Im Jahr 1993 feier­te der Evange­li­sche Kirchen­chor Oberko­chen sein sechzig­jäh­ri­ges Bestehen. Dieses Datum geht auf eine Eintra­gung im Proto­koll­buch des im Jahre 1906 gegrün­de­ten evange­li­schen Männer­ge­sangs­ver­eins »Frohsinn« zurück, die lautet:

»Zur Beurkun­dung!
Am 19. Oktober 1933 hat sich der Ev. Männer­chor »Frohsinn« in einen Evange­li­schen Kirchen­chor umgestellt.
Zur Beurkun­dung:
Vorstand: Wilhelm Baumgärt­ner
Ausschuß: Paul Kopp, Adolf Kolb, Chris­ti­an Kopp, Johan­nes Holz«

Warum dies, da doch, wie das Proto­koll­buch heute noch zeigt, der Verein sehr rührig und aktiv war? Die Antwort ist in der damali­gen politi­schen Landschaft zu suchen:
»Gleich­schal­tung«, so laute­te das Schlag­wort der 1933 an die Macht gekom­me­nen NSDAP. Die Aalener Kreis­lei­tung wollte in kleine­ren Orten nur einen Gesang­ver­ein wissen und stell­te die Verant­wort­li­chen des »Frohsinn« vor die Alter­na­ti­ve, sich entwe­der dem Schwä­bi­schen Sänger­bund einzu­glie­dern oder sich (wieder) in einen kirch­li­chen Chor zu verwandeln.

Die Männer des »Frohsinn« wählten den zweiten Weg, lösten den weltli­chen Verein auf, stifte­ten 50 Mark des Vereins­ver­mö­gens der Kirchen­ge­mein­de zur Erneue­rung der Kirchen­fens­ter und gründe­ten als Wieder­ge­burt den »Gemisch­ten evange­li­schen Kirchen­chor Oberkochen«.

Dies geschah vor nunmehr 60 Jahren. Doch gab es in der Zeit davor in der evange­li­schen Gemein­de keinen Kirchen­chor? Nachfor­schun­gen, die im Blick auf das Chorju­bi­lä­um erfolg­ten, ergaben Spuren frühe­rer Kirchen­chor­exis­ten­zen, die aller­dings wechsel­haf­te Schick­sa­le erfuhren.

Erster Kirchen­chor
Nicht Gesangs­kunst oder gelun­ge­ne Chorauf­füh­run­gen machen den ersten evange­li­schen Kirchen­chor akten­kun­dig, ein »Ärger­nis« war es, das ihn im Jahre 1883 in das Kirchen­con­vents­pro­to­koll brach­te. Dort steht mit Datum vom 11. März 1883:

»Pfarr­ge­mein­de­rat L. bringt vor, daß zum Ärger­nis der Gemein­de an Festta­gen die weibli­chen Glieder des Kirchen­chors sich nach Beendi­gung des Gesangs oben auf der Empore unter die jungen Leute männli­chen Geschlechts hinein­set­zen. Diesem Unfug soll ein Ende gemacht werden und die Mädchen künftig nach Beendi­gung des Gesangs an ihre gewöhn­li­chen Plätze gewie­sen werden«.

Ein Gründungs­da­tum für diesen Kirchen­chor ließ sich nicht ermit­teln. Doch sang er offen­sicht­lich regel­mä­ßig bei Gottes­diens­ten, auch auf dem Fried­hof, und es gab ihn vermut­lich schon länger, weil der Kirchen­ge­mein­de­rat seine Kritik sicher­lich erst nach etlichen Verstö­ßen gegen die guten Sitten vorge­bracht hat.

Somit existier­te unter dem damali­gen Pfarrer Brecht im Jahre 1883 ein gemisch­ter Kirchen­chor. Ob er schon in den Fünfzi­ger Jahren des vorigen Jahrhun­derts angenom­men werden darf, hängt von der Inter­pre­ta­ti­on einer Notiz vom 5. Apri11859 ab. Damals ging es um Zutei­lung der Kirchen­stüh­le, wobei »der Gesang­ver­ein seine Plätze auch ferner­hin auf der Orgel­em­po­re einneh­men solle«. Wenn unter »Gesang­ver­ein« ein Kirchen­chor zu verste­hen ist und nicht der damals schon vorhan­de­ne »Sänger­bund«, würde das Gründungs­da­tum für einen evange­li­schen Kirchen­chor noch etwas früher anzuset­zen sein.

Als Pfarrer Brecht im Jahre 1894 Oberko­chen verließ, fand im »Ochsen« eine Abschieds­fei­er statt, zu deren Gestal­tung »Herr Lehrer Schmid als unermüd­li­cher Dirigent des evange­li­schen Kirchen­chors und des »Sänger­bunds« viel beitrug«, so der Bericht der Aalener Kocher-Zeitung vom 26. Septem­ber 1894.

Geld für Kirchen­mu­sik war stets knapp. Um dem abzuhel­fen, beschloß der Kirchen­ge­mein­de­rat am 26. Juni 1895 »nach dem Wunsch des Kirchen­chor­lei­ters, die früher regel­mä­ßig durch­ge­führ­ten Sammlun­gen für die Kasse des Chors wieder aufzunehmen«.

Am 14. Novem­ber 1899 veran­stal­te­te die evange­li­sche Gemein­de eine Luther­fei­er, worüber auch die Kocher-Zeitung berichtete:

»Eine äußerst anregen­de Luther­fei­er, die am letzten Sonntag hier im Saal des Gasthau­ses z. Ochsen unter außer­or­dent­li­cher Betei­li­gung der evange­li­schen Gemein­de statt­fand, liegt hinter uns. Nach einem stimmungs­vol­len Vortrag des Kirchen­chors wurde das Charak­ter­bild Luthers vor Augen geführt … Auch die edle Musik kam durch wohlein­stu­dier­te Vorträ­ge des Kirchen­chors zu ihrem Recht«. Somit existier­te schon im vorigen Jahrhun­dert in Oberko­chen während der Amtszeit von Pfarrer Brecht und mit Lehrer Schmid als Chorlei­ter ein durch­aus leistungs­fä­hi­ger evange­li­scher Kirchenchor.

Zeitwei­se schei­nen auch auswär­ti­ge Lehrer die Chorlei­tung übernom­men zu haben. Im Novem­ber 1902 fand im »Ochsen« eine Gustav-Adolf-Feier der Kirchen­ge­mein­de statt, bei der nach der Anspra­che von Pfarrer Wider ein Gustav-Adolf-Festspiel zur Auffüh­rung kam, das »lebhaf­ten Beifall ernte­te. Zur Verschö­ne­rung der Feier trug auch der Kirchen­chor mit seinen stets willkom­me­nen Vorträ­gen unter Leitung des Unter­leh­rers Feil, Wasser­al­fin­gen, wesent­lich bei« (Kocher-Zeitung).

Nieder­gang
Vor 1900 war selbst­ver­ständ­lich der Lehrer einer Landge­mein­de zugleich Organist, Chorlei­ter und Mesner. Die alte württem­ber­gi­sche Ausbil­dung in den Lehrer­se­mi­na­ren trug dem Rechnung. Aber unter den Lehrern gab es musika­li­sche und weniger musik­be­flis­se­ne, kirch­lich geson­ne­ne und, obwohl die Schul­auf­sicht bei den Kirchen lag, auch solche, die kirch­li­chem Leben ferner standen. Nach Beginn des 20. Jahrhun­derts wurden die Ämter offizi­ell getrennt, aber dennoch erwar­tet, ein Lehrer könne Orgel­spiel und Chorlei­tung versehen.

Die evange­li­schen Lehrer Oberko­chens schei­nen in jener Zeit die Bindung an die Kirchen­ge­mein­de und ihre Aufga­ben recht locker gesehen zu haben. Am 20. April 1900 klagt Pfarrer Wider, er war 1894 durch den Aalener Dekan Knapp als Oberko­che­ner Pfarrer einge­setzt worden, daß »fortge­setz­tes, bis zur Kanzel vernehm­ba­res Schwat­zen ihn und auch die Gemein­de beläs­tigt« hätten. Zudem habe der Lehrer an der Orgel »von sich aus nicht das Gerings­te beigetra­gen, um den in seiner unmit­tel­ba­ren Nähe befind­li­chen jungen Leute gegebe­nen­falls das Handwerk zu legen, obwohl es ihn nichts als einen kurzen ernsten Blick kosten würde, oder die kleine Mühe, die Namen der Misse­tä­ter dem Pfarrer mitzuteilen«.

Und was erlaub­te sich die liebe Jugend nicht alles an »Ruhestö­run­gen und Unbot­mä­ßig­kei­ten«? Der Pfarrer nennt sie: »Schwat­zen, Geld zählen, Löcher bohren«, echte Oberko­che­ner »Tugen­den«, die aber am falschen Ort zu falscher Zeit natür­lich Ärger verur­sa­chen mußten, zumal der Lehrer auf »in Form einer Bitte an ihn gerich­te­tes Schrei­ben antwor­te­te, man solle von seiner Person als »Wächter der Jugend« Abstand nehmen«.

Das Desin­ter­es­se des Lehrers am kirch­li­chen Dienst färbte nach und nach auch auf den Kirchen­chor ab. Im Jahre 1903 ist im Proto­koll zu lesen: »Bezüg­lich der Gottes­diens­te beklagt der Vorsit­zen­de auch an dieser Stelle einmal das hin und wieder vorge­kom­me­ne Unter­blei­ben des Kirchen­chor­ge­sangs an Festta­gen. Der Kirchen­chor sollte mehr unter sich zusam­men­hal­ten und mehr Leben und Eifer zeigen, auch zum Erler­nen neuer Stücke sollte er sich viel mehr in den Dienst an der Gemein­de stellen. Anregun­gen, die früher vom Vorsit­zen­den gegeben wurden, waren leider erfolglos«.

Obwohl im Jahre 1907 das Gehalt des Kirchen­mu­si­kers von 100 Mark auf 200 Mark (jährlich) verdop­pelt wurde, kam 1908 das Aus für den gemisch­ten Kirchen­chor, der »trotz langjäh­ri­ger Bemühun­gen des Pfarrers nicht mehr zusam­men­zu­hal­ten war. Es habe zweifel­los auch am guten Willen und opfer­freu­di­gen kirch­li­chen Sinn bei Sängern und Gesangs­lei­tern gefehlt«.

Gründung eines Männer­kir­chen­chors
Aber Pfarrer Wider gab nicht klein bei, machte sich die Devise »Der Chor ist tot — es lebe der Chor« zu eigen und gründe­te 1908 wieder einen Chor, dieses Mal aber, »weil es ja tatsäch­lich an weibli­chen Gesangs­kräf­ten fehle«, einen »Männer­kir­chen­chor«.

»Da es an Musika­li­en für den neuge­grün­de­ten Männer­kir­chen­chor fehlt, beschließt der Kirchen­ge­mein­de­rat für densel­ben 136 vierstim­mi­ge Chorä­le von Silcher á 1,40 M. in 11 Exempla­ren zu bestel­len auf Rechnung der Kirchen­pfle­ge« und als Start­hil­fe für die »16 jungen Männer und ihren Dirigen­ten«, der aller­dings niemand anders war als der bishe­ri­ge Chorleiter.

Für die Gründung eines Männer­kir­chen­chors war wohl schon einige Zeit der Boden berei­tet. Dies geht aus einem Bericht der »Kocher-Zeitung« hervor, in dem es heißt: »Im Mai 1902 führte der »Evange­li­sche Männer­ver­ein« sein 4. Stiftungs­fest durch und hatte dazu in Erinne­rung an die gemein­sa­men refor­ma­to­ri­schen Wurzeln auch den Königs­bron­ner Bruder­ver­ein einge­la­den«. Außer den bei derar­ti­gen Veran­stal­tun­gen üblichen Reden, Toasten auf den König, selbi­ger bedank­te sich sogar dafür telegra­phisch!, Absin­gen des Bundes­lie­des, politi­schen Erörte­run­gen zu den Stich­wor­ten »Sozia­ler Frieden, zeitge­mä­ße Fortbil­dung, Pflege natio­na­len Ehrge­fühls« trat auch »der neuge­grün­de­te Singchor auf, der als Erstlings­ver­such das Frühlings­lied von Abt »Wenn der Lenz beginnt« nicht übel vortrug«.

Missklän­ge
Der Männer­kir­chen­chor war zunächst voll Eifer am Werk, bis zum Konfir­ma­ti­ons­tag des Jahres 1909. Pfarrer Wider hatte »aus gutem Grunde« (wie er meinte) angeord­net, die Kirche in diesem Jahr nicht zu schmü­cken, denn es sei »heuer kein Freuden­tag, sondern ein Bußtag«, so ließ er wissen. Er hatte sich nämlich dazu durch­ge­run­gen, zwei von insge­samt vier Konfir­man­den doch noch zu konfir­mie­ren, obwohl sie »mit dekanat­amt­li­cher Zustim­mung von der Konfir­ma­ti­on ausge­schlos­sen worden waren« (sie hatten ganz einfach den Unter­richt »sieben Wochen lang« geschwänzt).

Zwar hatte Pfarrer Wider diese Sachla­ge mit den beiden anderen Konfir­man­den bespro­chen und »sie waren einsich­tig genug«, um auf die festli­che Dekora­ti­on zu verzich­ten. Aber den Sängern des Männer­kir­chen­chors war diese Handlungs­wei­se unver­ständ­lich, sie protes­tier­ten lauthals, »versuch­ten gewalt­sam die Kirche zu bekrän­zen — ein Vorgang, der für die Andacht äußerst störend war«. Und nun ging es Schlag auf Schlag: »Der Gesangs­lei­ter Schul­leh­rer Beck löste den Chor ohne Zuzie­hung des geist­li­chen Vorstands auf« und gründe­te am selben Tag noch einen »weltli­chen evange­li­schen Männer­chor«, dem sie den Namen »Frohsinn« gaben.

Verständ­li­cher­wei­se war der Pfarrer über den »Frohsinn« nicht sehr begeis­tert, machte aber schließ­lich gute Miene zum bösen Spiel und übertrug dem neuen Chor und seinen alten Mitglie­dern das Singen bei den Beerdigungen.

Doch hatten sich die Gemüter damit noch nicht beruhigt. Im Gegen­teil, die Gemein­de spalte­te sich in zwei Lager, Lehrer Beck schür­te weiter gegen den Pfarrer, es kam sogar zu einer Unter­schrif­ten­ak­ti­on, die zur Ablösung des Pfarrers auffor­der­te. Dieser erklär­te jedoch »er wolle nicht vor dem Unver­stand und der Bosheit irrege­führ­ter Menschen zurück­wei­chen, zumal er sich keines Versäum­nis­ses in seiner Amtsfüh­rung bewußt sei, im Gegen­teil sagen könne, daß auch diese heillo­sen Unter­zeich­ner ihm auf irgend eine Weise Dank schul­den müßten, nicht aber Feind­schaft und Haß.

Über solch skanda­lö­ses, selbst bei den katho­li­schen Ortsbe­woh­nern ärger­nis­er­re­gen­des Vorge­hen würde er, Pfarrer, sich entrüs­ten können, wenn er nicht den Tiefstand der sämtli­chen Unter­zeich­ner und das Mitbe­tei­ligt­sein des verant­wort­li­chen Schul­leh­rers kennen würde, dessen Leistun­gen für das kirch­li­che und sittli­che religiö­se Leben der Gemein­de gleich Null seien, unter dem die Schul­ju­gend einer erschre­cken­den Autori­täts­lo­sig­keit, Unbot­mä­ßig­keit herzuwachse.«

Am Ende dieser Ausein­an­der­set­zun­gen, bei denen schließ­lich auch die staat­li­che Obrig­keit eingriff, wurde der Lehrer im Herbst 1910 von Oberko­chen weg strafversetzt.

Zweite Kirchen­chor­grün­dung
Nun war der Weg wieder frei: Am 6. Dezem­ber 1910 wurde auf Betrei­ben von Pfarrer Wider »der frühe­re gemisch­te Chor wieder­her­ge­stellt«, als dessen Mitglie­der acht Frauen und sieben Männer genannt werden. Seine Aufga­be war »die Pflege des kirch­li­chen Gesangs zur Verschö­ne­rung der Festgot­tes­diens­te durch wertvol­le Vorträ­ge und die Belebung und Stärkung des Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühls durch Gesangs­auf­füh­run­gen an Gemeindeabenden«.

Als Noten­ma­te­ri­al stell­te die Kirchen­ge­mein­de »15 Bände Abel’sche Lieder für gem. Chor, 18 Bände Festglo­cken, 22 Bände Chorge­sän­ge für den gottes­dienst­li­chen Gebrauch« zur Verfügung.

Volkmar Schrenk

Oberkochen

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