Intro. Engel­bert war der Sohn des Lehrers Alfons Mager (1878 bis 1946). Er erstell­te den Bericht im Jahr 1986. Erst jetzt fand ich diesen beim Sichten alter Unter­la­gen. Zuletzt wohnte er in der Alten­berg­stra­ße 18 in 7114 Pfedel­bach-Oberohrn. Der Bericht erschien zwar schon im ersten Heimat­buch aus dem Jahr 1986, aber als mir der Origi­nal­be­richt in die Hände fiel, entschied ich, ihn doch in dieser Reihe, mit einigen Bildern aufge­peppt, auch zu veröf­fent­li­chen. Die Bilder stammen nicht immer aus der beschrie­be­nen Zeit, passen aber trotz­dem gut zum Thema.

Im Sommer 1918 erhielt mein Vater die vakan­te zweite defini­ti­ve Lehrstel­le in Oberko­chen. Schul­lei­ter war damals Oberleh­rer Karl Wörner, der 1927 in den Ruhestand trat und nach Ellwan­gen verzog. Damals befan­den sich im katho­li­schen Schul­haus zwei Lehrer­woh­nun­gen, vier Schul­lo­ka­le, ein sog. Unter­leh­rer­zim­mer und eine Behelfs­be­hau­sung für die Schul­leh­re­rin im Dachge­schoss. Die Wohnun­gen mit gemein­sa­mem Flur waren geräu­mig und schön, nur hatten die Archi­tek­ten beim Bau die Toilet­ten verges­sen und sie nachträg­lich angehängt (oaglaub­lich so äbbes). So befan­den sie sich außer­halb der Glastü­ren und einen halben Stock tiefer. Die evange­li­schen wurden in einer Einklas­sen­schu­le von Oberleh­rer Günther unterrichtet.

Oberko­chen Gesamt­an­sicht aus dem Jahr 1906 (Archiv Müller)

Der Markt­fle­cken hatte damals über 1.800 Einwoh­ner, von denen die meisten von einer kleinen Landwirt­schaft lebten. Mit Kühen und Ochsen­ge­span­nen bestell­ten sie ihre Feldar­beit. Pferde­bau­ern mit größe­ren Betrie­ben konnte man an einer Hand abzäh­len. Durch die bäuer­li­che Struk­tur waren beider­seits der Durch­gangs­stra­ße (Heiden­hei­mer und Aalener Straße) Dungla­gen (offizi­el­le Bezeich­nung) oder „Misch­ten“ (Umgangs­spra­che) angelegt, die im Laufe der Indus­tria­li­sie­rung und des landwirt­schaft­li­chen Struk­tur­wan­dels verschwan­den. Letzt­end­lich war es ein Vorteil, denn nach der Besei­ti­gung war die Straße relativ breit. Nicht wenige der Klein­bau­ern arbei­te­ten im Winter in den Wäldern oder in den ansäs­si­gen Industriebetrieben.

Das ursprüng­li­che Bauern­dorf zwischen 1900 und 1922 (Archiv Müller)

Wir Kinder schau­ten oft den Hafnern bei ihrer schmie­ri­gen Arbeit zu und staun­ten über die formge­ben­de Tätig­keit. Auf dem Bahnhof standen die Haras­sen (Latten­kis­ten) mit vollge­pack­tem Tonge­schirr, bereit zum Versand an die Zwischen­händ­ler. Feinschme­cker behaup­te­ten, dass das Kraut aus einem Tontopf am besten mundete.

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Hafner Fischer oder Minder – immer noch ungeklärt? (Archiv Müller)

Der Badeplatz der Jugend im Sommer befand sich am Wehr der Kreuz­müh­le (Besit­zer Elser). Durch die gerin­ge Entfer­nung zum Ursprung des Kochers war das Wasser verhält­nis­mä­ßig kühl, auch bei größe­rer Hitze. Oberhalb des Wehrs und der vorüber­füh­ren­den Straße nach Aalen zum schie­nen­glei­chen Bahnüber­gang fingen einige Jungen mit bewun­derns­wer­ter Geschick­lich­keit während des Badens schöne Forellen.

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Die Kreuz­müh­le inmit­ten eines Natur-Idylls (Archiv Müller)

Im Winter konnte man sich selten über mangeln­de Schnee­fül­le bekla­gen. Oft war der Winter­sport an frühe­ren Oster­fes­ten noch möglich. Zuerst übte man das Schifah­ren mit Fassdau­ben, an denen eine Behelfs­bin­dung angebracht wurde. Später erhiel­ten wir richti­ge Schier, mit denen wir die Wälder durch­streif­ten und an den Hängen um Oberko­chen unsere Künste ausüb­ten. An der letzten Kehre des Wegs zum Volkmars­berg vor dem Wald begann das Rodeln. Bei günsti­ger Schnee­la­ge konnte man über das Dreißen­tal und die Haupt­stra­ße hinweg, den Kocher errei­chen. Vorne auf dem Schlit­ten saß der Lenker mit Schlitt­schu­hen. Im Jahr 1933 errang mein Schul­ka­me­rad Karl Lense die Deutsche Meister­schaft im Schi-Langlauf. Ihm wurde zur Heimkehr ein präch­ti­ger Empfang berei­tet, an dem der ganze Ort teilnahm. Leider wurde Karl doch noch ein Opfer des II. Weltkrie­ges, nachdem ich ihn am Bahnhof in Rastatt aus einem Front­zug noch rufen und winken sah.

Oberko­chen konnte auch gute Geräte­tur­ner wie Karl Wannen­wetsch, Ludwig Wunder­le und Schnei­der­meis­ter Fischer aufwei­sen. Die kleine Turnhal­le war damals das letzte Gebäu­de im Katzen­bach auf der linken Seite (das späte­re „Segel­flie­ger-Heisle und heuti­ge Boller-Heisle“).

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Viel Ruhm, viel Ehr – in welcher Diszi­plin auch immer – er ist unbekannt (Archiv Müller)

Im Forst­haus, gegen­über dem alten Schul­haus (Fuchs­bau) walte­te Forst­meis­ter Marin seines Amtes. Mit seiner Pferde­kut­sche fuhr es fast jeden Tag hinaus in die weiten Wälder. Sein Schwa­ger, General Freiherr von Luppin ***, wohnte in Schwä­bisch Gmünd und besuch­te öfters Oberko­chen. An vater­län­di­schen Feiern nahm er in seiner präch­ti­gen Parade­uni­form teil, die wir beson­ders bewun­der­ten. Eine Schwä­ge­rin des Forst­meis­ters malte Kinder­por­traits. Ich musste mehre­re Tage bei ihr still­sit­zen, was mir sehr schwerfiel.

***Kurt Freiherr von Lupin (* 30. Septem­ber 1867 in Ludwigs­burg; † 2. Novem­ber 1938 in 1938 in Schwä­bisch Gmünd) war ein deutscher General­ma­jor der Reichs­wehr. Kurt war der jünge­re Sohn des württem­ber­gi­schen General­leut­nants Hugo von Lupin (1829–1902) und dessen Ehefrau Karoli­ne, gebore­ne Veiel (1841–1917). Sein Bruder Arthur (1861–1920) avancier­te ebenfalls zum General­leut­nant in der Württem­ber­gi­schen Armee. Der bayeri­sche Staats­be­am­te und Minera­lo­ge Fried­rich von Lupin (1771–1845) war sein Großvater.

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Das alte Forst­haus im Jäger­gäss­le (Archiv Müller)

Mit Musik­ka­pel­len und Fahnen beweg­te sich 1922 ein Aufmarsch mit nahezu militä­ri­scher Ordnung zur feier­li­chen Einwei­hung des Linden­brun­nens in der Ortsmit­te. Der erheben­de Festakt ist mir heute noch in Erinnerung.

Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhun­derts besuch­ten sich im Rahmen des Ösch-Prozes­sio­nen die Katho­li­ken von Ober- und Unter­ko­chen. Dabei begeg­ne­te man sich auf halbem Weg, wobei es unter den Buben nicht gerade fromm zuging, denn die hatten sich schon vorher die Taschen mit kleinen Steinen gefüllt, um sich gegen­sei­tig zu bewer­fen. Durch den wachsen­den Verkehr wurden die Bittgän­ge einge­stellt und nur noch in Ortsnä­he durchgeführt.

Bei allen weltli­chen und kirch­li­chen Feiern, die mit Umzügen verbun­den waren, marschier­te der Amtsbo­te und Polizei­die­ner Gold in militä­ri­scher Montur mit Säbel und Pickel­hau­be vorne­weg. Er wohnte einst mit seiner Familie im alten Rathaus und hatte noch die Aufga­be, die Bekannt­ma­chun­gen des Ortes durch das sog. „Ausschel­len“ den Einwoh­nern an verschie­de­nen Stellen im Ort zu verkün­den. Für uns war er eine Respekts­per­son und in der Gemein­de ein hochge­ach­te­ter Mann.

Jedes Jahr hielten der Kirchen­chor und der Schwä­bi­sche Albver­ein ihre Jahres­ab­schluss­fei­ern in der Bahnhofs­re­stau­ra­ti­on (in dr Winter’schen „Schell“) ab. Das Programm umfass­te jeweils neben einigen Liedern und Couplets ein Theater­stück. Bei einer solchen Feier ereig­ne­te sich einmal eine äußerst ergötz­li­che Begeben­heit: Die Bühne im Saal war nur behelfs­mä­ßig mit Ständern und Dielen darüber aufge­baut. Durch das große Gewicht, das der Chor bei einem Liedvor­trag auf die Bühne brach­te, krach­te diese in sich zusam­men! Trotz­dem ließen sich Dirigent und Chor nicht aus der Ruhe bringen und sangen ihr Lied zu Ende – des waret halt no Kerle ond Fraua! Ein großer Applaus war ihnen danach sicher.

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Der berühm­te Gruppa-Franzl (Archiv Müller)

Einen Sänger des Kirchen­cho­res gilt es heraus­zu­he­ben – den Gruppa-Franzl! Sein schöner Bariton und sein urwüch­si­ger Humor rissen die Zuschau­er bei seinen Soli, und vor allem bei seinen „Couplets ***“, die Zuschau­er von ihren Sitzen.

***Couplet ist ein mehrstro­phi­ges witzig-zweideu­ti­ges, politi­sches oder satiri­sches Lied mit markan­tem Refrain. In der Musik bezeich­net das Couplet außer­dem die Strophen­tei­le eines Rondos, die sich mit dem wieder­keh­ren­den Refrain oder Ritor­nell abwechseln.

Bekannt ist bis heute sein Verslein:

„ I be dr Gruppa-Franzl / I be a schlau­er Hansl / I be von Obrkocha / wo sieba Dag send en dr Wocha“.

Seine Familie war die damals kinder­reichs­te im Ort und alle Töchter und Söhne haben sich im Leben bestens zurechtgefunden.

Etliche alte Sänger gingen niemals ohne Schnupf­ta­bak­do­se aus dem Haus und wenn sie sich zufäl­lig im Ort trafen, wurde vor dem Gesprächs­be­ginn erst eine Prise geschnupft. Dazu passte das Couplet „Die drei Schnup­fer“, das bei einer Auffüh­rung großen Beifall erntete.

Ein weite­rer bekann­ter Humorist war Josef Wingert, auch unter dem Spitz­na­men „Stöpsl“ bekannt. Wenn er mit seinem steifen Bein auf der Bühne erschien und mir urkomi­schen Grimas­sen sang, ernte­te er riesi­gen Beifall.

Im Ort gab es weder eine Apothe­ke noch einen appro­bier­ten Arzt oder Dentis­ten. Für die beiden letzte­ren prakti­zier­te ein sog. Wundarzt auf dem allge­mei­nen Gebiet der Heilkun­de. Das war der Onkel des Fabri­kan­ten Ludwin Oppold. In der Jugend wurde er von einem Arzt angelernt und durfte seine Tätig­keit bis ins hohe Alter ausüben. Ich verdan­ke dem alten Herrn im Jahr 1923 die Heilung von einer schwe­ren Diphte­rie-Erkran­kung. Daneben pfleg­ten die Katho­li­schen Schwes­tern des Klosters Reute, die im häuti­gen Edith-Stein-Haus wohnten, in aufop­fe­rungs­vol­ler Weise die Kranken vor Ort.

Wer eine höhere Schule *** besuchen wollte, musste nach Aalen ins Oberre­al­gym­na­si­um. Man konnte die Volks­schu­le nach dem 3ten Schul­jahr verlas­sen und in die Vorklas­se des Gymna­si­ums wechseln. In der Parkschu­le wurden die Geschlech­ter getrennt unter­rich­tet. Schul­geld- und Lernmit­tel­frei­heit gab es nur in wenigen Ausnah­me­fäl­len. Die Zugver­bin­dun­gen nach und von Aalen waren vorzüg­lich auf die Schüler­belan­ge abgestimmt.

*** Dazu ein schwä­bi­scher Witz:

„Warum bauten die Schwa­ben ihre Schulen auf einen Berg? Damit sie auch mal auf die Höhere Schule konnten“. ????

Im Jahr 1918 war die Paral­lel­stra­ße zum heuti­gen Jäger­gäss­le, die heuti­ge Kelten­stra­ße, das Dorfen­de im Dreißen­tal. Im Anschluss daran wurde in den 20er-Jahren eine zweiter Röhrenstrang der Landes­was­ser­ver­sor­gung zum Stollen ins Wolfert­s­tal verlegt. Es waren riesi­ge Rohre, durch die wir als Kinder hindurch­schlüpf­ten, bevor sie einge­gra­ben wurden.

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Die Dreißen­tal­stra­ße mit dem angespro­che­nen Elmer-Haus – heute Markschef­fel (Archiv Müller)

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Das Bild zeigt u.a. das Köhler’sche Haus im oberen Dreißen­tal (Archiv Hartmuth Köhler)

Die Bebau­ung des Dreißen­tals begann nach 1920. Als erster baute der Maurer­meis­ter Elmer ein Einfa­mi­li­en­haus (das späte­re Hausmann- und heuti­ge Markschef­fel-Haus) und einige Häuser im oberen Dreißental.

In Erinne­rung geblie­ben sind mir die Mangold-Brüder, die bei der Eisen­bahn beschäf­tigt waren und sich auf billigs­te Art ein Doppel­haus erstell­ten. Über dem „Café Gold“ (hier wohnte der oben erwähn­te Polizei­die­ner) befand im Gewann „Hitzeles Mahd“ ein Stein­bruch mit blauen Platten­kal­ken. Hier brachen sich Häusles­bau­er und brach­ten sie zu den nahege­le­ge­nen Bauplät­zen. Als Mörtel diente ihnen der nasse Kalkschlamm auf den Straßen. Für die Männer und ihre Frauen war das ein hartes Stück Arbeit, die allge­mein bewun­dert wurde.

Ein herrli­ches Winter­er­leb­nis war für ich eine Eisvo­gel­schar, die sich am Kocher­ur­sprung nieder­ge­las­sen hatte. Ihre präch­ti­gen Gefie­der glänz­ten in dem weißen Schnee und in dem glaskla­ren Wasser. In den Wäldern stieß man oft auf ehema­li­ge Kohlplat­ten, auf denen einst Holzkoh­le für die Verhüt­tung der Bohner­ze im Tal gewon­nen wurde. Dem Härts­feld zu gab es in meiner Jugend in den Wäldern noch Köhler, die wir Jungen öfters bei ihrer Arbeit beobach­te­ten. Einmal fuhr ich an einer Kohlplat­te mit den Schiern in eine Falle. Sie schlug über dem Vorder­teil eines Schies zusam­men. Glück­li­cher­wei­se blieb ich unverletzt.

Am 1.8.1926 geschah ein Mord, der die Gemüter über Oberko­chen hinaus beweg­te. Förster Braun wurde im Wald bei Ochsen­berg von einem von dort stammen­dem Wilde­rer erschos­sen. Eine Beeren­samm­le­rin fand den Förster zufäl­lig im Gestrüpp. Der ruhige und allge­mein belieb­te Mann hinter­ließ eine Frau und zwei Söhne. Mit der Familie trauer­te die ganze Gemein­de. Im Ellwan­ger Ladge­richt fand der Prozess gegen den Mörder statt. Siehe dazu auch die Bericht 143 und 501.

Eine schwe­re Zeit für die Nicht-Landwir­te war die Infla­ti­on von 1918 bis zum Novem­ber 1923 ***. Nicht wenigen wurde bei der Lebens­mit­tel­knapp­heit von den Landwir­ten gehol­fen. Einem schlau­en Gast- und Landwirt, der neben einem Viehbe­stand auch Pferde besaß, passier­te folgen­de Geschichte:

„Bei einer Schwarz-Schlach­tung (einer nicht geneh­mig­ten) floss Blut aus einer Scheu­ne, was der Polizei zu Ohren kam. Anläss­lich einer umgehen­de Verneh­mung vor Ort, zeigte der Wirt am Kopf des Schwei­nes den Abdruck eines Hufei­sens und schil­der­te den Vorgang so, dass das losge­wor­de­ne Pferd in der Nacht das Schwein mit einem Hufschlag getötet habe“.

In Wirklich­keit vollzog der Wirt die Tötung mit einer Axt, an der das Hufei­sen angebracht war.

*** Diese Infla­ti­on war eine der radikals­ten Geldent­wer­tun­gen in großen Indus­trie­na­tio­nen. Die Vorge­schich­te dieser Hyper­in­fla­ti­on findet sich in der Finan­zie­rung des Ersten Weltkrie­ges. Mit dem Ende des Krieges 1918 hatte die Mark bereits offizi­ell mehr als die Hälfte ihres Geldwer­tes (Kaufkraft in ihrem Währungs­raum) und ihres Wechsel­kur­ses verlo­ren. Aller­dings waren die Preise während des Krieges kontrol­liert; auf dem Schwarz­markt waren die Preise weit stärker gestie­gen. Eigent­li­che Ursache der ab 1919 anzie­hen­den Infla­ti­on, die ab Mitte 1922 in eine Hyper­in­fla­ti­on überging, war die massi­ve Auswei­tung der Geldmen­ge durch den Staat in den Anfangs­jah­ren der Weima­rer Republik aufgrund der hohen Repara­ti­ons­zah­lun­gen.

Mein Vater besuch­te einmal einen Schwa­ger im Schwarz­wald, der eine Landwirt­schaft betrieb und trat mit etlichen Kilo Butter als sog. „Hamster­wa­re“ im Rucksack die Heimrei­se an. Im letzten Zug von Stutt­gart nach Aalen erfuhr er, dass die Polizei auf dem Bahnhof in Aalen den Reisen­den alle gehams­ter­ten Lebens­mit­tel abnahm. So stieg der Vater spät in der Nacht in Essin­gen aus und wander­te über den Volkmars­berg­sat­tel heimwärts. Schweiß­ge­ba­det kam er gegen 2 Uhr in der Nacht daheim an. In der Zwischen­zeit hatten wir uns große Sorgen um ihn gemacht.

Nach Schul­schluss um 12 Uhr in Aalen musste ich jeden Tag rasch einen Umweg über das dorti­ge Rathaus machen, um in dieser Zeit der „galop­pie­ren­de Infla­ti­on ***“ nach dem „Multi­pli­ka­tor“ zu schau­en, damit die Eltern wussten, was sie für die 14tägige Gehalts­zu­wei­sung noch kaufen konnten.

*** Das ist eine sehr schnell steigen­de Infla­ti­on mit einer Infla­ti­ons­ra­te zwischen 20 und 100% pro Jahr.
In bester Erinne­rung ist mir heute noch, wie die Arbei­ter an einem Zahltag im Herbst 1923 ihre ersten Renten­mark­schei­ne betrach­te­ten und glück­lich waren, dass nun wieder eine feste Währung für eine ordent­li­che Lebens­grund­la­ge zur Verfü­gung stand. Damit verschwand auch das sog. „Notgeld“ ***, das die Städte in eigener Regie ausgaben.

*** Das 1‑Bil­li­on-Mark-Stück der Provinz Westfa­len von 1923, die Münze mit dem höchs­ten Nennwert der Infla­ti­ons­zeit, war aller­dings zum Zeitpunkt ihrer geplan­ten Ausga­be durch die Hyper­in­fla­ti­on bereits entwer­tet worden. Die Prägung konnte daher erst nach der Infla­ti­on 1924 als Erinne­rungs­stück verkauft werden.

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Das 1‑Bil­li­on-Mark-Stück der Provinz Westfa­len von 1923 mit dem höchs­tem Nennwert, den bisher eine deutsche Münze inne hatte (Wikipe­dia)

Sehr schlimm war auch die Zeit von 1929 bis 1933. Jeden Tag verlie­ßen ganze Pulks von arbeits­lo­sen Männern die Wander­ar­beits­häu­ser in den Städten und verteil­ten sich über das ganze Land, um zu betteln. Manch­mal läute­ten 20 bis 30 solch arme Menschen an der Wohnungs­tür mit den Worten: „Ein armer Durch­rei­sen­der bittet um ein Almosen.“

In dieser Zeit zeigten sich auch in Oberko­chen die ersten Aktivi­tä­ten der NSDAP, während mir links-extre­mis­ti­sche unbekannt blieben. 1933 war meine Ausbil­dung als Lehrer zu Ende, aber keiner von uns Absol­ven­ten des Seminars erhielt zunächst eine Anstel­lung. Ich durfte keine Arbeit in der Firma Leitz (ob Gebr. Leitz oder Fritz Leitz ist unklar) antre­ten, das Arbeits­amt Aalen schick­te an meiner Stelle einen Arbeits­lo­sen. So blieb mir zunächst nichts anderes übrig, als unent­gelt­lich bei meinem Vater mit zu unter­rich­ten. Erst im Herbst erhiel­ten wir eine monat­li­che Zuwen­dung von 45 RM, die im folgen­den Jahr auf 55 RM erhöht wurde. Nach 2 ½ Jahren eröff­ne­te sich uns die Chance, eine regulä­re Anstel­lung zu erhal­ten. 1936 wurden die Konfes­si­ons­schu­len aufge­ho­ben und die Jungen in der Gemein­de wuchsen enger zusam­men und ungute Hänse­lei­en unter­ein­an­der hörten auf.

Zum Schluss seines Berichts aus dem Jahr 1986 schreibt Engel­bert Mager:

„Wenn ich jetzt nach Oberko­chen komme, so kann ich nur staunen, was aus dem einst so ruhigen Markt­fle­cken gewor­den ist. Heute ist es eine Stadt voll pulsie­ren­den Lebens, das den Einwoh­nern alles bietet, was es an Notwen­dig­kei­ten, Bequem­lich­keit, Erholung und an kultu­rel­len Bedürf­nis­sen benötigt. Vor allem freut es mich, dass die altein­ge­ses­se­nen Bewoh­ner noch den mir vertrau­ten Dialekt sprechen, und dass so viele ehema­li­gen Gebäu­de, Plätze und Straßen erhal­ten geblie­ben sind. Beson­ders erwäh­nen muss ich den großen Freizeit­wert in der herrli­chen Umgebung zwischen Albuch und Härts­feld, in welcher der Mensch sich nach des Tages Arbeit erholen kann.“

Was er wohl heute sagen würde, wenn er seinen alten Heimat­ort wieder­se­hen würde. Manches würde er vermis­sen und anders hätte er wohl nie für möglich gehal­ten. Nix ist fix im Leben – nur der Wandel!

Solche Berich­te werden nach und nach nicht mehr möglich sein, weil die Zeitzeu­gen gestor­ben sind oder deren Unter­la­gen schlicht und einfach verschwun­den sein werden. Deshalb ist es wichtig, die Hinter­las­sen­schaf­ten der Verstor­be­nen auf solche Unter­la­gen hin zu prüfen und eben nicht rasch zu entsorgen.

Engel­bert Mager

Wilfried „Wichai“ Müller – Billie vom Sonnenberg

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