Vor 30 Jahren: Einwei­hung der Umgehungsstraße

Seit dem 15. Dezem­ber 1959 rollt der Fernver­kehr an Oberko­chen vorbei. In Oberko­chen fuhren danach nur noch wenige Autos, die alltäg­li­che große Invasi­on der »Zeiss­ler« erfolg­te über den Zulie­fe­rer Bundes­bahn. Jeden Tag dassel­be Bild: Unüber­schau­ba­re Menschen­men­gen quollen aus einem überfüll­ten Dampf­lok-gezoge­nen Zug und wälzten sich durch den Ort. Einsam überrag­te Polizei­wacht­meis­ter Nickel das Gesche­hen und steuer­te die verirr­ten Pkw’s durch die Massen. Abends lief die ganze Geschich­te in umgekehr­ter Richtung ab. Unser erstes Bild von 1958 zeigt den im Zusam­men­hang mit dem Bau der Umgehungs­stra­ße aufge­lös­ten Bahnüber­gang. Links im Bild angeschnit­ten das Bahnwär­ter­haus (Hut), rechts vom Bahnüber­gang die Baracken der Baulei­tung für die Umgehungs­stra­ße. Im Kreis rechts der rechten Bahnüber­gangs­ta­fel die Baustel­le »Umgehungs­stra­ße«. Blick auf Oberkochen.

Oberkochen

Unser zweites Bild wurde vor 30 Jahren am 15.12.59 aufge­nom­men — am Tage der Einwei­hung der Umgehungs­stra­ße. Von links nach rechts: der erste kürzlich verstor­be­ne Altge­mein­de­rat und Feuer­wehr­kom­man­dant Hans Kolb. Neben ihm Gemein­de­rat Marscha­lek. Dritter von links ist der ehema­li­ge Bundes­tags­ab­ge­ord­ne­te Dr. Vogel, der Vorgän­ger von Dr. Abelein. Die 4. Person von links konnte nicht bestimmt werden. Es handelt sich entwe­der um einen Beglei­ter von Dr. Vogel oder um einen Herrn vom Regie­rungs­prä­si­di­um. 5. von links ist Frau Gemein­de­rä­tin Baythi­en. Danach Bürger­meis­ter Gustav Bosch. Neben ihm die Gemein­de­rä­te Dr. Hans Schmid und Julius Metzger.

Oberkochen

Beide Bilder stammen aus der Privat­samm­lung unseres Ausschuß­mit­glie­des und Altstadt­bau­meis­ters Helmut Kranz.
Im Anschluß drucken wir den Bericht zur Einwei­hung der Umgehungs­stra­ße aus BuG vom 19.12.1959 ab.

Unsere Umgehungs­stra­ße — geweiht und gewidmet

Wer umgan­gen wird, hat in aller Regel — und vollends bei 2 Grad minus — keinen Grund, auf die Straße zu gehen und zu feiern. Und wenn das einer ganzen, sehr bedeu­ten­den und ob ihrer Leistun­gen mit berech­tig­tem Bürger­stolz überfüll­ten Gemein­de passiert … ja, dann hätte man vor 100 Jahren nicht gefei­ert, sondern protes­tiert. Der Regent oder sein Vertre­ter hätte dann nur Grund gehabt, die aufge­brach­ten Gemüter zu beruhi­gen (sofern er es damals überhaupt für nötig gehal­ten hätte) und die schönen Stadt­to­re — Meister­wer­ke mittel­al­ter­li­cher Baukunst — wären stehen geblieben.

Nun, wir leben 100 Jahre später, und also war die ganze Gemein­de voller Freude über die Tatsa­che der Umgehung und voller Stolz, daß der Herr Regie­rungs­prä­si­dent persön­lich kam, das Band zu durch­schnei­den und die Straße dem Verkehr zu überge­ben als ein schönes Weihnachts­ge­schenk an die Gemein­de Oberko­chen. Die vielen Bürger, alte und junge und sogar Kinder, die zu diesem Anlaß gekom­men waren, bestä­tig­ten, daß Bürger­meis­ter Bosch recht hatte, wenn er sagte: Wir erleben die Freiga­be dieser Straße nicht als Staats- oder Bundes­bür­ger schlecht­hin, sondern als sehr inter­es­sier­te Gemein­de­bür­ger — was die Oberko­che­ner übrigens schon oft bewie­sen haben und nicht nur, wie am vergan­ge­nen Diens­tag, da sie von der schwe­ren Last und Beläs­ti­gung des Durch­gangs­ver­kehrs befreit wurden. Das Band ist also zerschnit­ten, die Straße ist frei, der Fernver­kehr rollt an Oberko­chen seit Diens­tag, 15. Dezem­ber 1959, 16.30 Uhr, vorbei. Läßt man es damit nun »liegen«? Oh nein! Um das gleich zu sagen: Wer den langen Fußmarsch mit dem Herrn Regie­rungs­prä­si­den­ten und den hohen Gästen — den Herren Bundes­tags­ab­ge­ord­ne­ten Dr. Vogel und Hans Geiger, Landtags­ab­ge­ord­ne­ten, Landrat Dr. Huber, Vertre­tern des Staates, der Verwal­tun­gen und der am Bau betei­lig­ten Arbeits­ge­mein­schaft — mitmach­te oder mit dem Auto die Strecke abfuhr, hat Oberko­chen aus einer ganz neuen Perspek­ti­ve zu sehen bekom­men. So wird es also immer sein: Oberko­chen präsen­tiert sich nun auch dem eilig Durchreisenden.

Was also Wunder, daß ein solcher Tag festlich began­gen wurde, nein, werden mußte! Die schönen Kinder­stim­men mußten zwar bei ihrem Lied zur Einlei­tung und bei dem Choral zur Weihe gegen Kälte, Wind und Weite kämpfen, aber man merkte ihnen doch an, wie sehr sie sich schon des Augen­blicks bewußt waren: Dreiein­halb Kilome­ter Straße, die eigent­li­che Umgehungs­stra­ße, sind fertig; 100.000 Tonnen Boden mußten dazu bewegt und 50.000 Tonnen Baustof­fe heran­ge­schafft werden, bis Regie­rungs­bau­di­rek­tor Kirschen­mann an diesem Diens­tag dem Herrn Regie­rungs­prä­si­den­ten die Straße in die Obhut des Landes überge­ben konnte.

Regie­rungs­prä­si­dent Dr. Schöneck wies in seiner Anspra­che auf die Bedeu­tung der Straße hin: Sie verbes­sern die Verkehrs­ver­hält­nis­se auf der B 19 ganz entschei­dend, und zwar gerade als Umgehungs­stra­ße; denn was nützten alle moder­nen Schnell­stra­ßen, wenn sich der Verkehr in den Orts- und Stadt­ker­nen wieder staue. Darum müßten noch viel mehr Umgehungs­stra­ßen gebaut werden, was vor 100 Jahren noch gar nicht selbst­ver­ständ­lich gewesen sei. Im Gegen­teil: Man habe wertvol­le Bauwer­ke in den Städten nieder­ge­legt, um den Verkehr in die Städte herein­zu­zie­hen. In aller Offen­heit setzte sich Dr. Schöneck mit dem Vorwurf ausein­an­der, es gesche­he viel zu wenig für den Straßen­bau. Wer das sage, verste­he entwe­der nichts, oder er sage es aus anderen Gründen. Der Verkehr habe sich in den letzten Jahren vervier- bis verfünf­facht, so daß mit dem Straßen­bau gar nicht so schnell nachzu­kom­men sei.

Seiner Freude und seinem Dank über das fertig­ge­stell­te Bauwerk gab Bürger­meis­ter Bosch — der mit dem Gemein­de­rats­kol­le­gi­um gekom­men war — Ausdruck: Schon über zwei Jahrzehn­te sei an dieser Straße geplant und immer wieder neu geplant worden. Er dankte den Herren Bundes­tags­ab­ge­ord­ne­ten, daß sie sich so nachhal­tig und erfolg­reich für die Freiga­be der Mittel einge­setzt haben, der Deutschen Bundes­bahn für den Entschluß, im Zuge dieser Baumaß­nah­me die höhen­glei­chen Übergän­ge durch große Brücken­wer­ke zu besei­ti­gen, dem Landkreis Aalen für die Übernah­me der Ortsdurch­fahrt und der Anschluß­stre­cken als Landstra­ße II. Ordnung (in diesem Sinne war der Herr Landrat bei aller Mitfreu­de der einzi­ge »Leidtra­gen­de« unter den Festgäs­ten), den Grund­stücks­be­sit­zern, die diese Landein­bu­ße von 20 ha mit so viel Verständ­nis auf sich genom­men hätten, daß nicht in einem einzi­gen Falle mit einer Enteig­nung auch nur hätte gedroht werden müssen. Sodann gedach­te der Bürger­meis­ter der beiden Männer, die beim Bau dieser Straße ihr Leben verlo­ren haben.

Doch damit die Bauleu­te nicht verge­bens gebaut haben, ging nach einem Richt­spruch dem Akt der Widmung ein Akt der Weihe voraus, damit die »Straße, die zu endli­chen Zielen führt«, uns daran gemah­ne — wie Pfarrer Gottfroh sagte — daß wir unter­wegs sind zu ewigen Zielen und daß wir immer und überall dem Herrn die Wege berei­ten sollten. Pfarrer Forster sprach das Segens­ge­bet. »So lasset uns gehen im Frieden, im Namen des Herrn. Amen«. Und dann zerschnitt der Herr Regie­rungs­prä­si­dent das Band in der Hoffnung, daß »über diese Straße nur Fahrzeu­ge des Friedens fahren mögen«. Im Saal des Jugend­wohn­hei­mes trafen sich dann die Gäste zu einem kleinen Mahl. Bei seiner Tisch­re­de erinner­te Bürger­meis­ter Bosch an die frühe­ren Besuche des Herrn Regie­rungs­prä­si­den­ten, so zum Beispiel an den im Juli 1957 mit dem Vertei­ler­aus­schuß des Ausgleichs­stocks. Die seiner­zeit vom Ausgleichs­stock gegebe­ne Initi­al­zün­dung habe zusam­men mit den Anstren­gun­gen der Gemein­de und der Hilfe der Firma Carl Zeiss zu sehr guten Ergeb­nis­sen geführt, so daß man nun glauben möchte, daß es der Gemein­de vergönnt sein möge, den Regie­rungs­prä­si­den­ten künftig nur noch zu angeneh­me­ren Gelegen­hei­ten nach Oberko­chen einzu­la­den. Landrat Dr. Huber ging auf das Straßen­pro­blem im Landkreis Aalen ein, das hier eine ganz beson­de­re Rolle spiele. Dafür nur ein Beispiel: 1945 waren von den 300 km Landstra­ßen II. Ordnung, die der Landkreis unter­hal­ten muß, 92 Prozent ungeteert; bis heute sind bereits 120 km geteert, das ist eine Strecke, wie sie die Kreise Heiden­heim oder Schwäb. Gmünd überhaupt nur zu unter­hal­ten haben. Und wenn wir vorhin sagten, der Herr Landrat sei sozusa­gen der einzi­ge »Leidtra­gen­de« gewesen, so nur im Blick auf seinen Etat und nicht im Blick auf uns, und dafür wollen wir ihm recht dankbar sein.

Dr. Vogel, stell­ver­tre­ten­der Vorsit­zen­der des Haushalts­aus­schus­ses im Bundes­tag, kündig­te eine Verdop­pe­lung der Straßen­bau­mit­tel an. Dabei vertrat er seine Auffas­sung, daß bei der künfti­gen Treib­stoff­be­steue­rung zwei Pfenni­ge aufge­schla­gen werden solle, nachdem die Ölgesell­schaf­ten eine Preis­sen­kung von fünf bis sieben Pfennig angekün­digt hätten. Mit diesem einen Pfennig Mehrzu­schlag, der den Verbrau­cher nach dieser Preis­sen­kung ja nicht mehr belas­te, entstün­de ein Mehrauf­kom­men von 900 Millio­nen DM, das zum Bau von Umgehungs­stra­ßen verwen­det werden sollte.

Oberbau­rat Lasch überbrach­te die Grüße des Präsi­den­ten der Bundes­bahn­di­rek­ti­on Stutt­gart, Dr. Hagner. Das Problem der höhen­glei­chen Übergän­ge sei nur durch Überfahr­ten zu besei­ti­gen. Die Bundes­bahn freue sich über das gute Einver­neh­men mit allen betei­lig­ten Stellen. Und da die Kosten­rech­ner der Bundes­bahn schwe­re Sorgen haben, lag in dem Glück­wunsch- und Dankpa­ket auch ein Wunsch­zet­tel: Man möge die Massen­trans­por­te beim Straßen­bau über die Bahn leiten. Auch ein Vertre­ter der »Arge« (Arbeits­ge­mein­schaft der am Bau betei­lig­ten Unter­neh­mun­gen) sprach Dank und Anerken­nung aus.

Nun ist die Straße also dem Verkehr berei­tet. Mögen alle Wünsche und Segens­ge­be­te in Erfül­lung gehen. Mögen alle ihre Benüt­zer in aller Hast und Eile daran denken, daß Straßen die Menschen mitein­an­der verbin­den und nicht von ihnen wegfüh­ren sollten. Sonst wären ja alle Straßen nur noch »Umgehungs­stra­ßen« in dem Sinne, daß wir uns, die Menschen, umgehen. Und möge sie auch — zumin­dest bei uns in Oberko­chen — immer wieder daran gemah­nen, daß wir alle eine Straße bauen helfen und selber wandern: Dem einen und letzten Ziel entgegen.

H.S., BuG

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