Der „Unfried“ war natür­lich kein solcher, sondern ein Geschäft für die Kinder, für das Kind im Manne und in der Frau und natür­lich für die Erwach­se­nen. Für die Erwach­se­nen war es ein Geschäft zum Einkau­fen (Geld gegen Ware) um sich oder den Kindern zu Hause eine Freude zu berei­ten. Für die Kinder eine Art Paradies, wo es Spiel­sa­chen gab, die für viele von uns außer­halb der finan­zi­el­len Möglich­kei­ten waren. Aber man konnte ja das Paradies betre­ten ohne Kaufab­sich­ten zu hegen – nur um zu schau­en, damit die Wünsche zu Hause oder gegen­über Weihnachts­mann und Christ­kind korrekt und detail­liert kommu­ni­ziert werden konnten. Das Paradies ist vergan­gen, der Chef dessel­ben hieß und heißt heute noch Unfried (mit Vorna­men Karl), aber aufgrund seiner unver­ges­se­nen Art müsste er eigent­lich „Gutfried“ heißen, denn er war zwar sicher ein gewief­ter Geschäfts­mann, aber verstrahl­te eine Gutmü­tig­keit und eine fried­li­che Atmosphä­re im Kinder­pa­ra­dies und war zu jeder­mann freund­lich und zuvor­kom­mend – denn der Kunde war damals König (heute muss er öfters darauf hinwei­sen, dass das doch immer noch so zu sein hat). Seine Maxime war immer eine persön­li­che Verbin­dung inner­halb des Verkaufs­ge­sprä­ches aufzu­bau­en und freund­lich und sachkun­dig zu beraten. Seine Art, die man heute lange suchen muss, hat es sicher mit sich gebracht, dass er in der Bevöl­ke­rung bis heute ein gern Gesehe­ner ist.

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(Archiv Müller)

Wie es sich für ein Arbeits­le­ben gehört, wurde die Firma Unfried 65 Jahre alt – danach ging sie mit Mann und Maus in den Ruhestand und Oberko­chen verlor wieder ein Stück alter Seele.

1926 gründe­te Paul Unfried am 1. Januar in seinem elter­li­chen Haus, in der Katzen­bach­stra­ße 2 eine Buchbin­de­rei. Mutig, aber er verstand sein Geschäft und zog Aufträ­ge auch aus Aalen und Königs­bronn nach Oberko­chen. Nach 4 Jahren als Unter­neh­mer heira­te­te er die Schult­hei­ßen­toch­ter Marga­re­the Böhm aus Troch­tel­fin­gen. Im gleichen Jahr bezogen sie ihr neu gebau­tes Nest in der Heiden­hei­mer Straße 41 (dem frühe­ren Minder­schen Anwesen in der Langen Straße 176)

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(überlas­sen von Karl Unfried)

und führten ab diesem Zeitpunkt eine Buchbin­de­rei mit Einzel­han­dels­ge­schäft. 1933, einem prägen­den Jahr in ganz Deutsch­land, eröff­ne­te er die erste Droge­rie in Oberko­chen. Der Verwal­tungs­akt bestand aus der Geneh­mi­gung des Oberam­tes Aalen und einem Eintrag in die Stamm­rol­le der Reichs­schrift­tums­kam­mer. Paul Unfried war kein langes Leben beschie­den, er starb im März 1943 im Alter von 46 Jahren. Die Firma ging auf die Familie über und wurde von der Witwe und den Kindern Karl und Gerda unter dem Namen „Marga­re­the Unfried“ in einer fortge­setz­ten Güter­ge­mein­schaft weiter­ge­führt. Dann ging der Krieg zu Ende und das Geschäft konnte durch die Geneh­mi­gung der damali­gen Militär­re­gie­rung weiter­ge­führt werden.

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(überlas­sen von Karl Unfried)

1948 war Karl Unfried ein junger Mann mit 17 Jahren. Da gab es keine Zeit für Flausen, es musste eine Firma geführt werden. Er hatte eine Buchbin­der­leh­re und eine zusätz­li­che kaufmän­ni­sche Ausbil­dung und die Prüfun­gen hinter sich und begann nun die Firma als Geschäfts­füh­rer zu leiten. 1951 begann der erste Lehrling seine Ausbil­dung – seine Schwes­ter Gerda (verh. Pfeffer). 1958 heira­te­te Karl die Indus­trie­kauf­frau Rosl Sapper.

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Verkäu­fe­rin Brigit­te (überlas­sen von Karl Unfried)

1970 wurde ein weite­rer Lehrling einge­stellt, der sich als wahres Goldstück erwies. Karl Unfried erzählt heute noch gerne wie er Brigit­te Wieczo­rek (geb. Jerg) aus dem „Kies“ bei ihrer Arbeit geschätzt hat. Und er gab mir mit auf den Weg, das auch ja positiv zu erwäh­nen. Bei einem Vergleich mit meinem Lehrlings­ge­halt beim Leitz (1969) stelle ich fest: Die Brigit­te wurde gut bezahlt und mehr bekom­men als die IGM für die Indus­trie­kauf­leu­te ausge­han­delt hat. Respekt an den Lehrherrn.

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(überlas­sen von Karl Unfried)

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(Archiv Müller)

Brigit­te kenne ich jetzt auch schon seit 1970 und kann dem nur zustim­men. Sie ist eine treue und gute Seele. 1976 feier­te das Unter­neh­men sein 50jähriges Bestehen und die Geschäf­te gingen gut, denn die „Könige“ (also die Kunden) gingen dort gerne einkau­fen, denn man wurde dort fündig und bestens bedient. Leider verstarb in diesem Jahr die Mutter der Unfried-Kinder im 80ten Lebens­jahr. Eine weite­re Umstruk­tu­rie­rung folgte daraus: Karl und Gerda führten das Geschäft als „Geschwis­ter Unfried GmbH“ erfolg­reich weiter und hatte einen festen Stand in Oberko­chen, der schwä­bi­schen „Boomtown“ der 60er und 70er Jahre. Doch dann kam das Jahr 1991. Urplötz­lich musste die Firma liqui­diert werden, weil ein Gesell­schaf­ter seinen unver­züg­li­chen Ausstieg verlang­te und damit das Ende eines in der Bevöl­ke­rung belieb­ten Geschäf­tes einläu­te­te. Karl Unfried ist bis heute ein umtrie­bi­ger Mann und engagier­te sich vielfäl­tig so z.B. in der evange­li­schen Kirchen­ge­mein­de, in der CDU, im Gewer­be- und Handels­ver­ein und im Stadt­rat. Bis heute liebt er das Reisen auch wenn das mit über 80 sicher nicht mehr so leicht fällt (kein Konti­nent war vor ihm sicher).

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(überlas­sen von Karl Unfried)

Das waren jetzt die Fakten und nun kommen wir zu den persön­li­chen Erinne­run­gen, die mit diesem Geschäft für mich und meine Mitschü­le­rIn­nen bis heute verbun­den sind. Im Schau­fens­ter, das die gesam­te Hausfront mit einer Länge von 21 Meter beleg­te, wurden saison­be­dingt die herrlichs­ten Dinge ausge­stellt, die den Betrach­ter ins Innere locken sollten. Die Tür geht auf und ich sehe Karl Unfried in seinem grauen Arbeits­kit­tel (aber immer mit Krawat­te – bis heute) freund­lich in linken Bereich agieren. Dort befan­den sich die Steiff-Tiere, die Blech‑, Plastik- und Holzspiel­sa­chen, die Baukäs­ten, die Schild­kröt­pup­pen, die Ravens­bur­ger Spiele und für die Jungs der Höhepunkt:

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(Bilder: Archiv Bogena)

Die Autos von Match­box, Wiking und Corgy Toys (der schärfs­te Wagen war der James Bond Aston Martin DB 6 von 1966), die Modell­ei­sen­bah­nen von Märklin, Fleisch­mann und Trix, die Faller Modell­bau­häu­ser, die LEGO-Baukäs­ten und die Playmo­bil­fi­gu­ren und für die Großen die Graup­ner Modell­flug­zeu­ge und Schiffs­mo­del­le. Auf der rechten Seite das Reich der stets adrett geklei­de­ten Damen: Schul­be­darf und Papete­rie­ar­ti­kel, Puppen­wa­gen (ich glaube auch Kinder­wa­gen), Leder­wa­ren und die Buchhand­lung. Die Mädchen erinnern sich heute noch an die ersten Sprech­pup­pen. Man zog an einer Schnur und die blonde oder schwar­ze Schön­heit sprach: „Wann kommt Vati?“ oder „Kaufe mir ein neues Kleid“. Auch an Schlum­mer­le-Puppen erinnern sich die damali­gen Kinder heute noch. Und im Winter war im Schau­fens­ter eine beleuch­te­te Modell­ei­sen­bahn aufge­baut und wir drück­ten uns die Nasen platt um dieses Wunder­werk zu betrach­ten. Kurz gesagt: Ein Himmel auf Erden – auch wenn es manch­mal nur zum Anschau­en reich­te. Meine Lieblin­ge waren immer die LEGO-Baustei­ne sowie die Wiking- und die Match­box-Autos. Auch Autoquar­tett-Spiele haben es uns angetan. Wir konnten alle techni­schen Daten „rauf- und runter-beten“. Nie hätte ich gedacht, dass wir Müller-Buben selbst einmal eine Modell­ei­sen­bahn besit­zen würden.

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(Archiv Müller)

Unser Mieter Hermann Schim­mel, ein begna­de­ter Modell­bau­er, schenk­te sie uns einmal zu Weihnach­ten als er Platz brauch­te um seine Flug- und Schiffs­mo­del­le unter­zu­brin­gen. Nichts Schöne­res als eine beleuch­te­te Modell­ei­sen­bahn in der Dunkel­heit. In der Faschings­zeit nahmen die verschie­de­nen Verklei­dungs­uten­si­li­en einen großen Platz des linken Schau­fens­ter­teils ein, die Beleg­schaft kleide­te sich mitun­ter zeitgemäß

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(überlas­sen von Karl Unfried)

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(Archiv Müller)

und unsere Eltern kleide­ten sich dort ein um als Cowboy und Puszta-Mädl (Bild oben) beim Fasching in der GRUBE aufzu­tre­ten. Beliebt waren auch Zündblätt­chen für Spiel­zeug­pis­to­len, die von meinem Schul­freund Alfred Schlei­cher dahin­ge­hen kreativ verwen­det wurden, indem er die Blätt­chen im Schul­un­ter­richt neben sich auf den Boden legte um sie dann mit einem Zirkel, den er senkrecht fallen ließ, zur chemi­schen Reakti­on brachte.

Einfalls­reich und respekt­hei­schend. Tisch­feu­er­werk, Papier­schlan­gen und „Juden­für­ze“ (der Begriff sei nochmals erlaubt, damit jeder weiß worum es geht. Auch wenn es in Zeiten wie diesen nahezu verbo­ten ist, diese alten Begrif­fe zu verwen­den. Ganz zu schwei­gen von „Neger­küs­sen, Mohren­köp­fen und Zigeu­ner­schnit­zel“). In dieser Zeit war der Kauf von Cowboy-Artikeln höchst wichtig für mich, den als „Doc Holiday“ (ganz in Schwarz geklei­det) bedurf­te es eines Gürtels mit 2 Halftern, den dazuge­hö­ri­gen Pisto­len mit Muniti­on, eines schwar­zen Hutes und eines Marshalls­ter­nes. So ausge­stat­tet und mit einem aufge­mal­ten Oberlip­pen­bart konnte ich mich in der Dreißen­tal­hal­le sehen lassen. Daheim stell­te ich mich vor den Spiegel und zog meinen Colt. Und was soll ich sagen, ich war schnel­ler als mein Spiegel­bild . Als Gymna­si­ast kaufte ich mir einmal einen Trommel­re­vol­ver und weil ich oft Flausen im Kopf hatte bohrte ich den Lauf durch um die Attrak­ti­vi­tät zu erhöhen. Studi­en­rat Otto Krug, genannt „Botjug“ (gespro­chen Botschak), fand das hinge­gen gar nicht lustig und entwaff­ne­te Doc Holiday auf Lebens­zeit. Und was soll ich sagen, als ich Jahre später 1969 das Gymmi verließ, händig­te er mir die Spiel­zeug­waf­fe wieder aus. Unglaub­lich – ich hatte sie längst verges­sen. Zu Beginn der „Großen Ferien“ holte ich mit einem Gutschein (über 100 DM Schul­mit­tel­bei­hil­fe) sofort alle Schul­bü­cher, weil ich es spannend fand die neuen Bücher in den Ferien zu lesen, auch wenn ich mit dem darge­bo­te­nen Stoff später im Unter­richt mitun­ter Proble­me hatte. Aber ein neues Buch in der Hand zu halten – das hat für mich schon immer etwas Beson­de­res. Wenn ich heute an dem Geschäft vorbei­ge­he denke ich oft an früher und fühle: Da fehlt etwas. Aber vermut­lich fehlt es nur uns Alten, denn die Jungen würden das Geschäft wohl nicht mehr am Leben erhal­ten können. So ist es wie immer, die Zeit verän­dert die Gegen­wart und konser­viert die Erinne­run­gen – nur eines könnte auch heute noch gelin­gen – die Kunden so bedie­nen wie es Karl Unfried mit seinem Stil und seinem Respekt seinen Kunden gegen­über gelun­gen ist. Dieser Bericht wäre ohne die Unter­stüt­zung von Karl Unfried, Brigit­te Wieczo­rek, Reinhard Bogena, Chris­ti­ne Uhl und Bärbel Mannes so nicht entstan­den. Dafür Danke.

Wilfried Müller

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