Die letzten Kriegstage in Oberkochen
Für die Ortschronik aufgezeichnet von Oberlehrer Ignaz Umbrecht, † 29. März 1956
Als man auch in Oberkochen Ende März und Anfang April 1945 fühlte, dass das schnelle Kriegsende und damit die Niederlage unseres Vaterlandes erbarmungslos herannahte, und als die Schlacht um Crailsheim (5. bis 31. April 1945) das siegreiche Vordringen des mächtigen Gegners bis in unsere Nähe eindeutig zeigte, veränderte sich auch das Bild unserer Ortschaft von Tag zu Tag mehr. War schon der immer stärker anwachsende Flüchtlingsstrom der von Norden kommenden Zivilbevölkerung ein erschreckendes Anzeichen, dass die Truppen der angreifenden Amerikaner unaufhaltsam nach Süden vorrückten, so kamen bald darauf schnell zurückgehende deutsche Wehrmachtsteile aller Waffengattungen, zuerst einzeln, dann in Gruppen auf der Landstraße und in den Waldungen, die in Richtung Heidenheim — Ulm Oberschwaben zuströmten. Schon die letzten Märztage ließen erkennen, dass der Gegner im oberen Kochertal Widerstand erwartete. Fliegerangriffe mit Bordwaffen häuften sich besonders auf fahrende Züge — darunter auch ein deutscher Sanitätszug und auf Autolastzüge, so bei den Bahnwärterposten „Bayer nördlich“ und „Haßler südlich“ der Ortschaft. Die Lokomotive eines fahrenden Güterzuges wurde dabei ganz demoliert.
Der erste ernstliche Luftangriff erfolgte am Ostersonntag, dem 1. April 1945, auf einen soeben eingefahrenen, 60 Waggon zählenden, Personenzug am hiesigen Bahnhof. Es war ein überfüllter Transportzug, der Insassen aus dem KZ-Lager Neckerelz bei Mosbach nach Ulm befördern musste. Um elf Uhr vormittags knatterten die schweren Maschinengewehre einer Anzahl Flugzeuge in den Zug. Der Angriff erforderte acht Tote, darunter ein begleitender Wachmann, und eine Anzahl Verletzte. Die Toten wurden anschließend auf dem hiesigen evangelischen Friedhof beigesetzt.

Das Grab der 8 unbekannten Kriegsopfer auf dem evangelischen Friedhof (Archiv Müller)
Ernst für unseren Ort wurde es aber zehn Tage später, nachdem inzwischen fast ständig über uns Fliegeralarm gelegen war. Unvergesslich wird den damaligen katholischen Erstkommunikanten der 8. April, der Weiße Sonntag, bleiben, wo sie, unter schwerster Luftgefahr flüchtend, der Kirche zueilen mussten, in der dann so auch die ganze feierliche Handlung unter größter Aufregung vor sich ging.
Der 11. April — ein Mittwoch — brachte Oberkochen den eigentlichen schweren Luftangriff nachmittags 16.45 Uhr. Die Straßen waren damals voll von deutscher militärischer Nachhut, SS-Männern und Zivilpassanten aller Art. Vor dem Gasthaus und Metzgerei »Zum Lamm« standen annähernd hundert Frauen an, um Fleisch und Wurst einzukaufen. Da erschienen bei hellem Sonnenschein wieder die fünf französischen Flugzeuge, »Rotschwänze«***, wie sie der Volksmund getauft hatte und kreisten über dem Dorfe. Es waren dieselben, die schon am Ostersonntag den Gefangenenzug auf dem Bahnhof beschossen hatten. Sie pendelten in rasender Fahrt hin und her und verbreiteten mit einsetzendem, starkem Bordwaffenfeuer Furcht und Schrecken. Und schon fielen auch 25 kg schwere Bomben, zwei davon in die Dorfmitte. Ein Volltreffer zerstörte die drei engzusammengebauten Wohnhäuser der Familien Eugen Winter-Fischer, Josef Brunnhuber und Paul Betzler. Die zu Hause weilenden Familienangehörigen und einige zugeeilte Straßenpassanten — 14 an der Zahl — eilten in den frisch hergerichteten Keller des Landwirts Winter. Kaum in diesem recht angelangt, krachte schon der Volltreffer, der die drei Häuser zum Einsturz brachte.
***Die französischen Flugzeuge, die im Zweiten Weltkrieg als “Rotschwänze” bezeichnet wurden, waren die Dewoitine D.520. Diese Bezeichnung rührt von den markanten roten Leitwerken dieser Jagdflugzeuge her.
Acht Personen kamen durch die erste Bombe ums Leben: Die 37jährige Hausfrau, deren betagte Mutter, drei Kinder der Schwestern der Hausfrau, das Dienstmädchen und zwei Mädchen des Hauses Brunnhuber. Mit mehr oder minder schweren Verletzungen konnten sich die übrigen sechs Personen in größter Todesnot aus den sie fast erdrückenden Trümmern des niedergestürzten Hauses retten.
Eine zweite Bombe fiel durch das Dach des Viehstalles von Landwirt Karl Gold (Schmidjörgle), zum guten Glück, ohne zu zünden. Zwei Kühe wurden schwer getroffen.
Die dritte Bombe platzte auf der Ortsstraße am Südende beim Hause Gemeindepfleger Ebert und richtete beiderseits der Straße Materialschaden an. Die vierte hatte den Fabrikanlagen der Firmen Leitz gegolten. Sie zerstörte einen Bau der Firma Fritz Leitz inmitten der Werke.
Die letzte Bombe hatte sich in den Waldteil »Tierstein« verirrt, ohne größeren Schaden zu machen.
Die Tage zwischen dem 11. und 23. April vergingen unter ständiger Luftgefahr in großer Aufregung. In Aalen wurden die Magazine und das Proviantamt der deutschen Wehrmacht geräumt. Eine Anzahl Bauernfuhrwerke holten vom 19. bis 21. April nachts große Fuhren Lebensmittelvorräte ab. Diese wurden dann in der Fabrik Bäuerle am 21. und 22. April zur großen Freude der hiesigen Einwohnerschaft verteilt. Sonntag nachts, um 1 Uhr, den 22. auf 23. April, begann plötzlich ein emsiges, immer mehr anwachsendes Treiben, Rennen und Fahren mit Handwagen und sogar Fuhrwerken. Der große Kaffeevorrat der Wehrmacht, der im Saale der »Restauration zum Bahnhof« gelagert hatte, war zum Abtransport auf dem Bahnhof bereitgestellt. Es kam nicht mehr dazu und die Bahnverwaltung gab den riesigen Vorrat für die Bevölkerung frei. In Eile ging es zur nächtlichen Stunde darauf los. Ein Lichtblick für alle Kaffeetrinker! In manches Haus kamen viele Zentner und der gute Kaffee ging lange nicht mehr aus, zur Freude seiner Liebhaber!
Die Amerikaner hatten die Absicht der deutschen militärischen Leitung, das obere Kochertal zu verteidigen, erkannt. Schon im Oktober 1944 war der hiesige Volkssturm in Stärke von über 400 Mann aufgerufen worden. Er trat im Januar 1945 in Tätigkeit mit Instruktionen und Geländeübungen am Sonntag, dann noch Übernahme des Geländeschutzes und der Wache bei Nacht. Im April musste der »Volkssturm« mit Hilfe von Kriegsgefangenen im Waldgelände gegen Aalen Panzersperren anlegen, so im Tiefental, Hagental, vor Tauchenweiler, im Langen und anderen Plätzen. Erbitterung und Widerspruch über dieses nutzlose Beginnen aber löste es aus, als auch eine Panzersperre am Ortseingang strengstens befohlen wurde. Die Ortsbewohner sahen nur Schlimmes über solch nutzlosen Widerstand voraus, der vom SS-Kommando rücksichtslos befohlen worden war. Am Abend des 23. April mussten deshalb Volkssturmmänner diese Barrikade aus etwa 20 bereitgelegten Baumstämmen errichten unter Empörung aller vernünftig Denkender der Ortschaft. Aber nachts um zwei Uhr griffen beherzte junge Männer zur Selbsthilfe und entfernten die Panzersperre zur großen Beruhigung der Einwohnerschaft. Am gleichen Tag, dem 23. April, war hier ein Sprengkommando angekommen, um die beiden Brücken bei Elser-Kreuzmühle und am südlichen Ortsausgang bei Fabrik Oppold zu sprengen. Bald sah der leitende Pionieroffizier die Nutzlosigkeit ein, die erstere zu zerstören, da diese mit Leichtigkeit links talaufwärts umgangen werden konnte. Die Pioniere befestigten daher am Abend nur an der zweiten Brücke bei Oppold eine große Sprengladung unter den steinernen Pfeilern. Nachdem um zwei Uhr nachts zwei hiesige Bauerngespanne, welche verwundete und fußkranke Soldaten bis Itzelberg befördert hatten, auf der Heimkehr die Brücke passiert hatten, wurde diese gesprengt. Die ganze in den Luftschutzkellern weilende Bevölkerung fuhr erschreckt aus dem Halbschlaf auf bei diesen donnernden Signalen bevorstehenden Schreckens.
Die SS, die in der Fabrik Leitz Quartier genommen hatte, und auch das Sprengkommando, zogen, nachdem sie die Straße nach Königsbronn vermint hatten, in südlicher Richtung ab. Auch die auf der »Kuhsteige« und im »Ried« von deutschen Kanonieren in Stellung gebrachten Geschütze wurden schleunigst abtransportiert. Vor der Ortschaft waren im »Bühl« und beim nördlichen Bahnübergang Bayer Geschütze aufgestellt worden, um den anrückenden Gegner zu beschießen und aufzuhalten. Aber das deutsche Feuer war nur noch schwach und ohne Wirkung.
Die amerikanische Artillerie hatte schon vor dem 23. April auf dem »Essinger Feld« Stellung bezogen zur Beschießung Oberkochens. Am 23. April schoss sie sich auf die deutschen Geschütze ein. Ein Treffer fuhr in den Keller des Bahnwarthauses Bayer und tötete einen deutschen Soldaten; ein zweiter deutscher Soldat fiel außerhalb des Hauses; die Kameraden begruben beide an einem nahen Hügel. Später wurden sie auf Befehl der amerikanischen Militärregierung von SA-Männern auf dem katholischen Friedhof beigesetzt.
Sämtliche deutschen Geschütze wurden in der Nacht des 23. April in Richtung Heidenheim abbefördert.
Am Morgen des für Oberkochen schwersten Kriegstages, dem 24. April 1945, Schlag halb neun Uhr, setzte der erste amerikanische Feuerüberfall ein. Nach etwa zehn Minuten folgte eine Pause und aufklärende Flieger kreisten über uns. Dann folgte die länger andauernde, heftige Beschießung. Während dieser wurden vier Gebäude ganz zerstört:
- Das Wohnhaus des Anton Gold beim Schulhause an der Dreißentalstraße
- des Jakob Jooss in der Feigengasse
- des Julius Lindner im Katzenbach und
- der Materialschuppen der Firma Günther & Schramm am Bahnhof
- Etwa zehn Gebäude wurden sehr stark und
- weitere 20 weniger schwer beschädigt
Feuer zurückverlegt hätte. Ein erfahrener Artillerist zählte zwischen Ortschaft und Siedlung allein 56 Granateinschläge auf das freie Feld. Um elf Uhr ließ die Beschießung nach, da erkannt worden war, dass keine Verteidigung einsetze. Schon streiften die ersten gegnerischen Vorposten heran und zwischen zwölf und 13 Uhr rückte das Gros der Amerikaner in die Ortschaft ein.
Der erste Befehl lautete: Jedes Haus zeigt unverzüglich die weiße Flagge! Die Hauptmacht zog mit Panzern und Geschützen auf der Landstraße und im Wiesental weiter Richtung Königsbronn — Heidenheim.
In den letzten Tagen war das Rathaus führerlos und verwaist worden, da der Bürgermeister, dem vorher ergangenen Befehle der Kreisleitung folgend, mit dem zweiten Gemeinderat und Bürgermeisterstellvertreter die Ortschaft am 22. April morgens im Auto verlassen hatte in Richtung nach Süden. Nach dem Einzug der Amerikaner übernahmen einige Männer von Oberkochen, die der NSDAP nicht angehört hatten, die Amtsgewalt auf dem Rathaus. Bald aber nach der Bildung der amerikanischen Militärregierung im Kreis, wurde der frühere Ortsvorsteher, Altbürgermeister Richard Frank, als Bürgermeister wieder eingesetzt.
Viktor Turad schrieb vor einigen Jahren einen Artikel auf Basis der Erzählungen von Trudl Fischer (Tochter von „P.X.“ J.P. Fischer):
„Der April 1945 wurde für Oberkochen zum schlimmsten Monat des Krieges“.
Der April vor 75 Jahren ist für Oberkochen der schlimmste Monat des ganzen Krieges gewesen. Am 24. April mit dem Einmarsch der Amerikaner ist er für sie zu Ende gegangen. Aber bevor es soweit war, kam es knüppeldick für die Einwohner, berichtete später Trudl Fischer, deren Vater „P.X.“ J. P. Fischer von den siegreichen Amerikanern an jenem Apriltag zum provisorischen Bürgermeister ernannt worden war.
Oberkochen war damals noch eine Gemeinde mit rund 2.000 Einwohnern. Durch Evakuierungen aus den größeren Städten Württembergs und aus Westdeutschland sowie durch die ersten Flüchtlinge aus dem Osten war sie zu Beginn des Jahres 1945 mit mehr als 2.500 Menschen überbelegt. Aber erst ab dem Frühjahr gerieten die Menschen wegen der häufigen Tieffliegerangriffe in akute Gefahr.
So traf am Ostersonntag, 1. April, die erste große Jagdbomberattacke auf den Bahnhof in Oberkochen, 2.000 Häftlinge, die vom Konzentrationslager Neckarelz im Odenwald über Ulm ins KZ Dachau gebracht werden sollten, was aber die Piloten nach Zeitzeugenberichten nicht wissen konnten. Elf Häftlinge und ein Wachmann kamen ums Leben, es gab viele Verletzte. Weil Häftlinge aus den Viehwaggons ins Freie fliehen konnten, bemerkten die Piloten ihren Irrtum und brachen die Attacke ab.
Am folgenden Sonntag wurde in der katholischen Kirche Sankt Peter und Paul zwar ungestört Erstkommunion gefeiert – aber die Angst vor weiteren Luftangriffen lag über dem Fest. Denn Flugzeuge kreisten während des Gottesdienstes in der Luft. Die Attacke folgte drei Tage später, am 11. April. Um durchziehende deutsche Truppen anzugreifen, nahmen am Nachmittag alliierte Jagdbomber den Ort mit Maschinenkanonen und Bomben unter Beschuss.
Die fremden Truppen rückten immer näher und man konnte schon von weither das Grollen der Geschütze hören, berichtet Trudl Fischer über die folgenden Wochen. „Unaufhörlich donnerten amerikanische und englische Bomber über uns und in der Nacht sah man über den Bergen den Feuerschein der zertrümmerten Städte. Die Menschen brachten ihren letzten Hausrat in die Keller und sicherten diese mit Streben gegen Einsturzgefahr ab.“
Am 23. April hätten die letzten deutschen Soldaten das Dorf auf Drängen der Oberkochener Bevölkerung verlassen. Verteidigung wäre Fischer zufolge sinnlos gewesen, und hätte nur noch unnötige Todesopfer gefordert. Auch die Sprengung der Kocherbrücke habe dank des Einsatzes ihres Vaters verhindert werden können. Die Panzersperre bei Wannenwetsch hätten bei Nacht einige Männer wieder abgebaut, trotz der Drohung, dass sie das den Kopf kosten würde. Trudl Fischer: „Dann kam die Nacht, in der alles den Atem anhielt. ‘Was wird der nächste Tag uns wohl bringen?’ war die bange Frage. Es kam erst mal knüppeldick. Am Dienstag, 24. April 1945, morgens gegen 8 Uhr, hörten wir erst ein Flugzeug ununterbrochen über dem Ort kreisen. Dann setzte schlagartig heftiges Granatfeuer ein.
Rings um uns (Haus hinter Gärtnerei Mahler) gab’s Treffer. Ein Volltreffer zerstörte zuallererst völlig das Haus Gold zwischen „Gubi“ und „Café Muh“. Ein Zweiter riss an der hinteren Ecke der „Gärtnerei Mahler“ die Veranda herunter. Der Hund war unten noch angebunden und gebärdete sich wie rasend, bis er sich losreißen konnte. Mein Vater war noch unterwegs, und als er während einer Feuerpause daheim eintraf, rannten Nachbar Beißwengers um die Ecke und schrien „unser Haus brennt, unser Haus brennt“. Dach und Dachstuhl waren zwar stark beschädigt, aber Gott sei Dank hatten sie im ersten Schrecken nur den heruntergefallenen Sand und Staub für Feuer und Rauch gehalten.“ Trudl Fischer berichtet weiter: „Kurz nach 12 Uhr war dann plötzlich Totenstille. Darauf folgten die Geräusche von fahrenden Panzern. Aus dem Keller kommend war unser erstes, nach den Nachbarn zu sehen, ob auch nichts passiert sei. Glücklicherweise hatten Mahlers den Luftschutzstollen nicht benutzt, den sie kurz zuvor noch gegraben hatten, sondern waren in den Luftschutzkeller der Dreißentalschule gegangen. Dort hatten auch die anderen Zuflucht gesucht und man war froh, dass sich alle heil wiedersahen.“
Auf dem Rathaus wurde Trudl Fischers Vater, so berichtet sie selbst, von einem jüdischen Verbindungsoffizier der Amerikaner, der ausgezeichnet Deutsch gesprochen habe, ziemlich kühl und herablassend empfangen und nach einem langen und ausführlichen Gespräch zum provisorischen Bürgermeister ernannt. „Wir haben dann auch in unserer Wohnung das erste Glas Wein mit den Amerikanern getrunken. Ja, und dann gab’s viel zu tun, um all die Anweisungen und Verordnungen der neuen Herren durchzuführen. Die Sperrstunde wurde eingeführt. Von 6 Uhr abends bis 6 Uhr morgens durfte sich niemand auf der Straße blicken lassen.“ Sie fährt fort: „Die vielen Evakuierten wollten heim, andere hatten in Aalen oder Heidenheim zu tun, und jeder, der aus dem Dorf raus wollte, brauchte einen Erlaubnisschein in Deutsch und Englisch. Ich hatte alle Hände voll zu tun, um diese auszufüllen. Alle Waffen mussten abgeliefert werden. Durchziehende vereinzelte deutsche Soldaten brauchten Rat und Hilfe und oft ein Stück Brot mit auf den Weg. Die ersten Flüchtlinge trafen ein und mussten versorgt werden. Alle Kriegsgefangenen und Deportierten wurden auf dem schnellsten Weg in die Heimat verschickt, wobei manche Leute in Oberkochen, die sich aus guten Gründen hätten verstecken müssen, sehr aufatmeten. Die amerikanischen Truppen durften damals noch keine Kontakte zur Bevölkerung aufnehmen, aus Angst, sie würden in Hinterhalte gelockt. Zu Ausschreitungen kam es in Oberkochen nicht.“
Viktor Turad schrieb vor 10 Jahren auch folgenden Bericht mit der Headline
„Heute vor 70 Jahren haben amerikanische Truppen die Kreisstadt besetzt“
Auf den Tag heute vor 70 Jahren ist in Aalen der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Am 23. April 1945 besetzten US-Truppen die Stadt, eine Woche nach dem schwersten Luftangriff, den sie erlebt hatte. Nun konnten die Aalener sehen, welchem übermächtigen Gegner sie nach dem Willen der NS-Machthaber hätten Widerstand leisten sollen, hat Hugo Theurer 1951 notiert: „Massenhaft fluteten die amerikanischen Formationen durch die Stadt in der Richtung nach Heidenheim, alle gut bewaffnet, gekleidet und genährt.“
Wie Theurer weiter berichtet, hatte sich da bei der Bevölkerung schon längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Krieg Wahnsinn ist und das deutsche Volk in den Abgrund führt. Als in den letzten Kriegstagen der Plan aufgetaucht sei, Aalen zu verteidigen, habe sich diese Stimmung Bahn gebrochen. Theurer berichtet: „Bürgermeister Dr. Schübel war entschieden gegen die Verteidigung und hatte damit die Mehrzahl der Bürger auf seiner Seite. Leider besaß er nicht die Mittel, den Gang der Ereignisse zu ändern.“ Er und Landrat Engel wurden vielmehr am 19. April 1945 von der SS abgesetzt, weil beide als unsichere Kantonisten galten. Die Folge sei gewesen, dass sich die Ordnung habe zu lockern begonnen, die Unsicherheit habe zugenommen.
Den lokalen NS-Größen blieb dies nicht verborgen. Sie drohten daher jedem mit Erhängen und Erschießen, der Panzersperren beseitigte. Ebenso bestraft werden sollte auch jeder, der sich nicht zum Volkssturm stellte oder von dort desertierte. Trocken kommentiert Theurer: „Der letzteren waren es allerdings so viele, dass ihr Aufhängen doch einige Mühe verursacht hätte.“ Dr. Hans Biedert berichtet, dass sich alle Volkssturmeinheiten im Aalener Vorgelände selbst beurlaubt hätten. Die meisten seien nach Hause gegangen, etliche seien in Gefangenschaft abgeführt worden.
Nachdem sich die deutsche Artillerie nach Oberkochen zurückgezogen habe, sei das ganze Verteidigungskonzept für die „Festung Aalen“ eingestürzt. Zuvor hatte der NS-Kreisleiter noch verkündet, die Amerikaner würden gar nicht nach Aalen kommen, weil sie bei Crailsheim zurückgeschlagen und in Richtung Nürnberg abziehen würden. Und der NS-Stadtkommandant tönte laut Theurer: „Die Amerikaner beißen auf Granit, wenn sie Aalen angreifen!“
Deren Hauptkolonne rückte aus Richtung Crailsheim an und rollte links und rechts an Ellwangen vorbei. Am Sonntag, 22. April, nahm sie Lippach unter Feuer, als die Mehrzahl der Einwohner gerade beim Mittagessen saß. An diesem Nachmittag wurden die Stellungen oberhalb von Himmlingen geräumt. Der NS-Kreisleiter suchte sein Heil in der Flucht, wurde von den Alliierten allerdings bei Biberach geschnappt. Auch der NS-Stadtkommandant suchte das Weite. Theurer: „Seine letzte Heldentat war die Sprengung der Eisenbahnbrücke am Katzengumpen, in Anbetracht des total zerstörten Bahnhofes in Aalen eine völlig sinnlose Maßnahme, die an Wahnsinn grenzte. Nicht anders muss man auch die Sprengung der Eisenbahnbrücke in Wasseralfingen bewerten.“ Am Abend rollten die amerikanischen Panzer von Wasseralfingen kommend bis zur Aalener Stadtgrenze und schossen einige Häuser in Brand. Zur Mittagszeit am darauffolgenden Montag, 23. April, war Aalen, ebenso wie übrigens Westhausen, ganz in ihrer Hand. Bopfingen und die Bahnlinie bis nach Röttingen war bereits seit Samstag besetzt.
Damit strömten, wie Theurer weiter berichtet, auch gefangene und verschleppte Russen, Polen und Franzosen nach Aalen. Es kam zu Raub und Plünderungen, so dass der Ortskommandant ein nächtliches Ausgehverbot erließ. Er ordnete weiter an, dass bis Dienstag, 24. April, 16 Uhr die Panzersperren beseitigt sein müssten und Hieb‑, Schuss- und Stichwaffen abzugeben seien.
Allmählich begann sich danach das Leben zu normalisieren. Ende Juni fuhr die Eisenbahn wieder. Doch das neue Zeitalter brachte auch neue Ungewissheit: Bald setzte eine riesige Welle von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen ein, die ein neues Dach über dem Kopf brauchten und Stadt und Kreis vor neue Herausforderungen stellten

Die Zerstörung in Aalen im Bereich der Olgastraße am 17. April 1945 (Archiv SchwäPo)
Erinnerungen an den Bombenangriff im April 1945 auf Aalen
Wie eine Aalenerin und ihre Kinder im Weinkeller des „Olga“ überlebten.
„Diesen Angriff verbrachten wir mit den Kindern im Weinkeller vom Hotel Olga (Anm.: heute Commerzbank in der Bahnhofstraße), den wir in den vergangenen 14 Tagen sechs- bis achtmal, aus dem Parterrefenster unseres nebenstehenden Hauses springend, aufsuchen mussten. Alles rückte bei den Bombeneinschlägen in die entfernteste Ecke und die Kinder schrien. Es kam ein starker Windstoß (von der Explosion der Bomben), der das Fenster aufriss und die Scheiben zertrümmerte. Dann hörte man ein Krachen und Zischen – man atmete nur noch Staub. Danach kamen die ev. Gemeinde-schwestern und Frau Schwenk vom Gemeindehaus (Anm. heute VR-Bank), zitternd und vollständig erschöpft. Auf unsere Frage, wie es droben aussieht, konnten sie uns gar nicht antworten. Bei ihnen hatte es das halbe Haus (den Gemeindesaal) weggerissen, während sie sich im angrenzenden Keller befanden.
Nun gingen einige Ausländer (Zwangsarbeiter) nach oben, kamen aber schnell zurück und sagten nur: alles kaputt.
Um 20 Uhr gingen wir dann auf die Straße und standen verstört umher und betrachteten das Geschehene. Wie durch ein Wunder stand unser Haus (Foto Baur) noch, während ringsum alles zerstört war. Wir hatten allerdings auch keine Fenster und Türen mehr im Haus. Das Dach war abgedeckt und innen große Schäden. Aus dem Bombentrichter vor unserm Haus waren Erdklumpen und Steine durch die Fenster und Decken und Wände geflogen. Die Garage war durch Erd- und Steinbrocken total zerschlagen. Unser Garten glich einem Gebirge. Das nächste Haus (Anm. Gärtner Schwarz) war total verschwunden. Die Bewohner alle tot. Der Bombentrichter vor diesem Haus war der größte unter den sieben in der näheren Umgebung. Ich blieb an diesem Abend bei Böhringers (Anm.: Besitzer des Olga) im Keller und auch an den folgenden Tagen. Wir sollten danach auf Anordnung der Stadtverwaltung während der Verteidigung Aalens die Stadt verlassen. Am Freitag früh um 7 Uhr machten wir uns auf den Weg nach Waldhausen. Und wurden von Jagdfliegern verfolgt … Am Sonntag, 22. April, machten wir uns bei Schneegestöber wieder auf den Heimweg. Es bot sich uns ein lähmender Anblick. Ausländer (Zwangsarbeiter) waren ins Haus eingebrochen und hatten schrecklich darin geplündert. Wir haben bei der Oma im Keller geschlafen …“Erwin Hafner
Bomben auf das Aalener Bahnhofsgelände
Als die Menschen in der Stadt am 17. April 1945 auf einen ruhigen Dienstagabend hoffen, kommt es knüppeldick: In zwei Wellen greifen Mittelstreckenbomber der US-Luftstreitkräfte das Heereszeugamt und die Anlagen des Bahnhofs an.

Der zerstörte Bahnhof in Aalen am 17. April 1945 (Archiv Schwäbische Zeitung)
Genau 75 Jahre sind an diesem 17. April 2020 vergangen, seit zweimotorige US-Kampfbomber gegen Ende des Zweiten Weltkrieges Aalen bombardierten. Zwei Angriffe flogen die “Marauder”-Mittelstreckenbomber. Der erste galt dem damaligen Heereszeugamt (heute: Firma Mapal), der zweite dem Bahnhofsareal. Die Absicht dahinter: Den Bahnknotenpunkt Aalen auszuschalten, um Transporte von Soldaten und Kriegsausrüstung zu verhindern.
Es ist nicht der erste Fliegerangriff, den Aalen im Frühjahr 1945 erlebt. Doch der erste Luftangriff am 20. Februar kann eigentlich nur als ein Geplänkel angesehen werden. Erst von Ostern an (Anfang April) werden die Angriffe ernsthaft und verursachen größere Sachschäden. 14 Tage nach dem Osterfest wollen die alliierten Luftstreitkräfte das Heereszeugamt und den Eisenbahnknotenpunkt Aalen zerschlagen: Am 17. April 1945, einem Dienstagmorgen, greifen Jagdbomber das Bahnbetriebswerk an, zerstören den Lokschuppen und sechs Lokomotiven.
Um 18.30 Uhr, als die Menschen schon auf einen ruhigen Abend hoffen, heult erneut Fliegeralarm auf. Diesmal rasen nicht die Jagdbomber über die Stadt, sondern aus Richtung Essingen brummen 32 Marauder-Bomber heran: zweimotorige Flieger, von denen jeder eine überschwere Bombe trägt.
Ihr erstes Ziel: das Heereszeugamt in der Oberen Bahnstraße. Mitsamt seiner Umgebung sinkt es in Schutt und Asche. Die Aalener, die noch oder schon wieder in der Stadt sind, flüchten in Keller und die Luftschutzstollen.
Einer davon liegt unmittelbar östlich des Bahnhofs beim Gaswerk. Dort gehört der spätere Kreisarchivar Bernhard Hildebrand zu denen, die die Erschütterungen spüren, davon am stärksten die Bombeneinschläge, die den Bahnübergang bei der “Neuen Welt” umpflügen.
Was Hildebrand und die Menschen in seiner Umgebung nicht ahnen: Es kommt noch schlimmer, ein zweiter Bombenangriff folgt unmittelbar. Er hat den Bahnhof zum Ziel. “Plötzlich beginnt der Stollen unter ganz nahen Bombeneinschlägen zu schwanken”, berichtet Hildebrand in seinem später in Auszügen veröffentlichten Tagebuch. “Harte Schläge treffen die Deckung, durch den Eingang dringt das Krachen einer schweren Detonation, zugleich Staub und Gas. Hüte werden von den Köpfen gerissen, Steine in den Stollen geschleudert. Eine Panik bricht aus. Alles drängt zum Ausgang in der Hirschbachstraße, da man den Eingang hinter dem Gaswerk für verschüttet hält. Meine Nachbarin hat sich an mich geklammert und bittet mich, sie doch nicht zu verlassen.”
Bernhard Hildebrand und etliche weitere Männer packen Schaufeln und Hauen. Es gelingt ihnen, den Eingang beim Gaswerk freizulegen. Sie klettern ins Freie und stehen vor einem respektablen Bombentrichter.
“Der Bahnkörper war von einer ganzen Anzahl von Sprengtrichtern aufgewühlt. 22 Stück wurden gezählt, einige hatten einen Durchmesser bis 27 Meter”, berichtet Hugo Theurer in seinem Buch “Aalen im 2. Weltkrieg” von den Schäden des 17. April: “Die teilweise primitiven Keller waren kein Schutz gegen Fliegerangriffe und wurden eingedrückt.”
33 Menschen kommen ums Leben. Fünf Soldaten suchen Schutz in der Hirschbachunterführung, die das Bahngelände unterquert. Keiner von ihnen sieht das Tageslicht wieder. Besonders schwer trifft es das Bahnhofsgebäude. Das Kino, die Buchhandlung Henne und das Hotel “Kronprinzen” werden völlig zerstört. Die Metzgerei Meidert an der Ecke zur Olgastraße bleibt zur Hälfte stehen. Die Olgastraße selbst ist ein Trümmerfeld. Zwei Häuser liegen in Schutt und Asche, davor ist die Straße verschwunden und drei Bombentrichter öffnen sich zu einem beeindruckenden Krater. In ihm bildet sich schnell ein kleiner See, weil eine der Bomben die Wasser-Hauptleitung zerrissen hat. Aus der Kocherstraße hört man die Hilferufe von Verschütteten. Über allem liegt eine Staub- und Dunstwolke, die die Sicht in die Ferne trübt.
Zu den Vorkommnissen in dieser Zeit gibt es einige Berichte, die hoffentlich bald wieder auf der Website des Heimatvereins aufgerufen werden können:
- 177, 178 und 181 5 Unbekannte Opfer 1. April 1945 Teil 1 bis 3
- 240 Das Kriegsende in Oberkochen vor 50 Jahren
- 286 Neues zum Luftangriff beim Bahnhof Oberkochen am 1. April 1945
- 313 bis 317 Gefangenen-/Zwangsarbeiterlager WKII in Oberkochen Teil 1 bis 5
- 322 Überfall auf den Teussenberg am 11. Juni 1945
- 478 Das Kriegsende in Oberkochen vor 60 Jahren
- 571 1. April 1945 — Jabo Überfall auf Häftlingstransport beim Bahnhof
- 712 Eine Kindheit im Dreißental während der Kriegszeit
- SchwäPo 1988 Das Schlimmste war, als die Flugzeuge zurückkamen
Wie leben wieder in unruhigen Zeiten und es ist sicher nicht gut, wenn sich unter den politisch Verantwortlichen keine Menschen mehr befinden, die wissen was Krieg physisch und psychisch bedeutet. Und so leben wir unser tägliches Leben weiter, in der Hoffnung, in 10 Jahren wieder daran erinnern zu können – wer immer das dann als Nachfolger von Dietrich Bantel und mir machen wird.
Wilfried „Billie Wichai“ Müller – Billie vom Sonnenberg