­brann­te. Ich war damals 6 Jahre alt und faszi­niert vom Feuer und völlig angst­frei sagte ich laut: „Hoffent­lich ist unser Gold nicht verbrannt“. Natür­lich machte das sofort die Runde dass die Lärzens eine Menge Gold ihr Eigen nannten. Meine Mutter hatte danach lange Zeit viel Mühe allen zu erklä­ren, dass wir nicht reich waren, sondern Klein-Uwe das Porzel­lan­ge­schirr mit dem Goldrand gemeint hatte. Später kam heraus, dass der Brand dadurch entstand weil die Glühbir­ne am Dachbo­den, der zum Wäsche­trock­nen benutzt wurde, defekt war und jemand eine Kerze benutz­te, die er beim Verlas­sen des Dachbo­dens zu löschen vergaß. Ich erinne­re mich auch noch an zwei Menschen die bei mir richtig Eindruck hinter­lie­ßen. Das war zum einen der Hr. Ferner. Der hatte ein Fernrohr durch das wir bei Dunkel­heit und klarem Himmel die Krater auf dem Mond und auch die Ameisen auf dem Rodstein­kreuz sehen konnten. Sehr beein­dru­ckend für uns Kinder. Zum anderen war da noch der BMW-Bruno. In einem Schup­pen direkt neben der Fa. Brunn­hu­ber gelegen schraub­te Bruno an seinem Motor­rad­ge­spann, einer BMW R69S herum. Wir Kinder waren von dieser in der Sonne glänzen­den Maschi­ne höchst beein­druckt und genos­sen es wenn wir mal auf den Sitz durften. Diese Zeit endete eines Tages. Die Dorfge­mein­schaft im Baracken­la­ger zerbrach als alle eine schöne neue kleine Wohnung bekamen und ab sofort waren Karrie­re, Wohnung und Auto wichtig. Merke: Der Zusam­men­halt ist dann am Größten wenn es den Menschen materi­ell schlecht geht.

Aus alten Amtsblatt­aus­ga­ben ab 1953

Anfang der 50er wurde gebaut was das Zeug hält, beson­ders in den Gebie­ten Brunnen­hal­de und Zeppe­lin­stra­ße (Veste Coburg), Dreißental‑, Sonnen­berg- und Weingar­ten- und Panor­ma­stra­ße sowie im Staren­weg. Und trotz­dem reich­te es hinten und vorne nicht. Es darf auch nicht unerwähnt bleiben dass es unter der Bevöl­ke­rung tw. unter­ein­an­der rumor­te, was das Verhält­nis zwischen Umsied­lern (die oft lange Zeit in den Baracken wohnten) zu den Häusles­bau­ern (oft Heimat­ver­trie­be­ne die rasch Fuß fassten) und anderen vom Schick­sal stark gepräg­ten Einwoh­nern betraf. Aber mitun­ter ließ auch die Zahlungs­mo­ral einiger Baracken­be­woh­ner den Mietzins betref­fend zu wünschen übrig. Hinzu kommt, dass neben 240 wohnungs­su­chen­den Famili­en zusätz­lich illega­le (also nicht gemel­de­te wie es die Ordnung verlangt hätte) Zuwan­de­rer aus der Ostzo­ne die Wohnungs­not verschärf­ten. Beispiels­wei­se erklär­te das Wohnungs­amt, dass „25 Partei­en von unzumut­ba­ren Mietern dem Vermie­ter nicht zugemu­tet werden können“ weil sie ihren Mietzins nicht entrich­ten können sowie „39 Obdach­lo­se, die von auswärts zugezo­gen sind ohne eine Wohnung zu haben“. Hierbei handel­te es sich überwie­gend um Sowjet­zo­nen­flücht­lin­ge. In einem Bericht fand ich eine Auflis­tung von 30 Gruppen, die wohnungs­bau­po­li­tisch beson­ders zu berück­sich­ti­gen seien. Hier eine Auswahl davon: “Kriegs­sach­be­schä­dig­te, Heimat­ver­trie­be­ne, Evaku­ier­te, Fernpend­ler, Dauer­ar­beits­lo­se, ältere Angestell­te, Sowjet­zo­nen­flücht­lin­ge, sozial Schwa­che, kinder­rei­che Famili­en, Kriegs­heim­keh­rer, TBC-Kranke, Baracken- und Bunker­be­woh­ner, Land- und Forst­ar­bei­ter, Bahn- und Postbe­schäf­tig­te, Klein­sied­lun­gen und bäuer­li­che Siedlun­gen usw. usf. Man hatte gedacht aus der größten Wohnungs­not heraus zu sein, aber der Wirtschafts­boom verschärf­te die Situa­ti­on nochmals. Zur Verdeut­li­chung der Proble­me ein Origi­nal­text der Rathaus­ver­wal­tung vom Sommer 1956: „Alle sehen und spüren es wie sich in den letzten Monaten viele Menschen hier nieder­ge­las­sen haben. Ohne mit einer Wohnung versorgt werden zu können, einfach auf gut Glück. Viele Vermie­ter haben ihre Häuser vom Keller bis zur Bühne mit Menschen vollge­stopft, um mit dieser Ausnüt­zung ihrer weiter­hin mit Steuer­mit­teln des Staates finan­zier­ten Wohnun­gen so viel als möglich zu verdie­nen. Die Bürger­schaft macht sich kaum eine Vorstel­lung davon in welch unerträg­li­cher Weise…..der angewach­se­ne Überdruck auf dem Rathaus nieder­schlägt……“ Dazu eine kurze Übersicht über das Bevöl­ke­rungs­wachs­tum: „1939 — 2.002 EW; 1945 — 2.600 EW; 1948 — 3.192 EW; 1950 — 3.681 EW; 1952 — 4.332 EW; 1954 — 5.273 EW, 1956 — 6.248 EW und 1959 — 7.435 EW“. Ergän­zend Arbeit­ge­ber und ihre Arbeit­neh­mer: 1956 — Leitz Gebr. 293; Bäuerle 758; Grupp 420; Zeiss 4.381; Schmid 102; Oppold 98; Leitz Fritz 125; Kaltwalz­werk 113; Günther & Schramm 40.

Esther Englert, Schwie­ger­toch­ter von Hugo Englert sen. berichtet

Die Englerts waren Bielit­zer (Schle­si­en), wie so viele die in Oberko­chen nach dem Krieg gestran­det sind. Hugo Englert sen. ist wohl im Herbst 1945 nach der Flucht über Öster­reich nach Oberko­chen gekom­men. In Bielitz arbei­te­te er bei der Fa. Josef­fi, die Geschäfts­be­zie­hun­gen zu der Fa. Bäuerle unter­hielt. Deshalb sind viele Bielit­zer nach Oberko­chen gekom­men und fanden auch beim „Bäuerle“ Arbeit. Hugo sen. fand Unter­kunft bei der Familie Schau­der oder Schmau­der. Seine Frau mit den 3 Kindern ist auf der Flucht in Leipzig gestran­det und vermut­lich fanden sie im Frühjahr 1946 in Oberko­chen zusam­men. Gegen­über dem heuti­gen „Mannes-Haus“ im Kapel­len­weg standen einige Baracken in die sie wohl durch die Gemein­de­ver­wal­tung einge­wie­sen wurden. Hugo Englert sen. war wohl ein optimis­ti­scher anpacken­der Mensch mit Zielen und Visio­nen. Sonst hätte er nicht folgen­den Satz zu seiner Familie gesagt: „So Kinder, und hier ziehen wir erst wieder aus, wenn wir ins eigene Haus ziehen.“ Manche Zeitge­nos­sen hielten ihn für größen­wahn­sin­nig. In einer Zeit als es am Nötigs­ten fehlte eine solche Aussa­ge zu treffen. Aber, wie das Leben so spielt, es sollte sich tatsäch­lich bald bewahr­hei­ten. Die Oberkoch­ner Firmen Bäuerle, Grupp und Leitz sowie Zeiss waren Bauträ­ger einiger Doppel­häu­ser. Das Doppel­haus Nr. 3 und 5 im Rosen­weg wurde an die Famili­en Wilhelm Rühle und Hugo Englert verge­ben. Finan­ziert wurde vermut­lich mit Lakra-Geldern (Landes­kre­dit­an­stalt). Aufla­ge war jedoch, dass eine der beiden Wohnun­gen an eine Flücht­lings­fa­mi­lie verge­ben werden musste. Der Lehrer Menzl bewohn­te die Wohnung bei Englerts im 1. Stock während die Familie Mannes im EG wohnte. Sehr beengt, aber doch im Eigenen, wie es Hugo vollmün­dig angekün­digt hatte. Unterm Dach befan­den sich noch 2 Mansar­den­zim­mer die zuerst an das Ehepaar Urban­ke und dann an das Ehepaar Kukula vermie­tet wurde. Kein Platz blieb unver­mie­tet. Anni Gentner, die ältes­te Tochter der Englerts, musste mit der Heirat so lange warten bis der Lehrer Menzl Anfang 1952 nach Kirchheim/Teck versetzt wurde um dort eine Rekto­ren­stel­le anzutre­ten. (Zur Jahres­zahl gibt es unter­schied­li­che Reaktio­nen da er danach noch in der Weingar­ten­str. 54 gelebt haben soll. Somit ist das Datum des Wegzugs nicht gesichert). Aller­dings mussten viele Anträ­ge gestellt und Verhand­lun­gen geführt werden, bis sie einzie­hen konnte. Im Herbst 1953 war es dann soweit dass Hugo jun. aus Mühlacker nachzog und wir 1954 heira­ten konnten. Auch wir mussten beengt in einem Zimmer wohnen bis Kukulas auszo­gen. Dann hatten wir die beiden Dachman­sar­den für uns. WC war vorhan­den, Wasser­an­schluss auf der Bühne und das Bad wurde mit den Gentners im 1. OG geteilt. Die Familie wuchs, die Zimmer auch, aber der Raum nicht. Mit dem 3. Kind wurde eine Zwischen­wand gezogen und so wohnten wir zu fünft nach dem Motto „Raum ist in der kleins­ten Hütte“. Aber es musste sich etwas ändern, für mich aber unvor­stell­bar wie wir zu einem Haus kommen sollten. Da wurde die Idee des „Steine­ma­chens“ geboren: Es wurden Hohlblock­stei­ne aus Split und Schla­cke herge­stellt. 5 Männer (Hugo sen. und jun., Willie Gentner, Heinz Englert und Hans Krön) betrie­ben die Stein­pro­duk­ti­on. Es war eine schwe­re Arbeit. Für die Nachbar­schaft war es eine Zumutung, denn die Schla­cke, die mit LKW eintraf, verur­sach­te regel­mä­ßig eine große Staub­wol­ke. Aber man war tolerant zuein­an­der. Im Herbst 1960 konnten wir endlich im Adalbert-Stifter-Weg 20 einzie­hen. Die Wohnungs­si­tua­ti­on in Oberko­chen war schwie­rig und so wurde auch unser Haus sehr stark bewohnt. Auch wir mussten Lakra-Gelder in Anspruch nehmen und eine Wohnung für Flücht­lin­ge zur Verfü­gung stellen, das war die Familie Cziol­lek mit 2 Kindern. Im UG wurde eine Miniwoh­nung an ein Ehepaar vermie­tet. Unter dem Dach wohnte Hr. Töppel. Dann hatten wir noch in einem Zimmer die 3‑köpfige Familie Reichelt mit Sohn, die aus der DDR geflüch­tet waren. Erst Jahre später leerte sich das Haus, die Kinder wurden größer und der Wohnkom­fort wurde besser. Es waren schwe­re aber erfüll­te Jahre mit 4 Kindern die uns 12 Enkel­kin­der schenk­ten. Mein Mann ist schon seit länge­rem verstor­ben und ich denke heute, dass die schwe­re Zeit der 50er, 60er und 70 Jahre eine gute Lebens­schu­le waren.

Als ausschla­ge­bend für das gigan­ti­sche Wachs­tum Oberkochens

wurde seiner­zeit in einem Aufsatz von Dr. Hans Schmid die Kette von Ursache und Wirkung bezeich­net, die ausging von den leerste­hen­den Hallen des Fabri­kan­ten Fritz Leitz, dem Zuzug der Firma Carl Zeiss und ihrer geflüch­te­ten Stamm­be­leg­schaft von 82 Mitar­bei­tern, der Entste­hung der Sowjet­zo­ne, dem Mauer­bau und des Zustroms von Menschen aus allen Himmels­rich­tun­gen. Der Mensch wird immer dort hinge­hen wo es Arbeit und Brot, Frieden und Wohlstand, Sicher­heit für die Familie und Bildung für die Kinder zu geben scheint. Mit allen Proble­men die daraus entstan­den sind kann das Oberko­che­ner Projekt als gelun­gen bezeich­net werden. Natür­lich wären wir noch erfolg­rei­cher gewesen, wenn die Topogra­phie uns nicht einengen würde, aber so hat auch das ganze Umland profi­tiert und Oberko­chen, zudem am Rande des Landkrei­ses gelegen, muss schau­en wie es heute zurecht­kommt. Bei alledem bestand immer die Angst, und das schon Mitte der 50er (!), dass bei einer Wieder­ver­ei­ni­gung Carl Zeiss den Stand­ort verlas­sen würde und Oberko­chen mit seinem ganzen Wohnungs­bau­pro­gramm in eine Katastro­phe stürzt. Wir sehen heute, dass es gut gegan­gen ist und Carl Zeiss einen Weg gefun­den hat um alle Betei­lig­ten am wirtschaft­li­chen Erfolg teilha­ben zu lassen. Dafür sei auch einmal von nicht offizi­el­ler Stelle Dank gesagt, beson­ders Hr. Prof. Dr. Micha­el Kasch­ke und Dr. Jürgen Brock­sch, die diesen Bericht mit Bild und Text unter­stützt haben. Auch mit ihren Bürger­meis­tern, die nach dem Krieg in Oberko­chen das Sagen hatten (Rudolf Eber, Gustav Bosch, Harald Gentsch und Peter Traub), hat die Stadt Glück gehabt und es wurden überwie­gend (aber nicht immer) die richti­gen wohnungs­po­li­ti­schen Weichen gestellt. Aller­dings ist es langsam an der Zeit die topogra­phi­schen Gegeben­hei­ten zu akzep­tie­ren. Der weite­re Bau von hier 20 und dort 30 Häuschen wird die Proble­me nicht lösen aber die letzten freien Flächen unwie­der­bring­lich zerstö­ren. Das Ziel kann nur heißen den vorhan­de­nen Bestand zu moder­ni­sie­ren und optimieren.

Bürger­meis­ter Bosch und der damali­ge Gemeinderat

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BM Gustav Bosch und sein neuer Gemein­de­rat (1956, Archiv Rathaus)

Es waren immense Aufga­ben die vom BM und seinem Rat damals gestemmt wurden. Man kann sich das heute nicht mehr vorstel­len in welch kurzer Zeit Geld beschafft und bewegt werden musste um in einer umtrie­bi­gen Zeit den Menschen Wohnraum zur Verfü­gung zu stellen. Am 18.10.1953 stand eine Bürger­meis­ter­wahl an. Was beim Sichten der Unter­la­gen auffällt ist, dass von vielen Seiten (z.B. Heimat­ver­trie­be­ne, TVO, Weingar­ten- und Diöze­san­sied­lung, den Partei­en usw.) inseriert wurde doch den alten BM Gustav Bosch für weite­re 8 Jahre zu wählen, weil er die Dinge einfach mit der ihm eigenen Art richte­te und man spürt förmlich die Dankbar­keit der verschie­de­nen Gruppen wenn man die Insera­te zur BM-Wahl liest.

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Aufruf zur Bürger­meis­ter­wahl 1953

Aus alten Unter­la­gen der Firma Carl Zeiss

Der Krieg war vorbei, die Amis waren bis nach Thürin­gen gekom­men, mussten dieses Bundes­land aber aufgrund der Verträ­ge von Jalta wieder verlas­sen und den Russen überlas­sen. Eine Äußerung eines mitfüh­len­den Oberko­che­ner Altbür­gers, die sich aller­dings nicht nachwei­sen lässt, laute­te: „Kein Wunder, dass der Russe nach Thürin­gen und der Ami nach Oberko­chen gekom­men ist – die Thürin­ger sind ja evange­lisch“. Rasch verlu­den die Amis 86 oder 126 (da gibt es unter­schied­li­che Quellen) Wissen­schaft­ler, Konstruk­teu­re, Techni­ker und Kfm. Führungs­kräf­te mit ihren Famili­en auf LKWs und fuhren von Jena nach Heiden­heim. Zeich­nun­gen, Paten­te, Lizen­zen u.a.m. wurden schon vorher von den Amis in den Westen gebracht. Wenige Tage später wurde Jena von den Russen besetzt und es begann die Geschich­te zweier Zeiss-Werke, die erst wieder nach der Wende eine Wendung nahm. Die Jenen­ser wurden in Heiden­heim und Umgebung verteilt und hausten dort notdürf­tig und primi­tiv auf engstem Raum. Fast 10 Monate vergin­gen bis die Arbeits­ge­neh­mi­gung und die Erlaub­nis zum Aufbau einer neuen Ferti­gung in Oberko­chen in den alten Fritz-Leitz-Fabrik­ge­bäu­den erteilt wurde und 200 Beschäf­ti­ge legten los wie die Feuer­wehr. Die Umsät­ze stiegen und stiegen, die Zahl der Arbeits­kräf­te nahm rapide zu, die Bevöl­ke­rungs­zahl nahm ebenfalls rasant zu und es kamen immer mehr Menschen um hier zu arbei­ten. Bei den Umsied­lern wurde schon der Hit von Conny Froboess aus dem Jahr 1951 umgetex­tet: „Pack die Badeho­se ein, fahr auch Du nach Heiden­heim usw.“ Wer kennt noch den komplet­ten Text? Bitte melden! 1953 betrug die Beleg­schaft 2.300 Menschen die sich wie folgt zusam­men­setz­te: „25 % Jenen­ser; 33 % Einhei­mi­sche und 42 % Flücht­lin­ge“. Einige der wichtigs­ten Proble­me waren der Trans­port und das Wohnen der Beschäf­tig­ten. Das Trans­port­pro­blem wurde in Zusam­men­ar­beit mit „Beck & Schubert“ und das Wohnungs­pro­blem in Zusam­men­ar­beit mit der Gemein­de angegan­gen und gelöst. Auch wenn es sehr schwie­ri­ge Jahre waren, die ins Land gingen. Die ersten Notun­ter­künf­te (Baracken) wurden 1947 für die ersten Jena-Flücht­lin­gen errich­tet. 1948 wurde die CZ-Wohnungs­bau GmbH gegrün­det. Deren Leiter war einige Jahre lang Dr. H. Thümm­ler über den noch in einem beson­de­ren Abschnitt zu berich­ten sein wird. Bis 1951 ließ sie 400 werks­ei­ge­ne oder werks­ge­för­der­te Wohnun­gen errich­ten. Doch das genüg­te bei weitem nicht. In Zusam­men­ar­beit mit Gemein­de­rat und Verwal­tung mit Siedlungs­trä­gern und Archi­tek­ten wurde versucht „echten Städte­bau nach moderns­ten Erkennt­nis­sen zu betrei­ben“. Bis 1967 wurden so weite­re 2.717 Wohnun­gen erstellt. Wahrlich eine große Leistung die zeigt: „Wenn alle an einem Strang ziehen und etwas gemein­sam erschaf­fen wollen gelingt es auch.“ Daneben waren als Bauträ­ger die Kreis­bau Aalen, die Bauge­sell­schaft Heiden­heim, die Wohnungs­bau Aalen, das Diöze­san­werk und die CZ Wohnungs­bau­ge­sell­schaft tätig um dieses große Projekt zu stemmen. 1977 wurde die CZ Wohnungs­bau an das Siedlungs­werk Stutt­gart verkauft.

Der sozia­le Wohnungs­bau der Firma Carl Zeiss

kann auch heute, nach so vielen Jahren nicht hoch genug gewür­digt werden. Bereits 1946/47 arbei­te­ten Arbei­ter der Firma an Baupro­jek­ten, um die Werks­an­ge­hö­ri­gen aus den Baracken, Gasthäu­sern, Schulen und Massen­quar­tie­ren heraus­zu­ho­len. Da auch hier die Devise galt: „Ohne Moos nix los“ kam es in der kapital­ar­men Zeit auf Werks­dar­le­hen und bei Zeiss ganz beson­ders auf staat­li­che Förder­mit­tel an. 1953 gab es gravie­ren­de perso­nel­le Proble­me. 72 Fachar­bei­ter aus den Berei­chen Feinme­cha­nik und Optik hatten die Firma verlas­sen. Knapp 1/3 davon sind ausge­wan­dert (USA, Kanada, Austra­li­en, Schweiz). Das waren Anzei­chen die sehr ernst genom­men wurden, weil dies auch auf das Wohnpro­blem zurück­ge­führt wurde. Zudem konnten neue Fachkräf­te aus dem gleichen Grund nicht einge­stellt werden. Des Weite­ren gab es über 150 Pendler die täglich 60 km und mehr zurück­zu­le­gen hatte. (Wer an der Bahnli­nie Wasser­al­fin­gen-Heiden­heim wohnte, zählte nicht als Pendler). Das Bergheim, ein Wohnheim für Einzel­gän­ger und Jungge­sel­len, wurde 1954 für 12 Sowjet­zo­nen-Flücht­lings­fa­mi­li­en zweck­ent­frem­det. Zugleich musste eine Werks­ba­ra­cke geräumt werden. Und so wurde der Druck auf den Wohnungs­markt immer größer. 1955 gab es ein Baupro­jekt mit Namen „Baracken­be­sei­ti­gung“ das 25 Famili­en betraf. Zeiss inves­tier­te 400 Tsd. DM um die Holzba­ra­cken durch massi­ve Neubau­ten zu ersetzen.

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Carl Zeiss mit Baracken umgeben von Siedlun­gen (1957, Archiv Müller)

Die Perso­na­lie Dr. jur. Johan­nes Hermann Thümmler

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Dr. Thümm­ler (2. v.l.) mit Besuch aus Pakistan (1958, Amtsblatt)

Im Rahmen der Recher­chen bin ich auch auf Dr. Thümm­ler gesto­ßen und habe mich entschlos­sen diesen Teil aus dem Bericht nicht auszu­schlie­ßen: Er war langjäh­ri­ger Leiter der Carl Zeiss Wohnungs­bau­ge­sell­schaft, die in Oberko­chen viel Gutes bewirkt hat, leider mit dem falschen Mann an der Spitze. Immer wieder habe ich gehört und gelesen, dass extrem viele Juris­ten nach dem Krieg sofort oder nach einiger Zeit wieder zu Amt und Würden und Beschäf­ti­gung kamen ohne dass sie sich jemals für ihr Tun im 1000-jähri­gen Reich verant­wor­ten mussten. Dauer­te ja auch nur 12 Jahre und wurde daher oft eine Erinne­rungs­lü­cke in den Biogra­fien dieser Menschen. Wenn man so die Proto­kol­le des Frank­fur­ter Ausch­witz­pro­zes­ses zur Verneh­mung von Dr. Thümm­ler liest, stößt man ständig auf seine Standard­aus­sa­ge: „Da bin ich überfor­dert, das weiß ich nicht“. Da er hier in Oberko­chen gewirkt und in Aalen gewohnt hat möchte ich schon seine Biogra­fie (in Schwer­punk­ten) aus der Vor-Oberko­chen-Zeit zur Erinne­rung bringen: Die Details lassen sich auf Wikipe­dia und anderen Platt­for­men nachle­sen. Seine Geschich­te ist das klassi­sche Beispiel von Juris­ten die emsig in der NS-Zeit ihre Karrie­re voran­trie­ben und sich nachher nicht so recht erinnern konnten und man ihnen auch nichts nachwei­sen konnte. Wie lange er bei Zeiss arbei­te­te ist derzeit unklar. Jeden­falls begann er 1948 und 1964 war er dort noch immer beschäf­tigt. Wann er in den Ruhestand wechsel­te ist derzeit unklar.

„Geb. 23.08.1906 in Chemnitz als Sohn eines Verlags­buch­händ­lers / gest. 28.04.2002 in Eriskirch am Boden­see / 1932 Eintritt in die NSDAP / 1933 in die SA und 1937 in die SS / 1941 wurde er Chef der Gesta­po in Dresden und in Chemnitz / am 20.04.1943 erfolg­te die Ernen­nung zum Obersturm­bann­füh­rer / Ende 1943 übernahm er die Leitung der Gesta­po, der Sicher­heits­po­li­zei und den SD und mit einher­ge­hend das SS-Stand­ge­richt in Katto­witz / Das Stand­ge­richt tagte im Block 11 im Stamm­la­ger des KZ Ausch­witz / Ostern 1945 übernahm er die Sicher­heits­po­li­zei und damit auch die Gesta­po in Stutt­gart / danach franz. Kriegs­ge­fan­gen­schaft / ab 1946 Inter­nie­rungs­la­ger Ludwigs­burg wo er die Funkti­on des „Bürger­meis­ters“ inner­halb der Lager­selbst­ver­wal­tung innehat­te / 1948 im Rahmen der Entna­zi­fi­zie­rung als „Haupt­schul­di­ger“ einge­stuft und zu 2 ½ Jahren Arbeits­la­ger verur­teilt (Die Inter­nie­rung wurde angerech­net) / In der Berufungs­ver­hand­lung wurde er als „Belas­te­ter“ einge­stuft und mit 180 Tagen Arbeits­la­ger belegt und sofort entlas­sen / Oktober 1948 wurde er bei den Optischen Werken Zeiss in Oberko­chen einge­stellt und arbei­te­te sich auf der Karrie­re­lei­ter nach oben / am 2.11.1964 wurde er als Zeuge im Frank­fur­ter Ausschwitz-Prozess vernom­men (er bat bei der Verneh­mung darum, den damali­gen Arbeit­ge­ber — also Zeiss — nicht nennen zu müssen, dem wurde statt­ge­ge­ben) / 1970 lehnte das Landge­richt Ellwan­gen die Eröff­nung einer Haupt­ver­hand­lung gegen ihn ab / 1996 forder­te er Bilder von der Stadt Chemnitz zurück, die in städti­schen Museen gelangt waren / 1999 wurde ein Mordver­fah­ren gegen ihn wegen Mangel an Bewei­sen einge­stellt / 2002 verstarb er als unbeschol­te­ner Bürger“.

Das Mega-Baupro­jekt „Bühl-Guten­bach-Tierstein“

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Baupro­jekt­über­sicht (1957, Archiv Rathaus)

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Oberko­chen wird umgegra­ben (1956, Archiv Rathaus)

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Modell des Baupro­jek­tes (1956, Archiv Rathaus)

wurde das größte Baupro­jekt das Oberko­chen bis dahin gesehen hat. Wenn wir uns die Bilder und Texte aus dieser Zeit anschau­en kann man erken­nen welche gewal­ti­ge Leistung erbracht wurde und das in einer so kurzen Zeit – da können Entschei­der heute nur davon träumen.

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Walter-Bauers­feld-Str. (1957, Archiv Rathaus)

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Es geht voran (1958, Archiv Rathaus)

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Schil­ler­str. – heute Heinz-Küppen­ben­der-Str. (1958, Archiv Rathaus)

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Gerhard-Haupt­mann-Weg (1958, Archiv Rathaus)

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was man in kurzer Zeit bauen kann (1958, Archiv Rathaus)

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Blick auf das Ganze (1958, Archiv Rathaus)

Die Notwen­dig­keit dieser Baumaß­nah­me wird verständ­lich wenn man sich vor Augen führt, dass sich die Einwoh­ner­schaft zwischen 1946 und 1954 von 2.950 auf 5.500 fast verdop­pelt hat. Für dieses Gebiet wurden ca. 800 Wohnun­gen mit einer 2–3jährigen Bauzeit plane­risch und bausei­tig in Angriff genommen.

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Muster­haus Horgen (1957, Archiv Rathaus)

Als Muster­sied­lung diente den Archi­tek­ten eine Genos­sen­schafts­sied­lung in der Speer- und Stroh­wies­stras­se in Horgen am Zürich­see, wie ich durch Recher­che heraus­fand. Der Leiter der GIS-Fachstel­le (GeoIn­for­ma­ti­ons­Sys­tem) Hans Erdin schick­te mir ein paar Bilder aus denen deutlich zu sehen ist, dass Teile von Horgen städte­bau­lich fast so ausse­hen wie unsere Guten­bach­sied­lung. Ich finde das äußerst erstaun­lich. Man hat sich dort wohl schlau gemacht, da in Horgen in den 50ern auch viele genos­sen­schaft­lich finan­zier­te Wohnun­gen gebaut wurden und die Anfor­de­run­gen wohl sehr ähnlich gelagert waren.

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Horgen Speer­stra­ße (Ortsbild­ar­chiv Horgen Hans Erdin 1952)

Unser wohnbau­li­ches Vorbild Horgen CH

Horgen ist eine Stadt mit einer Fläche von über 2.000 ha und 20.000 EW sowie über 800 Arbeits­stät­ten mit rund 9.000 Arbeits­plät­zen und sage und schrei­be über 150 Verei­nen. Die geschicht­li­che Entwick­lung reicht zurück bis in die Zeit der Pfahl­bau­ten 3100 v. Chr. Die erste urkund­li­che Erwäh­nung stammt aus dem Jahr 952. Später lag Horgen auf der Nord-Süd-Handels­rou­te zwischen Itali­en und Deutsch­land. Zwischen 1600 und 1900 entwi­ckel­te sich ein wichti­ges indus­tri­el­les Zentrum im Bereich Wolle, Leinen, Baumwol­le und Textil­ma­schi­nen. Diese Entwick­lung führte zu Wachs­tum und Wohlstand. Bei meinem Besuch im Juli 2016 in Horgen, bei dem mir Hans Erdin „seine“ Stadt zeigte erfuhr ich auch dass Adolf Hitler hier 1923 Geld für seine Pläne einsam­mel­te und in Horgen auf dem „Landgut Bocken“ empfan­gen wurde, denn auch in der Schweiz gab es seiner­zeit einige Sympa­thi­san­ten in der Haute­vo­lee. Das Landgut gehör­te seiner­zeit dem berühm­ten Seiden­fa­bri­kan­ten Schwar­zen­bach. Äußerst inter­es­sant fand ich welchen Stellen­wert das Ortsbild­ar­chiv in Horgen findet. Das Bildar­chiv wurde ab 1950 analog aufge­baut und von Hans Erdin ab 2008 digita­li­siert und in einer Daten­bank instal­liert und umfasst heute über 30.000 Bilder. Chapeau kann ich da nur sagen. Das müsste in Oberko­chen doch auch mal eine Überle­gung wert sein um Geld und Manpower zu aktivieren.

Der Wohnungs­bau der Firma Gebr. Leitz

Natür­lich muss ich als ehema­li­ger Mitar­bei­ter auch das damali­ge Engage­ment meiner Firma, der heuti­gen Leitz GmbH & Co KG, lobend erwäh­nen. Zwischen 1951 und 1963 wurden 5 Häuser mit insge­samt 33 Wohnun­gen errich­tet, um ihren Mitar­bei­tern ein Wohnan­ge­bot machen zu können. (1951: 6‑Familienhaus Guten­bach; 1957: 4‑Familienhaus Heiden­hei­mer Str., 1958: 14-Famili­en­haus Heiden­hei­mer Str., 1963: 5‑Familienhaus Jenaer­str., der Umbau des 4‑Familienhauses Aalener Str. (heute Flücht­lings­un­ter­kunft) sowie die Häuser in der Sperber­str. und Först­erstr. Gemes­sen an der Mitar­bei­ter­zahl war das ohne Zweifel eine große Leistung in wirtschaft­lich guten Jahren.

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Heiden­hei­mer Str. 88 (1958, Archiv Leitz)

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Haus am Guten­bach (Archiv Leitz)

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Heiden­hei­mer Str. 86 (1957, Archiv Leitz)

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Aalener Str. 45 (Archiv Leitz)

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Jenaer Str. 35 (1962÷63, Archiv Leitz)

Die Weingar­ten­sied­lung

Die Siedlun­gen in der Panora­ma- und Weingar­ten­str. wurden 1952 / 1953 erstellt und die Bewoh­ner dankten es indem sie zur geschlos­se­nen Wahl von BM Gustav Bosch im folgen­den Jahr aufrie­fen. Die Finan­zie­rung der Grund­stü­cke und der Erschlie­ßung der Weingar­ten- und Brunnen­hal­de­sied­lung erfolg­te durch Vorschüs­se der Indus­trie auf später zu leisten­de Arbeit­ge­ber­dar­le­hen. Ende 1952 zogen hier 15 Famili­en mit 65 Perso­nen aus Schles­wig-Holstein (Flens­bur­ger Raum) gebür­tig aus Pommern, Danzig, Schle­si­en, Sudeten­land im Rahmen einer Umsied­lung ein. Sie mussten aber auch lernen, dass nicht alle Wünsche sofort reali­sier­bar waren. Diese Umsied­lung beruh­te auf einem Gesetz des Bundes, der veran­lass­te, dass 100.000 Vertrie­be­ne bis Jahres­en­de aus den Notquar­tie­ren verteilt werden mussten: 24.000 Bad-Wrttbg, 2.000 Bremen, 6.000 Hamburg, 2.000 Hessen, 64.000 N‑Westf. und 2.000 Rheinl.-Pf. Damals wurde nicht viel disku­tiert – es wurde entschie­den und umgesetzt. Das Richt­fest fand 1952 im Beisein von allen Honora­tio­ren statt. Die Pfarrer Siedler und Hager sowie Franz Brunn­hu­ber der Jünge­re, Willi­bald Mannes der Ältere, Ortsbau­meis­ter Weber, BM Gustav Bosch sowie Hans-Hubert Bewers­dorff sprachen die notwen­di­gen Worte, musika­lisch vom Chor der Volks­schu­le unter Leitung von Lehrer Zweig beglei­tet mit dem Lied „Brüder reicht die Hände zum Bunde“. Abschlie­ßend ging es zum Richt­schmaus in den „Ochsen“.

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Weingar­ten­sied­lung Richt­fest (1952, Archiv Rathaus)

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Weingar­ten­sied­lung (1955, Archiv Rathaus)

Die Veste Coburg

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Veste Coburg Brunnen­hal­de- / Zeppe­lin­weg (1956, Archiv Rathaus)

1952 wurde die Zweig­nie­der­las­sung Coburg geschlos­sen und viele der Mitar­bei­te­rIn­nen kamen nach Oberko­chen und fanden anfangs im Bereich Zeppe­lin- und Brunnen­hal­de­stra­ße ihr Zuhau­se. Sport­li­che Bezie­hun­gen nach Coburg über den SKO Sport­ke­gel­club hielten die Verbin­dung zu den Wurzeln aufrecht. An den Reisen des SKO nach Coburg zu Freund­schafts­kämp­fen nahm ich als junger Spieler auch teil und lernte dort die beson­de­ren Bratwürs­te der Stadt kennen und zu schätzen.

Das Zeiss-Ledigen­heim im Turmweg 24

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Ledigen­heim im Turmweg 24 (Amtsblatt)

Mitte Juli 1952 wurde das Bergheim zum Heim für allein­ste­hen­de männli­che (das konnten auch Stroh­wit­wer sein) Mitar­bei­ter von Zeiss Opton umgebaut. Im Zeitungs­be­richt vom 4.9.1952 wird von „Freund­li­chen Schlaf- und Aufent­halts­räu­men, die jede Bequem­lich­keit bieten“ gespro­chen. Es wurde damals von 22 Insas­sen (!) im Alter zwischen 20 und 47 Jahren bewohnt. Das Klima wurde als gut beschrie­ben was nicht selbst­ver­ständ­lich war bei einer lands­mann­schaft­li­chen Zusam­men­set­zung aus Berlin, Ostpreu­ßen, Pommern, Schle­si­en, Sudeten­land, Jena, Hanno­ver und Flens­burg. Die Unter­kunft hatte einen indivi­du­el­len Charak­ter und hob sich von Kaser­nie­rung deutlich ab. Eine elektr. Küche stand zur Verfü­gung. Nur mit Putzen klapp­te es nicht – da wurde die fachmän­ni­sche Hand der Frau benötigt. Das ganze stand selbst­re­dend unter weibli­cher Leitung.

Die Diöze­san­sied­lung in der Panoramastraße

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Gebiet Weingar­ten- / Panora­ma­stra­ße (1953, Archiv Rathaus)

Im Juli 1953 wurde die Feier­li­che Einwei­hung von 24 Wohnun­gen durch Bischof Dr. Leiprecht vorge­nom­men. Natür­lich waren wieder alle VIPs vor Ort: Pfarrer Hager, BM Bosch, Landrat Dr. Huber, Archi­tekt Wacker, Ortsbau­meis­ter Weber usw. usf. Dem bischöf­li­chen Segen folgte ein donnern­des „Großer Gott wir loben Dich“ und die Siedler­fa­mi­li­en konnten nun gottge­fäl­lig und beruhigt im neuen Heim wohnen. Wenn schon der Bischof in Oberko­chen weilte hat man auch gleich 220 junge Leute aus Oberko­chen, Zang, Ochsen­berg, Itzel­berg und Königs­bronn gefirmt.

Hedwig Golm schil­dert ihre Erlebnisse

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Sonnen­berg­str. 2 und 4 (überlas­sen von Ingrid Müller geb. Schrader)

Im Septem­ber 1953 verließ ich mit meiner 7jährigen Tochter auf Einla­dung meiner Schwes­ter die DDR. Sie war bereits 1948 über die „grüne Grenze“ geflo­hen. Sie hatte in Aalen ein unmöblier­tes Zimmer bekom­men und sich dort einge­rich­tet. Natür­lich konnten wir nicht bei ihr bleiben. Vorüber­ge­hend bekam ich vom Vermie­ter in der Diele ein Bett aufge­stellt. Ein möblier­tes Zimmer für mich hätte ich bekom­men können, aber mit einer 7jährigen Tochter war das sehr schwie­rig. Bei Carl Zeiss in Oberko­chen bekam ich sofort eine Arbeit als Steno­ty­pis­tin (wer kennt denn heute noch dieses Berufs­bild), aber eine Wohnung zu finden – das war auch in Oberko­chen äußerst schwie­rig. Zeiss hatte eine Art Wohnungs­ver­mitt­lung und tatsäch­lich konnte ich eine Mansar­de in der Sonnen­berg­str. 4 ergat­tern (das war der 2te Wohnblock auf der rechten Seite, der vor Jahren neuen schmu­cken Eigen­tums­woh­nun­gen Platz machen musste). Es gelang mir noch 2 weite­re zu je 10 DM hinzu zu mieten. Die andere Seite des Ganges, die zum Wäsche­trock­nen benutzt wurde, war durch Stake­ten abgetrennt. Das absolu­te Highlight war aber eine Toilet­te mit Wasch­be­cken – Komfort pur. Die Mansar­den hatten nur Dachlu­ken, aber das war eben mal so und wohnlich habe ich es mir trotz­dem einge­rich­tet. Die erste als Küche, die zweite wurde mit 2 Betten und Nacht­schränk­chen ausge­stat­tet und die dritte hatte Platz für einen Kleider­schrank und eine Kommo­de. Etwas eng wurde es als mein Mann aus dem Berli­ner Aufnah­me­la­ger „Marien­fel­de“ zu uns kam. So musste meine Tochter in ein kleines altes Bett hinter dem Kleider­schrank unter der Dachschrä­ge einzie­hen. Wir waren froh dass wir überhaupt unter­ge­kom­men waren aber für unsere Tochter war es schwer, denn sie konnte nicht mal eine Schul­freun­din mit nach Haus bringen. Meine Schwes­ter erstand dann über die Heimstät­ten­ge­nos­sen­schaft ein Grund­stück im Pelzwa­sen in Aalen und so ging es dann jeden Tag nach der Arbeit auf die Baustel­le um in Eigen­leis­tung ein Häuschen zu bauen. Eine harte schwe­re Zeit. Aber man die Arbeit auf sich genom­men nach dem Motto: „Wenn man mal angefan­gen hat geht’s.“ 1956 zogen wir dann in eine 3‑Zim­mer-Wohnung in diesem Haus ein. Oberko­chen verlie­ßen wir nur sehr unger­ne und als sich die Gelegen­heit bot zogen wir 1957/58 wieder zurück und zwar in die Walter-Bauers­feld-Str. 51 – den „Grießer-Block“. Und so bin ich Oberko­chen bis heute treu geblieben.

Sozia­le Spannungen

Natür­lich war Oberko­chen ein sozia­les Spannungs­feld. Hier traf Neu- auf Altbür­ger, die indus­tri­el­le auf die bäuer­li­che Welt, Männlein auf Weiblein, Reig’schmeckte auf Altein­ge­ses­se­ne, der zur Miete wohnen­de Umsied­ler mit Baracken­bio­gra­fie traf auf den vermie­ten­den Flücht­ling der rasch zu Eigen­tum gekom­men waren, evange­li­sche auf die katho­li­schen – will sagen: Es brodel­te mitun­ter recht heftig im Schmelz­tie­gel Oberko­chen. Tw. sah sich die Stadt­ver­wal­tung genötigt im Amtsblatt eine drohen­de Haltung einzu­neh­men wenn sich die Streit­häh­ne nicht besin­nen würden.

Der junge Neubür­ger von der Stadt aufs Land

Nach dem Aufstand 1953 versuch­te die DDR-Führung die jungen Leute zwischen 18 und 22 Jahren, mit Lockan­ge­bo­ten in Richtung Sport, Abi und Studi­um, freiwil­lig zum Eintritt in die Natio­na­le Volks­ar­mee zu bewegen. Bei vielen zog das aber nicht und deren Eltern überre­de­ten tw. ihre Kinder trotz dieser Verlo­ckun­gen in den Westen zu gehen. (Geschieht heute nicht dassel­be in Syrien und Afrika? Eltern schicken ihre Kinder in die „besse­re“ Welt.) Hier angekom­men, mit einem kleinen Koffer voller Habse­lig­kei­ten und ein paar Kleider, lande­ten die meisten irgend­wo zusam­men­ge­pfercht zur Unter­mie­te. Das Badezim­mer wurde in eine Küche umfunk­tio­niert: Die Badewan­ne wurde mit einer großen Platte abgedeckt, eine Doppel­koch­plat­te drauf­ge­stellt und schon konnten Mahlzei­ten gekocht werden. Samstags wurde das Ganze abgebaut, denn der Hausherr und seine Herrin wollten das wöchent­li­che Bad im „Küchen­bad“ nehmen. Not machte eben schon immer erfin­de­risch. Das wichtigs­te für alle Neuan­kömm­lin­ge aber war Arbeit, Arbeit, Arbeit und Weiter­bil­dung. Das Leben koste­te Geld und vieles musste angeschafft werden. Die Wochen­ar­beits­zeit betrug 45 Std. und die Schicht­zei­ten wurden dem Zugfahr­plan angepasst. Der Stunden­lohn für manche betrug ca. 2 DM und das sonntäg­li­che Mittags­es­sen koste­te auch so viel. Ein großes Thema war die Freizeit und hier waren die Möglich­kei­ten im ländli­chen Oberko­chen äußerst begrenzt. Haupt­an­lauf­punk­te waren die Gasthäu­ser OCHSEN und HIRSCH. Im Hirsch gab es einen Saal in dem am Samstag Tanzver­an­stal­tun­gen statt­fan­den. Die Firma Zeiss kümmer­te sich nur gelegent­lich um die Jungen. Hier mal ein Wochen­en­de im Allgäu, dort mal eine Woche auf dem Flugplatz in Elchin­gen – aber nur für solche ohne Vereins­bin­dung. Dann gab es noch die Kinos in Oberko­chen (Filmthea­ter) und Aalen (Capitol, Central, Löwen und Union). Sonntags leiste­ten sich manche ein Essen in den Gasthäu­sern (Im HIRSCH gab es drei Gerich­te: Bratwurst für 1,30 DM, Roula­den für 1,80 DM und Schnit­zel für 2,20 DM). Mit der Eröff­nung des Jugend­wohn­hei­mes im Jahre 1957 (siehe auch Bericht 195) entspann­te sich die Lage zwischen den Jugend­li­chen in Oberko­chen. Der Heimlei­ter Riedel kümmer­te sich engagiert um seine „Zöglin­ge“, besorg­te Gelder bei der örtli­chen Indus­trie um seinen jungen Leuten etwas bieten zu können (Ausflü­ge – auch ins Ausland, Theater­be­su­che, Sport­ak­ti­vi­tä­ten u.ä.m.). Die Kontak­te zu den Mädchen waren nicht einfach, denn die neuen Jungs waren oft evange­lisch und die Mädchen katho­lisch und das ging ja in der Regel überhaupt nicht. Da musste die Liebe sicher manche elter­li­che Mauer überwin­den. Weihnach­ten ist für jeden der allei­ne lebt keine einfa­che Zeit. Das galt damals für die jungen Leute in ihren einfa­chen Behau­sun­gen auch. Anfangs konnten sie noch nach Hause fahren. Später, nach dem Inkraft­tre­ten des neuen Passge­set­zes 1954, war das nicht mehr möglich und so gingen manche eben am Hl. Abend in alle Messen beider Konfes­sio­nen um nicht allei­ne zuhau­se herum­sit­zen zu müssen.

Logier­fräu- und herrlein

In den 50ern wurde jeder QM freie Fläche vermie­tet. Ein möblier­tes Zimmer hatte ein Bett, einen Schrank, einen Tisch und einen Stuhl – mehr brauch­te es für einen Unter­mie­ter nicht. Kaltes fließen­des Wasser war schon fast Luxus – bei uns im Haus ging das ohne. Mehr als die morgend­li­che Katzen­wä­sche aus der Schüs­sel war da sicher nicht drin. Aber es ging damals um andere Dinge: Arbeits­stel­le, weiter­kom­men, Mann und Wohnung suchen, Familie gründen. Dazu war es wichtig, wenn man gar nieman­den kannte ein Zimmer als sog. Logier­fräu­lein oder Logier­herr zu bekom­men. Wir hatten beide Sorten, ich erinne­re mich aber lieber an die Damen, die Herren waren mitun­ter so mit Sorgen beladen, dass es für die häusli­che Atmosphä­re nicht immer gut war.

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Wilfried und Helga Rockstroh (Ostern 1957, Archiv Müller)

Eine ganz liebe war die Helga Rockstroh (später verhei­ra­te­te Bendler und wohnhaft in Aalen). Sie war groß, blond, hübsch, lebens­froh, laut und lustig. Die andere war die Chris­ta (?) Krause. Die hatte auf ihrem Zimmer eine manuel­le Schreib­ma­schi­ne, die ich tagsüber benut­zen konnte um die Textblö­cke aus den Übungs­hef­ten abzuschrei­ben. Das fand ich spannend und hatte damit schon als Kind den Grund­stock für die späte­re Winkle­ri­sche Schreib­ma­schi­nen­aus­bil­dung und den Werde­gang bei Leitz gelegt ☺ .

Nun hatte die Vermie­tung einen beson­de­ren Reiz. Herren­be­such war einfach verbo­ten und undenk­bar, nicht weil meine Eltern so streng waren – nein, sondern das Gesetz war es, nament­lich der § 180 StGB, im Volks­mund auch „Kuppel­pa­ra­graph“ genannt. Man hätte sich als Vermie­ter der Begüns­ti­gung zur Kuppe­lei straf­bar gemacht, wenn man Männlein und Weiblein allei­ne auf dem Zimmer gelas­sen hätte – da hätte ja weiß Gott was passie­ren können. Aus diesem Grund war ein Zusam­men­le­ben von unver­hei­ra­te­ten Paaren bis 1967 völlig unmög­lich. In dieser Zeit herrsch­te noch Zucht und Ordnung – jawolllllll. Aktuel­le politi­sche Strömun­gen finden diese Zeiten wieder erstre­bens­wert und wollen am Liebs­ten zurück in die Zukunft. Auch eine Verlo­bung hatte nicht genügt um in den Genuss eines ungestör­ten gemein­sa­men Aufent­hal­tes in einem kleinen Zimmer zu kommen. Und heute? Da sage ich nur: „Weit hemmer’s broacht. Durch die Gnade der späten Geburt konnte ich mich da später richtig ausleben“.

In diesem Zusam­men­hang macht es Sinn auf all die alten Berich­te über die Baracken und den Beginn von Carl Zeiss in Oberko­chen hinzu­wei­sen, die vieles noch ergän­zen: 7, 9, 16, 22, 31, 37, 273 + 276, 280, 311 — 317, 322, 332, 340, 396, 513 — 514, 584.

Nun sage ich allen, die an diesem Artikel mitge­wirkt haben ein HERZli­ches Vergelt’s Gott – auch meinem Sauna­kol­le­gen Konrad Vogt, dessen Erinne­run­gen hier auch mit einge­flos­sen sind sowie ein Danke­schön an Anne Bieg-Schray vom Schwä­po-Archiv. Wie immer liebe Grüße vom Sonnen­berg – Ihr Wilfried Wichai Billie Müller

Nachtrag zum Bericht 662

Nach dem Krieg – Ein Dorf platzt aus allen Nähten
Dieser Artikel wurde nach meiner Kennt­nis sehr gut angenom­men und nun ist es an der Zeit ein paar Unzuläng­lich­kei­ten auszu­bü­geln.
Diese lassen sich nicht immer vermei­den, da meine unter­stüt­zen­de Leser­schaft ja auch schon in die Jahre gekom­men ist und daher nicht jede Jahres­an­ga­be, die den eigenen Erinne­run­gen zugrun­de liegt, unbedingt hieb- und stich­fest ist.

Das Thema „Lehrer Menzl“ hat da zu einigen Reaktio­nen geführt. Ich gehe jetzt davon aus, dass die Angaben von Hubert Oberdor­fer wohl am ehesten korrekt sind und daher will ich diese gerne veröf­fent­li­chen. Allein der Spitz­na­me vom Lehrer Menzl ist schon saumä­ßig gut:

Hr. Oberdor­fer berich­tet, dass Lehrer Josef Menzl (Bakte­ri­en-Sepp) bis zu unserer Schul­ent­las­sung 1956 unser Klassen­leh­rer war. Man muss schon ehren­hal­ber sagen, dass er uns schwie­ri­gen Jahrgang (könnte es sein, dass dieser „schwie­ri­ge“ Jahrgang Geschich­ten genug zu erzäh­len hätte?) im ersten halben Jahr geformt hat. Nachdem der Weingar­ten bebaut war, wohnte er immer dort oben. Zu seinem Wegzug nach Kirch­heim / Teck, möchte ich noch sagen, dass unser Lehrer Josef Menzl, aus eigenem Antrieb versetzt werden wollte und das war um 1959/60 herum – will mich aber nicht genau festle­gen. Nach dem Wegzug übernahm Anton Menzl das Haus in dem seine Witwe bis zum heuti­gen Tag wohnt.

Zum anderen Thema „Baracken im Dreißen­tal“ konnte er ebenfalls erhel­len­de Angaben machen.
Es waren nicht 2, sondern 3 Baracken. Die dritte stand rechts der Zufahrt vom heuti­gen Staren­weg, also auf dem Grund­stück Haus Nr. 85 in dem 1959 folgen­de Perso­nen gemel­det waren:
Fischer, Fritz, Gold und Röschen­tha­ler. In der Baracke wohnten nach meiner Kennt­nis Kugele Adolf, Donhau­ser Jakob, u.a.

Wilfried „Billie Wichai“ Müller

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