„Hüttlin­ger Kinder spiel­ten mit Oberko­che­ner Alaman­nen­schä­del“. So laute­te die Schlag­zei­le vom 20. März 1980 in der Aalener Volks­zei­tung. Nachste­hend die gesam­te Geschich­te von Dietrich Bantel:

Am 18. März 1980, einem Diens­tag, klingel­te im Zeichen­saal des Oberko­che­ner Gymna­si­ums, an dem ich Kunst­er­zie­her war, das Hauste­le­fon. Ein höchst selte­ner und deshalb bemer­kens­wer­ter Vorgang; es musste etwas ganz Außer­ge­wöhn­li­ches passiert sein. Am anderen Ende der Leitung melde­te sich die Chefse­kre­tä­rin, Frau Schlipf, und berich­te­te fast Unglaub­li­ches: „Der Oberko­che­ner Polizei­pos­ten war von der Hüttlin­ger Polizei verstän­digt worden, dass sich in einem aus Oberko­chen stammen­den Baugru­ben­aus­hub, der zum Auffül­len an eine Baustel­le der gleichen Firma nach Hüttlin­gen verbracht wurde, zahlrei­che Skelett­tei­le befin­den – man vermu­te, dass der Bagger in Oberko­chen mögli­cher­wei­se ein Massen­grab aus dem Dreißig­jäh­ri­gen Krieg angeschnit­ten habe, es könne sich aber durch­aus auch um die Spuren eines weiter oder nicht so weit zurück­lie­gen­den Verbre­chens handeln.“

Folgen­des hatte sich an diesem frühen Morgen schon ereig­net. Der Hüttlin­ger Polizei hatte eine ältere Dame schockiert gemel­det, dass sie beobach­tet habe, wie auf dem Schul­weg befind­li­che Jugend­li­che mit einem Toten­kopf Fußball gespielt hätten. Sie habe die Buben gefragt, wie sie zu dem Toten­kopf gekom­men seien, worauf­hin diese ihr erklär­ten, der sei von einem Lastwa­gen, der Dreck abgela­den habe, gefal­len. Auf diese Infor­ma­ti­on hin habe sie, die ältere Dame, die Hüttlin­ger Polizei verstän­digt, und diese habe an der Baustel­le gewar­tet, bis die nächs­te Ladung gleichen Inhalts angefah­ren wurde und den Fahrer gefragt, woher er denn komme mit seiner makabren Fracht.

Der Laster traf alsbald ein und der Fahrer sagte aus, dass er von einer Baustel­le in der schönen Frühlings­stra­ße in Oberko­chen komme. Dass er unter anderem Leichen von Oberko­chen nach Hüttlin­gen trans­por­tie­re, wisse er nicht. So habe die Hüttlin­ger Polizei alsbald die Oberko­che­ner Polizei von dem grausi­gen Fund infor­miert, fuhr Frau Schlipf fort, jeden­falls solle ich mich, so der Auftrag von Polizei und Stadt Oberko­chen, als ehren­amt­li­cher Mitar­bei­ter des Landes­denk­mal­amts und offizi­ell für derlei Überra­schun­gen zustän­dig, umgehend vor Ort begeben und nach dem Rechten schauen.

Diese exakt so ausführ­li­che Infor­ma­ti­on hatte ich also während meines Unter­richts in den Zeichen­saal erhal­ten. Da ich einige Reizwör­ter wie z.B. „Skelet­te“, „Leichen“, „Massen­mord“, „Toten­kopf“, „Fußball“, und „mit Toten­kopf Fußball gespielt“ bewusst laut wieder­holt hatte, war die Spannung in der Klasse enorm hoch geworden.

Nun wusste ich einer­seits von früher schon in Oberko­chen freige­leg­ten Gräbern, aus der Zeit der Alaman­nen, soweit ich mich erinner­te, anderer­seits hatte mir auch das Stich­wort „Dreißig­jäh­ri­ger Krieg“ einge­ge­ben, dass ich mich umgehend mit dem Chef der zustän­di­gen Denkmal­schutz­be­hör­de, Herrn Dr. Bernhard Hilde­brandt sen. vom Landrats­amt Aalen, in Verbin­dung setzte. Dann versorg­te ich meine Schul­klas­se mit genügend konstruk­ti­ver Arbeit mit der Aussicht auf einen spannen­den Leichenfundkrimi.

Bereits ½ Stunde später trafen Herr Dr. Hilde­brandt und ich an der Baugru­be in der Frühling­s­tra­ße zusam­men. Nach wenigen fachmän­ni­schen Unter­su­chun­gen stand für Dr. Hilde­brand aufgrund von Verfär­bun­gen in der Baugru­ben­wand fest, dass die Knochen, die zahlreich und fast etwas ekelig an verschie­de­nen Stellen aus den Baugru­ben­wän­den heraus­lug­ten, zu 1300 Jahre alten aleman­ni­schen Vorfah­ren der Oberko­che­ner gehören, und, dass wir uns mitten im nördli­chen Bereich eines stellen­wei­se bereits bekann­ten merowin­gi­schen Fried­hofs befanden.

Meinen Vorschlag, nach Hüttlin­gen zu fahren, um den bereits nach dort gebrach­ten Aushub zu sichten, fand Herr Dr. Hilde­brand hervor­ra­gend, und, nachdem die zustän­di­ge Stelle des Landes­denk­mal­amts, das seinen Sitz damals noch in Stutt­gart hatte, telefo­nisch verstän­digt, und weite­re Bagger­ar­bei­ten unter­sagt worden waren, fuhren wir – Schule hin und Schule her – nach Hüttlin­gen, wo wir zahllo­se Knochen, und vor allem aber auch ein aleman­ni­sches Kurzschwert, ein sogenann­tes „sax“, fanden. Damit war endgül­ti­ge Klarheit in die myste­riö­se Oberko­che­ner Massen­mord-Parole gekommen.

Der Korrekt­heit halber sei festge­hal­ten, dass die Aktion etwas länger als gedacht dauer­te, sodass die Schul­lei­tung die lehrer- und krimi­los geblie­be­ne Klasse nach Hause schickte.

An dieser Stelle muss ebenfalls vermerkt werden, dass einige Lastwa­gen­la­dun­gen des Baugru­ben­aus­hubs bereits zu Auffüll­ar­bei­ten im Rahmen der damals gerade durch­ge­führ­ten Erwei­te­rung des städti­schen Fried­hofs verwen­det worden waren – Klartext: Es müssen eine ganze Reihe von Altvor­de­ren ohne ihr Wissen vom bisher weitge­hend unbekann­ten mittel­al­ter­li­chen auf den neuen Oberko­che­ner Fried­hof umgebet­tet worden sein.

Am nächs­ten Morgen stell­te sich heraus, dass die Grabungs­stel­le, die zwar lose abgesperrt, aber nicht bewacht war, offen­sicht­lich von Grabräu­bern aufge­sucht worden war. Diese hatten in der Ecke zur „Kuss-Allee“ (Jahnstra­ße) ein wüstes Loch in die Wand eines Grabs gebud­delt. Was außer Knochen fehlte, war zunächst unklar. 3 Tage später erhielt ich jedoch den Anruf einer entsetz­ten Mutter, die selbst am Telefon noch kreide­weiß aussah, und mir mitteil­te, dass sie ihre zwei Buben und deren Freund bei mir vorbei­schi­cken werde, die mir Diebes­gut von der Ausgra­bungs­stel­le in der Frühlings­stra­ße ablie­fern würden: „Knochen, ein paar bunte Perlen und ein abgebro­che­nes Messer“. Ihre 2 Buben hätten die letzten Nächte wegen fürch­ter­li­cher Träume von Gespens­tern und Geistern immer schlech­ter geschla­fen und ihr, auf ihr Drängen hin, gestan­den, dass sie die zuhau­se wohlver­steck­ten Dinge samt der Knochen zu später Stunde am Abend des ersten Tags aus einem der Aleman­nen­grä­ber geklaut hätten. Die Knochen hätten sie in der Badewan­ne fein säuber­lich gewaschen und gebürs­tet, – und seither würden sie im Schlaf von diesen Knochen und klappern­den bleich­wei­ßen Skelet­ten verfolgt.

Bereits am nächs­ten Tag traf eine Grabungs­mann­schaft des Landes­denk­mal­amts in der Frühlings­stra­ße ein. Insge­samt unter­stand sie Dr. Ingo Stork, dessen Einsatz wir es verdan­ken, dass wir zwei vollstän­di­ge Gräber, ein männli­ches und ein weibli­ches, fürs das damals bereits im Aufbau befind­li­che Heimat­mu­se­um erhielten.

Den berühmt gewor­de­nen „Toten­kopf-Fußball“, der die Grabung ausge­löst hatte, holte ich wenige Tage später in einer Plastik­tü­te bei der Hüttlin­ger Polizei ab, die froh war, den Alt-Oberko­che­ner Toten­schä­del, den Kopf einer ca. 40-jähri­gen Frau, loszu­wer­den. Er ist beim LDA besitz­mä­ßig auf meinen Namen einge­tra­gen und stand deshalb lange Zeit in meinem Arbeits­raum, von wo ich ihn zur großen Erleich­te­rung meiner Frau irgend­wann ins Heimat­mu­se­um gab, sozusa­gen als Dauer­leih­ga­be. Meine Frau hat’s nämlich nicht so sehr mit Toten­schä­deln – obwohl Zahnarzt Dr. Gebert jr. festge­stellt hatte, dass die junge Dame zwecks Sand in Salat und Gemüse ein zwar flach­ge­malm­tes aber insge­samt hervor­ra­gend erhal­te­nes gummi­bä­ren-ungeschä­dig­tes Gebiss hatte.

Die Grabung, in deren Verlauf auf dem Grund­stück Stelzen­mül­ler (Hausnum­mer 3) über 90 Gräber freige­legt wurden, dauer­te, bis im Herbst der erste Schnee fiel. Dann wurde die Baustel­le wieder freige­ge­ben und Stelzen­mül­lers konnten sich wieder an die Arbeit machen, ihr Haus zu errichten.

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