Oberko­chen 1847

Betrach­ten wir die Ansicht des Dorfes Oberko­chen aus dem Jahre 1847, so ist es zunächst die zeitli­che Distanz, die uns beein­druckt. 140 Jahre, gewiß, und doch sind das gerade nur vier Generationen.

Versu­chen wir aber, uns das Leben so vorzu­stel­len, wie es 1847 war, so kommen wir zu einem Bild, das zeitlich viel weiter entrückt ist, dem Mittel­al­ter näher als unserer Gegen­wart. Denn noch immer trennen die gleichen unermeß­li­chen Distan­zen Oberko­chen von der Welt, wie, sagen wir einmal, zur Zeit der Staufer, weil sie immer noch mit den gleichen Mitteln überwun­den werden müssen: zu Fuß, mit Pferd und Wagen. Sicher ist es nur eine verschwin­den­de Minder­heit der Oberko­che­ner, die seiner­zeit je den Umkreis des Dorfes verlas­sen und eine einiger­ma­ßen gesicher­te Vorstel­lung von der Welt, von König und König­reich Württem­berg und Vater­land überhaupt gewin­nen konnten. Noch immer ist ihr Haupt­ge­schäft das, was es auch schon tausend und mehr Jahre zuvor war, die Landwirt­schaft. Sie ist 1847 noch nicht weit über mittel­al­ter­li­che Metho­den hinaus­ge­kom­men. Noch immer werden die Felder nach der Dreifel­der­wirt­schaft bestellt, bei der ein Drittel des Bodens ungenützt und brach liegen­blei­ben muß, damit er regene­rie­ren kann. Heute ein unvor­stell­ba­rer Gedan­ke. 1847 zahlten die Bauern immer noch den großen und den kleinen Zehnten. Und da gab es auch noch Spuren der altger­ma­ni­schen Allmen­de: Jedes Jahr im Febru­ar wurden die Hirten gedun­gen, die das Vieh auf die gemein­sa­men Weiden trieben, einer für Ochsen und Kühe, einer für die Rösser, einer für das »Schmal­vieh« und einer als Gäns- und Geißhirt.

Dies, zusam­men mit der Zerstü­cke­lung des Grundes, der ungüns­ti­gen klima­ti­schen Bedin­gun­gen und der lehmi­gen Schwe­re der Böden — gewöhn­lich mußten drei Pferde vor den Pflug gespannt werden — macht es durch­aus verständ­lich, daß es die Oberko­che­ner Bauern nur zu »mittle­rem Wohlstan­de« bringen konnten. Damit ist das sozia­le Gefäl­le erstaun­lich gering ausge­prägt. Natür­lich gab es auch die Ärmeren, die Taglöh­ner. Die versuch­ten sich und ihre meist recht zahlrei­che Nachkom­men­schaft mit aller­lei Aktivi­tä­ten, mit Beeren- und Salat­sam­meln und Latwer­gen­her­stel­lung über Wasser zu halten.

Wollte dies der unbekann­te Künst­ler darstel­len, wenn er im Vorder­grund seines Bildes die Geißen, die »Kuh des kleinen Mannes«, neben das präch­ti­ge Pferd stell­te? Die relativ gerin­gen sozia­len Unter­schie­de resul­tie­ren aber noch mehr aus einem ungewöhn­lich hohen Arbeits­platz­an­ge­bot. Bei einer Gesamt­be­völ­ke­rung von 1201 Einwoh­nern gab es 1847 nicht weniger als 60 Handwerks­meis­ter. Der hervor­ra­gen­de Töpfer­lehm am Zahnberg ermög­lich­te eine bedeu­ten­de Geschirr­pro­duk­ti­on, die auch ins Ausland expor­tiert wurde, nach Bayern und sogar nach Baden. Außer­dem beschäf­tig­te das Hütten­werk in Königs­bronn Oberko­che­ner Bergleu­te, Waldar­bei­ter und durch den hohen Holzkoh­le­be­darf auch viele Köhler. Selbst die Bauern konnten durch Spann­diens­te für das Hütten­werk dazu verdie­nen. Ganz klar: So sehr die Oberko­che­ner 1847 auch dem Alten verhaf­tet gewesen sein mögen — die große Geschich­te sparte sie nicht aus. Etwas von der großen geisti­gen, politi­schen und techni­schen Bewegung, die vom Wiener Kongreß zur Revolu­ti­on von 1848 und von der Postkut­sche zur Eisen­bahn führte, war 1847 auch in Oberko­chen zu spüren. Gerade durch die Kunde von der Eisen­bahn, von der man gehört hatte — da war doch der Oberko­che­ner Bergmann Georg Schuma­cher beim Eisen­bahn­bau in Kirch­heim verun­glückt —, die es also gab und die vielleicht eines Tages auch durch das Kocher­tal dampfen wird, setzte sich ein neuer Gedan­ke fest: Fortschritt.

Oberkochen

Zwei Männer möchte ich in diesem Zusam­men­hang beson­ders erwäh­nen. Die neuen Ideen von natio­na­ler Einheit und demokra­ti­scher Freiheit müssen bei dem Oberko­che­ner Pfarrer Carl Wilhelm Desal­ler auf beson­ders frucht­ba­ren Boden gefal­len sein. »Die Völker Deutsch­lands hoffen auf die Befrei­ung von ihrem Joche«, schrieb er in die Pfarr­chro­nik und apostro­phier­te sich selbst als »Linker«, als Demokrat also. Ein ungewöhn­li­cher Mann, der die geisti­gen Strömun­gen seiner Zeit erfaß­te und sich leiden­schaft­lich engagier­te. Zweimal wurde er zum Abgeord­ne­ten des Bezirks Neres­heim gewählt. Gleich­zei­tig war er auch »Redak­teur« des »Amts- und Intel­li­genz­blatts« des Oberam­tes Neresheim.

Beide Funktio­nen brach­ten ihn offen­bar in Konflikt mit dem bischöf­li­chen Ordina­ri­at in Rotten­burg. Zunächst gab es aller­dings dort nach dem Tode des ersten Bischofs von Rotten­burg, Dr. Johann Baptist von Keller, im Jahre 1845 eine zweijäh­ri­ge Vakanz, in der man die Zügel sicher etwas schlei­fen ließ. Mit der Wahl des aristo­kra­ti­schen Dr. Joseph von Lipp am 14. Juni 1847 und seiner Konse­krie­rung am 12. März 1848 wuchs der Druck auf aufmüp­fi­ge Pfarrer. Jeden­falls mußte Pfarrer Desal­ler seinen Redak­teurs­pos­ten aufge­ben. Das Leben dieses Mannes wäre sicher einer näheren Unter­su­chung wert, wissen wir doch zum Beispiel, daß zu seinen Bekann­ten auch der franzö­si­sche Kaiser Napole­on III. gehörte.

Entspre­chend der Forde­rung der 48er-Revolu­tio­nä­re nach Volks­be­waff­nung zum Schutz der Freiheit formier­te sich auch in Oberko­chen eine Bürger­wehr. Die Geschich­te meinte es jedoch gut mit den Oberko­che­ner Freiheits­kämp­fern: So schnell zerrann der demokra­ti­sche Traum, daß sie nicht beim Wort genom­men wurden.

»Die Verspre­chun­gen wurden nicht gehal­ten« — so beschließt Pfarrer Desal­ler dieses Kapitel der deutschen Geschichte.

Zur gleichen Zeit begab sich der Handwerks­ge­sel­le Jakob Chris­toph Bäuerle nach seinen Lehrjah­ren auf die Wander­schaft. Er wird wenige Jahre später zurück­keh­ren mit einer Idee, die für Oberko­chen von großer Bedeu­tung werden sollte, der maschi­nel­len Herstel­lung von Holzbe­ar­bei­tungs­werk­zeu­gen. 1860 wird er dann in dem Gebäu­de neben dem »Lamm« seinen Betrieb gründen, die Keimzel­le der späte­ren Indus­tria­li­sie­rung in Oberkochen.

Im übrigen war 1847 kein gutes Jahr. »Große Theue­rung« steht in der Pfarr­chro­nik. Mißern­ten und eine tiefgrei­fen­de Handels- und Wirtschafts­kri­se in den meisten deutschen und europäi­schen Staaten trieben die Preise in die Höhe. Und das Jahr zuvor war noch so gut gewesen. »Gute Früch­te« wuchsen in Oberko­chen und vor allem »ein vortreff­li­cher Wein« — was immer man damals darun­ter verstan­den haben mag. Immer wieder hatten sich die beiden »Colle­gi­en« der Bürger­ver­tre­tung, nämlich Gemein­de­rat und Bürger­aus­schuß, mit den Auswir­kun­gen der Not zu befas­sen. Gemein­de­be­diens­te­te kamen mit ihrer Entloh­nung nicht mehr zurecht. So mußte etwa dem Waldhü­ter zu seinen zwölf Gulden Jahres­ver­dienst für das Teuerungs­jahr ein »Grati­al« von sieben Gulden gewährt werden. Der Taglöh­ner Joachim H., durch die Krank­heit seiner Frau in Not geraten, erbat sich eine Zuwen­dung aus der Gemein­de­kas­se, um nicht »samt seinem Weibe und seinen Kindern Hungers zu sterben«. Er erhielt schließ­lich 8 Kreuzer aus der Gemein­de­kas­se, aller­dings nicht ohne die Mahnung, »er solle sich mehr der Arbeit unter­zie­hen, weil er, wie es der ganzen Gemein­de bekannt ist, nicht gerne arbei­ten möge«. Der Flurschütz wurde für ein Tagegeld von 12 Kreuzer zum Bettler­vogt ernannt, er sollte zusam­men mit dem Polizei­die­ner die in Scharen anrücken­den auswär­ti­gen Bettler vertrei­ben. Die sonst brach­lie­gen­den Bergä­cker wurden den Armen zum Anbau freigegeben.

Oberko­chen zählte 1847 sicher nicht zu den armen Gemein­den des Bezirks; es hatte, wie lapidar festge­stellt wurde, »weder Kapita­li­en noch Schul­den«. Aller­dings wurde es auch von Außen­ste­hen­den — eine Paral­le­le zu heute? — viel reicher einge­schätzt als es tatsäch­lich war, damals wegen des beträcht­li­chen Waldbe­sit­zes. Doch die nicht unbedeu­ten­den Einnah­men aus 4 390 Morgen Wald kamen allein den 93 Gemein­de­rechts­be­sit­zern zugute.

Da war vorher von Gemein­de­rat und Bürger­aus­schuß die Rede. Worin bestand denn da der Unter­schied? Der Gemein­de­rat mit seinen Mitglie­dern Wieden­hö­fer, Holz, Burr, Sapper, Widmann und Balle saß bei Schult­heiß Maier am Ratstisch. Der Bürger­aus­schuß mit Obmann Gold und den Mitglie­dern Schmid, Gold, Koch, Wingert und Winter, etwas respekt­los »Schran­nen­fat­zer« genannt, mußten rings­her­um mit einfa­chen Holzbän­ken, eben den Schran­nen, vorlieb­neh­men. In den Sitzun­gen ging es 1847 um Straßen­in­stand­set­zun­gen »inner­halb Etters«, um Wegebau, um die zu verpach­ten­de Schaf­wei­de, vor allem aber um die Ausstel­lung von Vermö­gens- und Leumunds­prä­di­ka­ten, von Heimat­schei­nen und Wander­bü­chern und Heirats­er­laub­nis­sen. War indes­sen das Leumunds­zeug­nis eines Bürgers nicht ganz lupen­rein, handel­te es sich fast ausschließ­lich um »Forst­fre­vel« und Holzdieb­stahl, erschwe­rend von »aufbe­rei­te­tem Holze«. Die Misse­tä­ter konnten ihre Strafen wohl absit­zen — Gefäng­nis, wohl auch mal »Arbeits­haus und 20 Strei­che« — doch mit der Bezah­lung der Arrest­kos­ten und Forst­stra­fen haper­te es manch­mal »wegen allzu­gro­ßer Armse­lig­keit«. Dann mußte halt die Gemein­de­kas­se einsprin­gen. Übrigens, »Schul­tes« sein war auch 1847 nicht immer ganz ohne Risiko. Da wurden doch dem Schult­heiß Maier im Septem­ber die Fenster einge­wor­fen, welchen Schaden die Gemein­de­kas­se ebenfalls trug, denn, das leuch­tet doch ein, »wenn er nicht Schult­heiß wäre…« Große Proble­me warf offen­bar auch die Farren­hal­tung auf. Einmal mußte man sich des Farrens entle­di­gen, weil er »zu unfromm« gewor­den war, ein ander­mal wegen »Untüch­tig­keit«.

Und dann natür­lich die beiden Schulen! Nicht genug, daß man ständig Klagen der beiden Schul­meis­ter über unzurei­chen­de und unzweck­mä­ßi­ge Schul­ge­bäu­de vorlie­gen hatte — dem evange­li­schen Provi­sor B. mußte man sogar einmal bedeu­ten, daß, wenn es ihm nicht passe, er sich einen anderen Dienst suchen müsse — schlu­gen auch die laufen­den Schul­kos­ten zu Buche. Am 3. und nach Ableh­nung bereits wieder am 5. Mai 1847 wurde über zwei ziemlich gewalt­tä­ti­ge Einga­ben des katho­li­schen Schul­meis­ters Balluff verhan­delt. Dieser vielbe­schäf­tig­te Mann, Vater von zehn Kindern, Organist, Leiter des Kirchen­cho­res und des Männer­cho­res und Mesner, hatte endlich einen Lehrge­hil­fen bekom­men. Damit wurde die Schule zweiklas­sig und brauch­te demzu­fol­ge eine Erhöhung der Holzzu­tei­lung. Durch eben diese Einga­ben erreich­te er eine stufen­wei­se Anhebung von vier auf zunächst fünf und dann sechs Klafter Brenn­holz sowie 400 Reisig­wel­len — wobei die Gemein­de die Anfuhr, nicht jedoch den Macher­lohn übernahm. Offen­bar sollte das Holz dem Schul­meis­ter zweimal warm machen. Die Schul­pflicht wurde anschei­nend nicht so recht ernst genom­men, denn da und dort findet man Proto­kol­le, die mit drei Kreuzen unter­zeich­net sind.

Das Bild macht deutlich, daß Oberko­chen 1847 eine paritä­ti­sche Gemein­de war, übrigens die einzi­ge im ganzen Bezirk. Was die Geschich­te der Gemein­de und der beiden Kirchen­ge­mein­den angeht, möchte ich auf die Ausfüh­run­gen von Pfarrer Forster und Herrn Seckler verwei­sen, die 1968 zur Stadt­er­he­bung in »Bürger und Gemein­de« bzw. im neuen Adreß­buch erschie­nen sind. Ebenso auf die Ausar­bei­tun­gen der Herren C. Schrenk u. Heite­le in diesem Buch. Uns inter­es­siert hier ledig­lich die Situa­ti­on im Jahr 1847. Die katho­li­sche Kirche St. Peter und Paul, ein gotischer Bau, bekam 1663 einen neuen Chor und wurde barockisiert.

Aus 50 Morgen Wald und 5430 Gulden Kapital bestritt die Kirchen­pfle­ge die Baulast. Die evange­li­sche Kirche mit ihrem hölzer­nen Dachrei­ter wurde 1582 — 83 erbaut, war aber 1847 bereits baufäl­lig. Im allge­mei­nen kamen Evange­li­sche (ein Drittel) und Katho­li­sche (zwei Drittel) leidlich mitein­an­der aus. Die neural­gi­schen Punkte Kirche und Schule waren ja fein säuber­lich getrennt, der Fried­hof war jedoch noch gemein­sam. Es ist nicht berich­tet, wie die geist­li­chen Herrn, Pfarrer Desal­ler und der evange­li­sche Pfarrer Carlus Quiliel­mus Valet aus Ulm, zu einan­der standen.

Nun ja, so fördert ein willkür­lich auf das Jahr 1847 gerich­te­ter Blick vieles ans Licht, was im Laufe der 140 Jahre verschwun­den ist; manches aller­dings ist gleich geblie­ben, wie nämlich der Chronist schon 1847 die Oberko­che­ner charak­te­ri­sier­te: »Ein gesun­der, kräfti­ger Menschen­schlag, von etwas mehr als mittle­rer Größe, auch hübsch, wie zumal beim weibli­chen Geschlech­te sich zeiget…«

Rudolf Heite­le