Im Sommer 1918 erhielt mein Vater die vakan­te zweite defini­ti­ve Lehrer­stel­le in Oberko­chen. Schul­lei­ter war Oberleh­rer Karl Wörner, der 1927 in den Ruhestand trat und nach Ellwan­gen verzog. Damals befan­den sich im katho­li­schen Schul­haus zwei Lehrer­woh­nun­gen, vier Schul­lo­ka­le, ein sog. Unter­leh­rer­zim­mer und eine Behelfs­be­hau­sung für die Schul­keh­re­rin im Dachge­schoß. Die Wohnun­gen mit gemein­sa­mem Flur waren geräu­mig und schön, nur hatten die Archi­tek­ten beim Bau den Einbau der Toilet­ten verges­sen und sie nachträg­lich angehängt. So befan­den sie sich außer­halb der Glastü­ren und einen halben Stock tiefer. Die evange­li­schen Kinder wurden in einer Einklas­sen­schu­le von Oberleh­rer Günther unter­rich­tet (vergl.: V. Schrenk, Geschich­te Oberko­che­ner Schulen).

Der Markt­fle­cken hatte damals ca. 1 500 Einwoh­ner, von denen die meisten von einer kleinen Landwirt­schaft lebten. Mit Kühen und Ochsen­ge­span­nen bestell­ten sie ihre Feldar­beit. Pferde­bau­ern mit größe­ren Betrie­ben konnte man an einer Hand ablesen. Durch die bäuer­li­che Struk­tur waren beider­seits der Straßen Dungstät­ten angelegt, die heute verschwun­den sind. Sie besaßen den Vorteil, daß vor allem die Durch­gangs­stra­ße heute so schön und breit gestal­tet werden konnte. Viele der Klein­bau­ern arbei­te­ten im Winter in den Wäldern oder in den kleine­ren Indus­trie­be­trie­ben, die sich im Lauf der Jahre vergrößerten.

Wir Kinder schau­ten oft den Hafnern bei ihrer schwie­ri­gen Arbeit zu und staun­ten über die formge­ben­de Tätig­keit. Auf dem Bahnhof standen ihre Haras­sen, Latten­kis­ten mit vollge­pack­tem Tonge­schirr, zum Versand an die Zwischen­händ­ler bereit. Feinschme­cker behaup­te­ten, daß das Kraut aus einem Tontopf (Kraut­ha­fen) am besten mundet (vergl.: A. Mager, Hafner). Der Badeplatz der Jugend im Sommer befand sich am Wehr der Kreuz­müh­le (Besit­zer Elser). Durch die gerin­ge Entfer­nung vom Ursprung des Kochers war das Wasser verhält­nis­mä­ßig auch bei größter Hitze sehr kühl. Oberhalb des Wehrs und der vorüber­füh­ren­den Straße nach Aalen zum schie­nen­glei­chen Bahnüber­gang fingen einige Jungen mit bewun­derns­wer­ter Geschick­lich­keit während des Badens schöne Forel­len. Heute werden dort kaum welche mehr anzutref­fen sein. (Doch, es gibt sie noch, sogar sehr zahlreich. Zum Spaß fing man übrigens auch die sogenann­ten »Grubba­seggl« mit der bloßen Hand. D.B.)

Im Winter konnte man sich selten über mangeln­de Schnee­fül­le bekla­gen. Gelegent­lich war der Winter­sport an frühen Oster­fes­ten noch möglich. Zuerst übte man das Schifah­ren mit Faßdau­ben, an denen eine Behelfs­bin­dung angebracht wurde. Später erhiel­ten wir richti­ge Schier, mit denen wir die Wälder durch­streif­ten und an den Hängen um Oberko­chen unsere Künste ausüb­ten. An der letzten Kehre des Wegs zum Volkmars­berg vor dem Wald begann das Rodeln. Bei günsti­ger Schnee­la­ge konnte man das Dreißen­tal vor, über die Haupt­stra­ße hinweg, den Kocher errei­chen. Vorne auf dem Schlit­ten saß der Lenker mit Schlitt­schu­hen. Ich glaube, es war das Jahr 1933, als mein Schul­ka­me­rad Karl Lense bei der deutschen Meister­schaft im Schil­ang­lauf den ersten Platz errang. Ihm wurde zur Heimkehr ein präch­ti­ger Empfang berei­tet, an dem der ganze Ort teilnahm. Leider wurde Lense ein Opfer des letzten Krieges, nachdem ich ihn noch vorher am Bahnhof in Rastatt aus einem Front­zug zurufen und winken sah.

Oberkochen

Oberko­chen konnte auch gute Geräte­tur­ner wie Karl Wannen­wetsch, Ludwig Wunder­le und Schnei­der­meis­ter Fischer aufwei­sen. Die kleine Turnhal­le war damals das letzte Gebäu­de im Katzen­bach auf der linken Seite. Im Forst­haus, gegen­über dem alten Schul­haus, amtete Forst­meis­ter Martin. Mit seiner Pferde­kut­sche fuhr er fast jeden Tag hinaus in die weiten Wälder.

Sein Schwa­ger, General Freiherr von Luppin, wohnte in Schwä­bisch Gmünd und besuch­te öfters Oberko­chen. An vater­län­di­schen Feiern nahm er in seiner präch­ti­gen Parade­uni­form teil, die wir beson­ders bewun­der­ten. Eine Schwä­ge­rin des Forst­meis­ters malte Kinder­por­träts. Ich mußte mehre­re Tage bei ihr still­sit­zen, was mir schwerfiel.

Mit Musik­ka­pel­len und Fahnen beweg­te sich um 1922 ein Aufmarsch mit militä­ri­scher Ordnung zur feier­li­chen Einwei­hung des Linden­brun­nens in der Ortsmit­te. Der erheben­de Festakt ist mir heute noch im Gedächt­nis. Noch Anfang der 20er Jahre besuch­ten sich im Rahmen der Öschpro­zes­sio­nen Katho­li­ken von Unter- und Oberko­chen. Dabei begeg­ne­te man sich auf halbem Weg, wobei es unter den Buben nicht gerade fromm herging, denn sie hatten schon vorher ihre Taschen mit kleinen Steinen gefüllt, um sich gegen­sei­tig zu bewer­fen. Durch den wachsen­den Verkehr wurden die Bittgän­ge in dieser Form einge­stellt und nur noch in Ortsnä­he durchgeführt.

Bei allen weltli­chen und kirch­li­chen Feiern, die mit Umzügen verbun­den waren, marschier­te der Amtsbo­te und Polizei­die­ner Gold in militä­ri­scher Montur mit Säbel und Pickel­hau­be voraus. Er wohnte mit seiner Familie im Rathaus und hatte noch die Aufga­be, die Bekannt­ma­chun­gen des Ortes durch Ausschel­len den Einwoh­nern zu vermit­teln. Für uns war er eine Respekts­per­son und in der Gemein­de ein hochge­ach­te­ter Mann.

Jedes Jahr hielten der Kath. Kirchen­chor und der Albver­ein meist ihre Jahres­fei­ern in der Restau­ra­ti­on Winter, in der Bahnhof­stra­ße (Bahnhofs­re­stau­ra­ti­on), ab. Das Programm umfaß­te jeweils neben Liedern, Couplets ein Theater­stück. Bei einer solchen Feier des Kirchen­chors ereig­ne­te sich einmal eine ergötz­li­che Begeben­heit: Die Bühne im Saal war nur behelfs­mä­ßig mit Ständern und Dielen darüber aufge­baut. Durch das große Gewicht des Chores bei einem Liedvor­trag krach­te die Bühne zusam­men. Trotz­dem ließen sich Dirigent und Chor nicht aus der Ruhe bringen und sangen ihr Lied zu Ende. Ein großer Applaus belohn­te die Geistes­ge­gen­wart der Akteure.

Einen Sänger des Kirchen­chors möchte ich beson­ders erwäh­nen: Franz Grupp vom Katzen­bach. Sein schöner Bariton und seine urwüch­si­ge Komik rissen bei seinen Soloauf­füh­run­gen die Zuhörer vor allem bei Couplets zu Lachsal­ven hin. Bekannt ist mir bis heute sein Verslein: »I be dr schlaue Hansl, und heiße Gruppa Franzl, i be von Oberkocha, wo sieba Däg send en dr Woche.« Seine Familie war die kinder­reichs­te, und alle Söhne und Töchter haben sich im Leben bestens zurecht gefun­den. Nie gingen etliche alte Sänger ohne Schnupf­ta­bak­do­se aus dem Haus, und wenn sie sich zufäl­lig trafen, wurde vor dem Reden eine Prise der Dose entnom­men. Zu ihnen paßte ein nettes Couplet »Die drei Schnup­fer«, das bei einer Auffüh­rung großen Beifall ernte­te. Ein weite­rer Humorist, Josef Wingert (Stöpsel), erhei­ter­te später seine Zuhörer. Wenn er mit seinem steifen Bein auf der Bühne erschien und mit urkomi­schen Grimas­sen sang, ernte­te auch er riesi­gen Applaus.

Im Ort gab es weder eine Apothe­ke noch einen appro­bier­ten Arzt oder Dentis­ten. Für die beiden letzte­ren prakti­zier­te als Sonder­heit ein sog. Wundarzt auf dem allge­mei­nen Gebiet der Heilkun­de. Es war der Großva­ter des Fabri­kan­ten Ludwin Oppold. In der Jugend wurde er von einem Arzt angelernt und durfte seine Tätig­keit bis in sein hohes Alter ausfüh­ren (vergl.: E. Sussmann, das Gesund­heits­we­sen). Ich verdan­ke dem alten Herrn 1923 die Heilung von einer schwe­ren Diphthe­rie­er­kran­kung. Daneben pfleg­ten katho­li­sche Schwes­tern in aufop­fe­rungs­vol­ler Weise die Kranken im Ort.

Wer eine höhere Schule besuchen wollte, mußte nach Aalen ins Oberre­al­gym­na­si­um. Man konnte die Volks­schu­le nach dem dritten Schul­jahr verlas­sen und in die Vorklas­se des Gymna­si­ums überwech­seln. In der Parkschu­le wurden die Geschlech­ter getrennt unter­rich­tet. Schul­geld- und Lernmit­tel­frei­heit gab es nur in wenigen Ausnah­me­fäl­len. Die Zugver­bin­dun­gen nach Aalen waren vorzüg­lich auf die notwen­di­gen Schüler­fahr­ten abgestimmt.

1918 war die Paral­lel­stra­ße hinter dem heuti­gen Jäger­gäss­le das Dorfen­de. Im Anschluß daran wurde Anfang der 20er Jahre ein zweiter Röhrenstrang der Landes­was­ser­ver­sor­gung zum Stollen ins Wolfert­s­tal verlegt. Es waren riesi­ge Rohre, durch die wir als Kinder hindurch­schlüpf­ten, bevor sie einge­gra­ben wurden. Die Bebau­ung des hinte­ren Dreißen­tals begann nach 1920. Als erster baute Maurer­meis­ter Elmer dort sein Einfa­mi­li­en­haus. Bis auf den heuti­gen Tag erfolg­te laufend die Besied­lung der Hänge bis zum Wald und bereits bis hinüber zum Hang über der Kocher­quel­le. In Erinne­rung sind mir zwei Brüder Mangold, die bei der Eisen­bahn beschäf­tigt waren und sich auf billigs­te Art ein Doppel­haus erstell­ten. Über dem frühe­ren Café Gold befand sich im Gewann »Hitzeles Mand« ein Stein­bruch mit blauen Platten­kal­ken. Hier brachen sich die Häusles­bau­er die Steine und brach­ten sie zum nahen Baliplatz. Als Mörtel diente ihnen der nasse Kalkschlamm auf den Straßen. Für die Männer und ihre Frauen war dies ein hartes Stück Arbeit, die allge­mein bewun­dert wurde.

Ein herrli­ches Winter­er­leb­nis war für mich eine Eisvo­gel­schar, die sich am Kocher­ur­sprung nieder­ge­las­sen hatte. Ihre präch­ti­gen Gefie­der glänz­ten in dem weißen Schnee und in dem glaskla­ren Wasser.

In den Wäldern stößt man oft auf ehema­li­ge Kohlplat­ten, wo einst Holzkoh­le für die Verhüt­tung der Bohner­ze im Tal gewon­nen wurde. Dem Härts­feld zu gab es in meiner Jugend­zeit in den Wäldern noch Köhler, die wir Jungen öfters bei ihrer Arbeit beobach­te­ten (vergl.: D. Bantel, Köhle­rei­en auf Oberko­che­ner Gemar­kung). Einmal fuhr ich an einer Kohlplat­te mit den Schiern in eine Falle. Sie schlug über dem Vorder­teil eines Schis zusam­men, und ich blieb glück­lich unverletzt.

Ein Ereig­nis, das weit über Oberko­chen hinaus die Gemüter beweg­te, war der Mord an Förster Braun, der 1926 von einem Wilde­rer erschos­sen wurde, der im Königs­bron­ner Ortsteil Ochsen­berg behei­ma­tet war. Eine Beeren­samm­le­rin fand zufäl­lig den Toten im Gestrüpp. Der ruhige und allge­mein belieb­te Mann hinter­ließ eine Frau und zwei Söhne. Mit der Familie trauer­te auch die ganze Gemein­de. Im Ellwan­ger Landge­richt fand der Prozeß gegen den Mörder statt.

Oberkochen

Eine schwe­re Zeit für die Nicht­land­wir­te war die Infla­ti­ons­zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Herbst 1923. Etliche Famili­en verdank­ten bei der riesi­gen Lebens­mit­tel­knapp­heit guten Menschen Hilfe in der Not. Einem schlau­en Gast- und Landwirt, der neben Vieh auch ein Pferd besaß, passier­te folgen­de Geschich­te: Bei einer Schwarz­schlach­tung floß Blut aus seiner Scheu­ne, was der Polizei zu Ohren kam. Anläß­lich einer Verneh­mung an Ort und Stelle zeigte der Wirt am Kopf des Schwei­nes den Abdruck eines Hufei­sens und schil­der­te den Vorgang so, daß das losge­wor­de­ne Pferd in der Nacht mit einem Hufschlag das Schwein getötet hatte. Dabei vollzog der Wirt die Tötung mit einer Axt, an deren Kopfen­de ein Hufei­sen befes­tigt war.

Mein Vater besuch­te einen Schwa­ger im Schwarz­wald, der eine Landwirt­schaft betrieb und trat mit etlichen Kilo Butter im Rucksack die Heimrei­se an. Im letzten Zug von Stutt­gart nach Aalen erfuhr er, daß die Polizei auf dem Bahnhof in Aalen den Reisen­den alle gehams­ter­ten Lebens­mit­tel abnahm. So stieg spät in der Nacht der Vater in Essin­gen aus und wander­te über den Volkmars­berg­sat­tel heimwärts. Schweiß­ge­ba­det kam er gegen 2.00 Uhr morgens daheim an, nachdem wir uns um ihn große Sorgen gemacht hatten.

Nach Schul­schluß um 12.00 Uhr in Aalen mußte ich rasch jeden Tag einen Umweg über das dorti­ge Rathaus zum Bahnhof machen, um in der Zeit der galop­pie­ren­den Geldent­wer­tung nach dem »Multi­pli­ka­tor« zu schau­en, damit die Eltern wußten, was sie für die 14tägige Gehalts­zu­wei­sung noch kaufen konnten. In bester Erinne­rung ist mir heute noch, wie die Arbei­ter an einem Zahltag im Herbst 1923 ihre ersten Renten­mark­schei­ne betrach­te­ten und glück­lich waren, daß eine feste Währung für eine ordent­li­che Lebens­grund­la­ge nun wieder vorhan­den war. Damit verschwand auch das Notgeld, das die Städte in eigener Regie ausgaben.

Ebenfalls schlimm war auch die Zeit von 1929 bis 1933. Jeden Tag verlie­ßen ganze Pulks von arbeits­lo­sen Männern die Wander­ar­beits­häu­ser der Städte und verteil­ten sich auf das Land, um zu betteln.

Manch­mal läute­ten 20 bis 30 solcher Menschen an der Wohnungs­tür mit den Worten: »Ein armer Durch­rei­sen­der bittet um ein Almosen.«

In dieser Zeit zeigte sich in Oberko­chen die erste Tätig­keit der nazio­nal­so­zia­lis­ti­schen Partei, während mir links­extre­mis­ti­sche Aktivi­tä­ten unbekannt blieben. 1933 war meine Ausbil­dung als Lehrer beendet; aber keiner von uns Absol­ven­ten des Seminars erhielt zunächst eine Anstel­lung. Ich durfte keine Arbeit in der Fabrik Firma Leitz antre­ten; das Arbeits­amt Aalen sandte dafür einen Arbeits­lo­sen dahin. So blieb mir nichts anderes übrig, als unent­gelt­lich bei meinem Vater zu prakti­zie­ren. Erst im Herbst erhiel­ten wir eine monat­li­che Zuwen­dung von DM 45,—, die im folgen­den Jahr auf DM 55,— erhöht wurde. Nach 2 1/2 Jahren eröff­ne­te sich uns die Chance, eine regulä­re Anstel­lung zu erhal­ten. 1936/37 wurden die Konfes­si­ons­schu­len aufge­ho­ben, und die jungen Bürger der Gemein­de wuchsen enger zusam­men und ungute Hänse­lei­en unter ihnen hörten auf.

Wenn ich jetzt nach Oberko­chen komme, so kann ich nur staunen, was aus dem einst so ruhigen Markt­fle­cken gewor­den ist. Heute ist es eine Stadt voll pulsie­ren­den Lebens, das den Bewoh­nern alles bietet, was es an Notwen­dig­keit, Bequem­lich­keit, Erholung sowie an kultu­rel­len Bedürf­nis­sen benötigt. Vor allem freut es mich, daß die altein­ge­ses­se­nen Bewoh­ner noch den mir vertrau­ten Dialekt sprechen, und daß so viele ehema­li­gen Gebäu­de, Plätze und Straßen des ehema­li­gen Markt­fle­ckens erhal­ten geblie­ben sind. Beson­ders erwäh­nen muß man den großen Freizeit­wert in der herrli­chen Umgebung zwischen Albuch und Härts­feld, in der der Mensch nach des Tages Arbeit sich erholen kann.

Engel­bert Mager