Der Englän­der-Paul.

Wenn man über das Dreißen­tal recher­chiert, kommt man an ihm (sein richti­ger Name war Paul Anton Gold) nicht vorbei und so verein­bar­te ich mit Fried­helm einen Termin, um über seinen „Ähle“ (Opa) zu sprechen und war mehr als überrascht, was er für einen reichen Fundus zur Famili­en­ge­schich­te hat.

Ein beson­de­rer Mann mit vielen Fähig­kei­ten und einem ungewöhn­li­chen Lebens­lauf. Geboren wurde er am 7. Januar 1884 in Oberko­chen ins Geschlecht des Schmied-Jörgles. Nach der Schule machte er eine Schlos­ser­leh­re (wo ist mir nicht bekannt) und anschlie­ßend beruf­li­che Erfah­run­gen (Mögli­cher­wei­se in Berlin und Esslin­gen). Zu Beginn des 20. Jahrhun­derts fasste er einen Entschluss – er ging nach England. Ein Brief belegt, dass er schon 1906 in London war. Als er eines Tages bei einem Besuch in Oberko­chen, vielleicht während eines Treffens in einer hiesi­gen Gaststät­te, die Katha­ri­na Grupp fragte, ob sie mit ihm nach England gehen würde, war die Antwort positiv. Wo und wann gehei­ra­tet wurde, ist mir nicht bekannt. Nachdem sein Sohn Paul am 22. August 1912 in London geboren wurde, ist davon auszu­ge­hen, dass Katha­ri­na 1910/1911 nach London kam. Paul hatte inzwi­schen eine florie­ren­de Autowerk­statt in Fulham aufge­baut und die Familie wohnte im selben Stadt­teil in der Epirus Road.

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Man ist wer – mit Familie und Hund vor dem Haus in Fulham (Archiv Brachmann)

Fulham

hat eine Geschich­te der Indus­trie und des Unter­neh­mer­tums, die bis ins 15. Jahrhun­dert zurück­reicht, mit Töpfe­rei, Tapis­se­rie­we­be­rei, Papier­her­stel­lung und Braue­rei im 17. und 18. Jahrhun­dert in der heuti­gen Fulham High Street und später in der Automo­bil­in­dus­trie, der frühen Luftfahrt, der Lebens­mit­tel­pro­duk­ti­on und Wäsche­rei­en. Im 19. Jahrhun­dert gab es Glasblä­ser und dieses wurde im 21. Jahrhun­dert mit dem Aronson-Noon Studio und der ehema­li­gen Zest Gallery in der Rickett Street wieder­be­lebt. Lillie Bridge Depot, ein 1872 eröff­ne­tes Eisen­bahn­tech­nik­de­pot, ist mit dem Bau und der Erwei­te­rung der Londo­ner U‑Bahn verbun­den, der Elektri­fi­zie­rung von U‑Bahn-Linien aus dem nahe gelege­nen Lots Road Power Stati­on und ist seit weit über einem Jahrhun­dert der Wartungs­kno­ten­punkt für Schie­nen­fahr­zeu­ge und Gleise.

Sport­lich berühmt ist Fulham für die beiden Fußball­ver­ei­ne, FC Fulham und FC Chelsea. Zwei weite­re bemer­kens­wer­te Sport­ver­ei­ne sind der Hurling­ham Club, bekannt für Polo, und der Queen’s Tennis Club, bekannt für sein jährli­ches Tennis­tur­nier vor Wimbledon.

Das Leben meinte es gut mit ihm. Durfte er doch auch für das Königs­haus dienst­bar sein, indem er den könig­li­chen Nachwuchs Fahrstun­den gab. Aufgrund des Alters kommen im Grunde nur der späte­re König Georg VI. oder Edward VIII (der die Ameri­ka­ne­rin Wally Simpson heira­te­te) in Frage. Dem Bericht von Viktor Turad aus „Mein Oberko­chen“ zufol­ge, war es wohl Georg VI und nicht ein Butler oder gar ein Gärtner, wie ein Spaßvo­gel anmerk­te. Auch hatte er die General­ver­tre­tung für „Renault“, die aus unbekann­ten Gründen mit einer sog. „Farewell Party“ am 1. März 1913 beendet wurde. Solche eine Party veran­stal­te­te auch „Shell“ für ihn.

Doch dann brach das Unheil über Europa und die Welt herein. Am 1. August 1914 erklär­te der deutsche Kaiser Wilhelm I. die General­mo­bil­ma­chung. Die Englän­der konfron­tier­ten Paul Gold mit zwei Möglich­kei­ten: Mitar­beit in einer Fabrik für die Waffen­pro­duk­ti­on oder Überstel­lung in ein Inter­nie­rungs­la­ger. Als Deutscher sah sich Paul außer­stan­de Waffen zu ferti­gen, mit denen auf seine Lands­leu­te geschos­sen werden sollte. So trenn­ten sich die Wege der Familie. Katha­ri­na zog mit Sohn Paul nach Oberko­chen und Paul Anton zog 1914 als PoW (Prisoner of War) in das „Knock­a­loe Inter­ne­ment Camp“ auf der Isle of Man. Am 24. Dezem­ber 1918 wurde er in das Lager „War Camp Alexan­dra Palace“ in London verlegt. Jeder, der sich heutzu­ta­ge für den „Dart-Sport“ inter­es­siert, kennt das Gelän­de – es heißt heute in der Koseform „Ally Pally“. Vielleicht würden wir ohne das Inter­nie­rungs­la­ger seinen Namen heute auch auf der Erinne­rungs­ta­fel der 55 bzw. 56 Kriegs­to­ten und Vermiss­ten lesen. Angemerkt sei hier noch, dass er kurz vor Ende des II. Weltkrie­ges im Alter von 61 Jahren noch gemus­tert wurde, bevor am 8. Mai 1945 das Ende des II. Weltkrie­ges gefei­ert wurde.

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Was es nicht alles gab – Postkar­ten aus dem Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­ger 1915 (Archiv Brachmann)

Für die Detail-Beses­se­nen ???? nachste­hend zwei Links zu den beiden Aufent­halts­or­ten von damals

Knock­a­loe WW1 Inter­nie­rungs­la­ger | Knock­a­loe | Insel Man

Alexan­dra Palace – Wikipedia

Jeder Krieg geht einmal zu Ende und damit auch für Paul Anton die Zeit in England. Er kehrte wohl im ersten Quartal 1919 nach dem Krieg nach Oberko­chen zurück und zog mit seiner Frau und seinem Anton in das kleine Häusle hinter der Schrei­ne­rei Clemens Grupp ein. Arbeit fand er beim WIGO. Paul Anton war ein fähiger Mann und arbei­te­te noch nach Feier­abend in der Firma und konstru­ier­te die erste Zinken­fräs­ma­schi­ne, die er auf seinen Namen paten­tie­ren wollte. Das wollte der damali­ge WIGO-Chef auf keinen Fall. Man zog vor Gericht und WIGO bekam Recht. Aus diesem Zerwürf­nis heraus wechsel­te Paul Anton zu Leitz und WIGO starte­te seine große Zeit als Maschi­nen­her­stel­ler, deren Beginn sicher dem Paul Anton Gold mit zu verdan­ken ist.

Das Dreißen­tal war Anfang der 1920er Jahre sehr dünn besie­delt und so beschloss Paul dort sein Haus zu bauen. Er baute in der damali­gen Bergstra­ße 288 (heute Sperber­stra­ße 17), unter­halb des Hauses 289 von Josef Brand­stet­ter (heute Lerchen­stra­ße 1), sein Haus. Viktor Turad schreibt zwar 1928, aber nachdem das Brand­stet­ter-Haus mit der höheren Hausnum­mer 1927 gebaut wurde, denke ich, dass auch hier 1927 richtig ist.

Es war die Zeit der Selbst­ver­sor­ger, sofern ein großer Garten vorhan­den war und den hatte er. Es wurde Gemüse angebaut und Obstbäu­me sowie Maulbeer­bäu­me gepflanzt, ca. 50 Hasen und einige Ziegen wurden gehal­ten. Dazwi­schen ging es ab und zu in den „Schlag“ für Holz und Reisig. Und zudem fing er noch eine umfang­rei­che Seiden­rau­pen­zucht im Keller an. Noch nicht genug. Auch als Werbe-Ikone für Carl Zeiss war er tätig, wie wir der Schwä­po vom 29. Oktober 1960 entnehmen:

„Auf frischer Tat ertappt wurde ein 77 Jahre alter aus Oberko­chen stammen­den Wilddieb! Der Mann wurde von fünf gut „bewaff­ne­ten“ Männern „festge­hal­ten“. – Doch es ist ein Wunder, dass der alte Mann noch auf die Jagd geht, denn er besitzt einen ausge­zeich­ne­ten Feldste­cher 8x30B. Durch den kann er auch mit seiner prima Marken-Brille einwand­frei sehen.“

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Eine Werbe­i­ko­ne für Zeiss aus der Sperber­stra­ße (Archiv Brachmann)

Der Mann beschäf­tig­te sich auch mit Homöo­pa­thie, hielt darüber Vorträ­ge und versorg­te seine Familie mit der entspre­chen­den Medizin – der Mann war vollbe­schäf­tigt, keine Frage. Leider verstarb seine Frau schon 1937 im Alter von 47 Jahren.

War dann doch mal Zeit, so ging es auf ein Bier in eine der Oberko­che­ner Gasthäu­ser. Er war bekannt dafür, dass sein Bier „gestaucht“ sein musste. Sein Bier war immer so heiß, dass es regel­recht gedampft hat und es soll vorge­kom­men sein, dass sich mancher „s Maul“ an seiner Flasche verbrannt hat.

Da Paul aus der Kirche ausge­tre­ten war, was für Oberko­chen und die damali­ge Zeit sicher eine Beson­der­heit war, gab es eines Tages beim Bier ein Gespräch mit seinen Freun­den: „Wo sollen wir denn mit dir mal hin, wenn du gestor­ben bist?“ (da es noch keinen Gemein­de­fried­hof, sondern nur konfes­sio­nel­le Fried­hö­fe gab). Er antwor­te­te trocken: „Dann bringt mich halt zum Gaulhim­mel.“ Fried­helm fragte sich als Kind, als er die Geschich­te hörte: „Wie bringt man den da bloß hinauf?“ Er wusste nicht, dass der „Gaulhim­mel“ im Gaintal beim Pulver­turm war ????.

Die Dreißen­tal-Buben nannten ihn immer nur „Schlauch“, weil er immer mit einem kurzen Stück eines Garten­schlauchs, den er in seinen großen Händen hinter dem Rücken verbarg. Wenn er dann einen der frechen Buben erwisch­te, gab’s mit dem Schlauch einen Hosen­span­ner. Natür­lich nicht grund­los, denn die Buben klauten in seinem großen Obstgar­ten seine saumä­ßig guten Äpfel. Obwohl die Buben in ihren elter­li­chen Gärten genug Äpfel hatten – aber, wer weiß das nicht, geklau­te Äpfel schme­cken eben am besten. Und noch besser, wenn es keinen „Schlauch-Kontakt“ gab ????.

Unver­ges­sen, wenn er, mit wehen­dem weißem Bart, auf seinem Moped durch Oberko­chen fuhr. Am 3. Juli 1961 endete sein Lebens­weg zu früh, aber er sah keine Notwen­dig­keit bei einer hefti­gen Erkran­kung einen Arzt zu konsul­tie­ren – es ließ und lässt sich eben nicht alles mit Homöo­pa­thie heilen.

So schade, dass man diesen Mann nicht mehr erzäh­len lassen kann und er ist daher ein klassi­sches Beispiel dafür, dass alles in Verges­sen­heit gerät, wenn nicht irgend­ei­ner in der Familie die Dinge aufschreibt und sich um die Fotos kümmert – denn das bleibt. Alles andere wird irgend­wann verges­sen sein.

Heute bewohnt sein Enkel Fried­helm Brach­mann das Haus, das er von seiner Mutter Elisa­beth „Elly“ (1920−2006) übernom­men hat, die jahrzehn­te­lang ihre Tochter Helga (1947−1995) aufop­fe­rungs­voll gepflegt hat. Der Garten ist eine Augen­wei­de, der durch seinen wunder­schö­nen Stauden­gar­ten (u.a. mit Ritter­sporn) mit einer Natur­stein­um­ran­dung positiv auffällt und das war auch der Grund dafür, dass mein morgend­li­cher Weg vom Sonnen­berg zum Leitz immer durch die Sperber­stra­ße ging. Das sollten sich mal die neuen Häusles-Bauer mit ihren toten Stein­gär­ten anschau­en. (Die Anmer­kung konnte ich mir nicht verkneifen).

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Der Huga-Paule mit seiner Gitar­re „ohne Meer“ (Archiv Müller)

Das Dreißen­tal ohne d‘ Huga Paule?

Das ist schlicht­weg nicht vorstell­bar. Deshalb freut es mich sakrisch, dass ich den Paul dafür gewin­nen konnte, seine Erinne­run­gen zu Papier zu bringen.

„I ben dr Bua vom Dreißatal“, tolle Hymne (eigent­lich aber in Öster­reich geklaut: „Dr Bua vom Loisach­tal“) – gute alte Zeit: Im Haus der Großel­tern Georg und Maria Hausmann, Dreißen­tal­stra­ße 25 – neben dem Sparla­den „Schoch“, bekann­ter Turner mit schwarz­wei­ßem, großem Collie, daneben der „Gruppa Paul“, gegen­über Apothe­ker „Irion“ und das Kino – als Hausge­burt 1951 auf die Welt gekom­men. Mein Onkel Franz Hausmann erzähl­te mal, ganz arg geheult zu haben, als er mich als Säugling zum ersten Mal im Arm hielt (war ja schließ­lich das erste der dreizehn Hausmann­kin­der). Eigent­lich hätte ich nach der Tradi­ti­on den Vorna­men „August“ bekom­men sollen, wurde aber nach dem Bezlers-Onkel, der nach Kriegs­en­de noch in Russland erschos­sen worden war, „Paul“ getauft. Auf dem Nachbars­ge­län­de, wo später dann die Carl-Zeiss-Hochhäu­ser entstan­den, konnte damals noch gespielt oder Skifah­ren geübt werden. Entlang der Firma Jakob Schmid (heute Parkplatz) wurden große, lange Baracken gebaut, in denen die Gastar­bei­ter, haupt­säch­lich Italie­ner, wohnten, die den Zeiss errich­te­ten. Als mein Opa sein letztes Huhn schlach­te­te, flog dieses ohne Kopf völlig überra­schend über den zugewach­se­nen Draht­zaun. Er rannte eiligst ums Haus, doch die Henne war schlicht­weg weg. Eine Woche später etwa kam der Leo, Vorar­bei­ter der Italie­ner, und brach­te etwas Geld als Dank für das vorzüg­li­che Huhn. Gerne denke ich an die Zeitungs­aus­trä­ge­rin Antonia, die hie und da bei meiner Oma Kaffee trank oder an den Motschen­ba­cher, der das Dreißen­tal in den Staren­weg hochging – irgend­wie hatte man ein bisschen Angst vor dem, hab aber sogar ein paarmal mit ihm kurz geredet. Oder an Samstag­mit­ta­gen ging es von halb vier bis vier Uhr zum Baden in Zwischen­bau der Dreißen­tal­schu­le. Mit meinen beiden Geschwis­tern Wolfgang und Monika war ich bei den Geburts­jah­ren weiter ausein­an­der, so dass halt jeder seine eigenen Freun­des­krei­se hatte.

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Da gabs noch Winter – mit den Eltern vor dem Haus und dem ersten großen Zeiss­bau (Archiv Hug)

Meine Eltern August und Zita haben dann 1959/60 in der Frühling­s­tra­ße ihr neues Haus gebaut, eines der ersten Häuser, bei denen der Seitz mit dem Bagger die Baugru­be aushob. Neue Nachbarn waren dann die Famili­en Dr. Gebert – er spiel­te stets an Sonntag­mor­gen genial am Flügel – Dr. Schwarz, Fetzer, Abele, Schön­herr, Bäcker Brammen, Ficht­ner, später Verwandt­schaft Bezlers Done. Beim Zahnarzt sogar mal Lachgas, beim Apothe­ker öfters Trauben­zu­cker probiert.

Man kann’s heutzu­ta­ge kaum mehr glauben: Die Mütter waren vielbe­schäf­tig­te Hausfrau­en (es gab schließ­lich ja keine Kühlschrän­ke, Wasch­ma­schi­nen, Strom­her­de…). Meine Mutter neben­her auch eine bekann­te Schnei­de­rin, die immer viel zu wenig Geld verlang­te, wie ich später kriti­sier­te, etwa als sie Nachbars­mäd­chen Gertrau­de Müller für ein paar Mark das komplet­te Hochzeits­kleid fertig­te. Mit ihren Alters­ge­nos­sin­nen traf sie sich ein paarmal im Jahr zur Kaffee­vi­si­te. Mein Vater begann morgens um 6 Uhr mit der Arbeit, kam zum Mittag­essen heim, dann ging‘s wieder an die Drehbank zum Fabri­kant Schmid bis zum Abend. Zur Finan­zie­rung des Hauses wohnten auch Logier-Herren bei uns, im Bühnen­zim­mer mal die Lißner-Brüder, sowie über der Küche ein Zeiss­ler, Dr. Haas aus Nürnberg, der montags kam und freitags ging und seine eigenen Kinder sehr vermiss­te. Das Holz zum Heizen musste im Schlag beschafft (ohne techni­sches Gerät mit Säge und Schnai­er), dann vom Golden­bau­er zum Haus trans­por­tiert, gesägt, gespal­ten, in den Keller gebeigt oder auf die Bühne gezogen werden – au weh: meinem Opa, sonst fleißig im Garten, streif­te mal so ein Holzklotz den Kopf, weil ich nicht richtig den Korb nach oben gezogen hatte. Und dann spiel­ten wir mit einer ganz tollen Märklin-Eisen­bahn, zu der mein Vater unseres und andere Häuser nach dem Maßstab 1:87 genial gefer­tigt hatte. Auch sprach er, der mit 18 Jahren zu Beginn des 2. Weltkrieg einge­zo­gen worden war, in seinem ganzen Leben nicht ein einzi­ges Wort von dieser Zeit – nur mein anderer Opa, der alte Hugen-Schrei­ner, sagte mal, dass er erst in Frank­reich, dann in Russland gewesen sei. Dem besag­ten Großva­ter musste ich auch hie und da Stumpen bei der Frau Ennepetz (Kiosk) holen.

Für uns Kinder gab es kein Telefon, keinen Fernse­her und alle die anderen aktuel­len digita­len Medien, also stand das Mitein­an­der im Vorder­grund (heut ist’s eher zum Neben­ein­an­der mutiert). Vier alters­mä­ßig zusam­men­pas­sen­de Nachbar-Jungs wuchsen mitein­an­der auf: Schön­herr Willi, Irion Eckard (Spitz­na­me Byba – wohl von Baby, da Nachzüg­ler der großen Geschwis­ter), Schlei­cher Alfred und ich, der Huga Paule. Dann gab’s noch die Wingerts Edeltraud, die wir bösen Buben einfach „Schrub­ber“ nannten. Man war damals immer draußen, kam im Grunde nur zum Essen oder Trinken heim. Die Oma brach­te oft nach der Halb-Sieben-Uhr-Kirche Brezeln mit, die vor dem Gang zur Schule gefrüh­stückt wurden. Wir mussten biswei­len in der Molke Milch holen, mit in den Wald zum Himbeer­pflü­cken und spiel­ten viel auf der Wiese zwischen unserem Haus und dem Bäcker Fußball und aller­lei anderes – wehe, der Ball traf einmal das Schau­fens­ter von Nachba­rin Frau Abele. Oder wir übten Skifah­ren u.a. auf dem jetzi­gen Zeiss­ge­län­de oder im Hitzeles­mahd – manch­mal schaff­te man sogar eine Schlit­ten­fahrt vom Volkmars­berg bis zur Molke – ganz oft gings in den Wald, zum Kocher oder zum Guten­bach. Später war ich irgend­wie Vermitt­ler zwischen den Banden, die es da gab – naja als Klein­ge­wach­se­ner lernt man andere Techni­ken, um sich durch­zu­set­zen, als nur mit Muskeln und großer Gosch. Einmal fingen wir da zwei Forel­len, für welche die Ficht­ners-Tochter Hilde­gard extra am Nachmit­tag den großen Backofen anheiz­te – bis ihre Mutter dies bemerk­te – o weh, die Forel­len sahen wir nie wieder. Aber unsere Schild­krö­te schlich durch die Nachbarsgärten.

Abends oder am Sonntag zum Frühschop­pen gingen die Herren öfters ins Wirts­haus, an Sonnta­gen bettel­ten wir nach der Kirche biswei­len vor dem „Pflug“ oder dr „Grub“ die Fabri­kan­ten um etwas Geld an und erhiel­ten manch­mal gar ein Zehner­le – sensa­tio­nell. Oder holten einem Verwand­ten einen Krug Bier mit kurzem Geschmacks­test, wenn Männer abends zusam­men vor einem Haus saßen und sich unter­hiel­ten. Auch durfte ich sogar mithel­fen, den Blumen­tep­pich für Fronleich­nam an der ersten Stati­on beim Onkel Josef (Hausna­me Kratzer – nicht Grazer, Schreib­feh­ler eines Pfarrers) mitzu­ge­stal­ten, für den alle Jugend­li­chen und Kinder tags zuvor Blumen sammel­ten und nach Farben sortier­ten. Und das Fronleich­nams­fest war für alle Oberko­che­ner das erste der überaus belieb­ten Garten­fes­te (Vater blies Klari­net­te im Musikverein).

Übrigens tolle Zeiten bei den Minis­tran­ten, der katho­li­schen Jugend, im Ferien­la­ger Beuten­müh­le oder Bezau und Bizau in Öster­reich! Erhielt sogar als Soldat zwei Wochen Sonder­ur­laub, um die letzte Ferien­frei­zeit in Bezau zu leiten. Ins Rupert-Mayer-Haus luden wir sonntags zur „Tea Time“ ein, an denen die Mitglie­der vom „MCU“ und „Schlauch“ ganz stress­frei teilnah­men. Ja, damals galt noch ein Mitein­an­der, ein Wir-Gefühl, Nachbarn und Verwand­te waren ja schließ­lich aufein­an­der angewie­sen bei allen Tätig­kei­ten des Lebens – heute gibt’s wohl nur noch Ichlin­ge, die ihre hochin­tel­li­gen­ten Weishei­ten im Netz austau­schen. Drum denke ich biswei­len: Gerade meine Genera­ti­on, nach dem Krieg geboren, einfach, schlicht und zufrie­den in den Wohlstand hinein boden­stän­dig aufge­wach­sen, ist wohl die Golde­ne, seit es Menschen gibt.

Die fünf Ordens­schwes­tern waren für die Versor­gung der Leute sehr wichtig: die Kranken­schwes­tern und die im Kinder­gar­ten. Damals gab es auch noch was hinter die Ohren, wenn man frech war oder gar Schlä­ge mit dem Kehrwisch. Erinne­re mich, als kurz vor Ostern der Oster­ha­se aus dem Kiga-Dachfes­ter schau­te und ich rief, das sei nur eine verklei­de­te Schwes­ter, gab es ein Rennen zwischen mir und Schwes­ter Thoma­sel­la durch das Gelän­de, bis ich die Kehrwisch­schlä­ge abbekam. Oder als mein Bruder Wolfgang einmal vom Balkon fiel, kam die Kranken­schwes­ter, band den Arm ein und gut war‘s! Erst Jahre später wurde bei einem Röntgen festge­stellt, dass der Arm damals komplett gebro­chen war. Die schlimms­te Strafe an Sonnta­gen beim Kirchen­be­such im stets vollen Gottes­haus (jeder Jahrgang war in seiner immer vollbe­setz­ten Bank) kam vom Kirchenordner:

Du musstest, wenn irgend­wie störend, in den Gang raus stehen oder schlimms­ten­falls zu den Schwes­tern in die Bank, was mir einmal wider­fuhr mit aller­hand Folgen in der Sakris­tei und daheim.

Eines Abends, ich war in der dritten Klasse, klingel­te es, ein Pater kam herein, fragte mich aus in schuli­schen Dingen, ich musste Übungen nachtur­nen – er wollte, dass ich ins katho­li­sche Inter­nat käme (war ja auch ein frommes Kind, wollte damals sogar Pfarrer werden und las mit der Oma hie und da eine Messe daheim). Er war am selben Abend zusätz­lich weiter oben im Dreißen­tal bei einem anderen Jungen (des Meroths Peter) – seitdem reden wir beide uns bis heute mit Namen von Patern an (er ist für mich Pater Riconal­do, ich für ihn Pater Felipe.

Eines Spätmit­tags kam mein Vater vom Nachbar­zahn­arzt zurück, ging in den Keller an eine seiner Drehma­schi­nen, nahm Gebis­s­tei­le aus dem Mund und feilte drauf rum. Ich rannte die Wiese hinun­ter zum Dr. Gebert, der kam gleich hoch ins Unter­ge­schoß, im weißen Kittel wurde an der Maschi­ne gearbei­tet, bis beide dann wieder über den Garten in die Praxis gingen. Warum ich mich daran erinne­re? Ich war damals Dritt­kläss­ler und hörte, wie Dr. Gebert irgend­wie neben­bei zu meinem Vater sagte: „Der Mensch fängt erst beim Abitur an“.

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Klassen­fo­to PGO Schul­jahr 1966/67 (Archiv Hug)
Vorde­re Reihe vlnr: Sabine Meinert, Elfi Butting, Gertrud Neuber­ger, Gabrie­le Frank, Ingrid Erbe, Ulrike Schmid, Dorothea Werner, Ingrid Pflanz, Gerlin­de Roos
2. Reihe vlnr: Heinz Engel, Gerhard Bahmann, Renate Ditzin­ger, Karen-Ellen Kessler, Monika Rehe, Helga Knutti, Klaus Schuh­ma­cher, Roland Rilk, Paul Hug, Herr Schwab
3. Reihe vlnr: Holger Fiedler, Wolfgang Elmer, Micha­el Knopf, Axel Matthes, Wolfgang Himmel, Anton Nuding, Hubert Bergmann, Hans-Joachim Schul­ze, Alfred Henschke, Harry Hansch
Hinte­re Reihe vlnr: Willi Hopfen­sitz, Walther Stauden­mai­er, Hans-Joachim Fey, Helmut Dicken­herr, Siegfried Ramsay­er, Hans-Peter Haag, Gottfried Deutsch, Ulrich Kümmer­le, Wolfgang Kieslich

Später, nach dem Kinder­gar­ten, in der Schule erwei­ter­te sich das Umfeld und mehr Schul­ka­me­ra­den aus der ferne­ren Nachbar­schaft, kamen im Freun­des­kreis dazu. Wegen meinem Freund Gerhard Bahmann (dessen Vater hatte übrigens den aller­bes­ten Most im Keller) habe ich in Klasse 4 die Prüfung fürs Gymna­si­um gemacht. Da kam nun ein Brief und meine Mutter sagte ganz erstaunt: „Ja wie, gehst du jetzt aufs Gymna­si­um?“ Dann ging‘s zuerst ins Bergheim, Kurzschul­jah­re in Kl. 5 und 6, Umzug ins neue Progym­na­si­um, wo ich bei Herrn Klassen­leh­rer Riegel öfters nachsit­zen musste – der Hinter­grund war aber, dass mein Onkel und Pate Rudolf, der Hugen-Schrei­ner, über mich gebraucht wurde, um aller­lei Regale, Stände aufzu­bau­en. Wir waren übrigens die letzte Klasse, die nach Aalen musste, danach war das Abitur in Oberko­chen möglich. Toll waren auch die Kinder­fes­te auf dem Volkmars­berg. Einmal kamen nicht alle Jungs von unserer 10. Klasse hoch, wir hatten am Vormit­tag gegen die Lehrer Fußball gespielt, verlo­ren und ein paar Bier im Ochsen getrunken…

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Damali­ge D‑Jugend des FCO, mit erstem Fotoap­pa­rat 9×9 aufge­nom­men (Archiv Hug)

Etwas ganz Beson­de­res war das Kino Schlei­cher: Der ältere Bruder von Alfred Schlei­cher, Hans, hatte einige Zeit einen Raben, der ihn nach Unter­richts­schluss manch­mal von der Schule abhol­te. Der alte Herr Schlei­cher ließ mich, da erst 11 Jahre, der Film aber ab 12 freige­ge­ben war, trotz­dem Winne­tou 1 anschau­en – man hatte damals die dicken Karl May-Bände gelesen und ich war schwer enttäuscht über den halble­bi­gen Film – hatte mir Winne­tou und Old Shatter­hand doch ganz anders vorge­stellt. Wir kickten ab der D‑Jugend schwarz-weiß gestreift im FCO, das Beste waren die Weihnachts­fei­ern, wo es im „Ochsen“, bei der Anna, zur Weihnachts­fei­er Saiten­würst­le mit Kartof­fel­sa­lat gab.

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A ganz a Heili­ger König zu Dreikö­nig – König Paul aus dem Morgen­land beim Beginn der Oberkoch­ner Stern­sin­ger (Archiv Hug)

Die Stern­sin­ger riefen wir ins Leben, dann gab es gerade­zu revolu­tio­när anmutend die Jazz-Messen, wobei uns Wolfgang Porzig vom Zeiss eine kleine Verstär­ker­an­la­ge organi­sier­te. Sogar an den autofrei­en Sonnta­gen 1973 spiel­ten wir in Hohen­stadt, Biber­ach, Ulm in Gottes­diens­ten und junge Oberko­che­ner Frauen/Mädels fuhren uns hin. Und wir spiel­ten als „BaHuG­a­Schus“ (Bahmann, Hug, Gangl, Schus­ter) oder in anderen Beset­zun­gen u.a. in der Dreißen­tal­hal­le. Als Schüler konnte ich bei der Firma Leitz oder beim Nachbar Max Liersch in dessen Garagen­werk­statt arbei­ten, während der Studen­ten­zeit im Bauhof in Oberko­chen als Stadt­gärt­ner und Klärwär­ter. Bekam da immer mehr Kohle, als ich etwa Bürger­meis­ter Bosch an seinem Geburts­tag Rosen auf den Schreib­tisch stell­te oder einen Bauwa­gen vorschlug, da die Arbei­ter in den Wald, zurück zur Pause auf den Bauhof und dann nochmal in den Wald bis zur Rückfahrt zum Mittag­essen fuhren, dann natür­lich mit ganz wenigen Arbeits­stun­den. Gustav Bosch hatte ja keine Kinder und wollte immer, dass ich sein Nachfol­ger im Amt werde: „Ich bezahl deine ganze Ausbil­dung dafür“!

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Der Huga-Paule in seinem Element – Mit dem kath. Kirchen­chor im neuen Bürger­saal;
v.l.n.r.: Werner Reichen­bach, Paul Hug, Anton Holz, Gerhard Bahmann (Archiv Hug)

Und dann ging‘s ans Studie­ren (Mathe­ma­tik, Musik, Sozio­lo­gie), hatte mich für den Lehrer­be­ruf nach den vielen Erfah­run­gen entschie­den, damit es wenigs­tens einen guten solchen mehr gäbe, verdien­te mir das meiste benötig­te Geld mit Musik in verschie­de­nen Gruppie­run­gen (PH-Big Band – auch LP aufge­nom­men – Dixie­grup­pe, Trio, Quartett…), beim Aushilfs-Chor-Dirigie­ren für Prof. Ganzen­mül­ler (damals Landtags­prä­si­dent) oder Gitar­ren­un­ter­richt, sogar im Frauen­knast, fuhr 6 Jahre lang drei alte Volks­wa­gen, gekauft von Oberko­chern Freun­den für insge­samt 600 DM. Hatte ja die ersten Big Band-Erfah­run­gen beim Zeitler Sepp in der TSO-Bigband gemacht, u.a. mit Konzert­rei­sen nach Rennweg oder Riedau. Auch als Student immer wieder heimge­kom­men, um Schlit­ten zu fahren oder bei Athle­ti­co Katzen­bach zu kicken. Toll, welche Rolle das vielfäl­ti­ge Vereins­le­ben im Dorf spiel­te! Vor einigen Jahren fertig­te ich dann spontan eine CD mit Liedle aus den Kindheits­zei­ten im Dorf an, die ich zu verschie­de­nen Anläs­sen kompo­niert hatte. Später neben dem Beruf Theater gespielt, solche einstu­diert, Chöre dirigiert mit Ehren­di­ri­gen­ten­ti­tel, Gemein­de­rat, Gründer und Vorstand Partner­schafts­ver­ein, Agenda, mal Presse­spre­cher Schul­lei­ter­ver­ei­ni­gung Baden-Württem­berg gewesen… In meiner Dienst­zeit leite­te ich 27 Jahre als Rektor meine Grund- und Haupt­schu­le (hat zu mir gepasst, wollte nie, trotz Angebo­ten, die Karrie­re­lei­ter hinauf), wir waren die Schule mit den meisten Bildungs­part­ner­schaf­ten, dem schöns­ten Schul­gar­ten im Land… Danach zog es mich wieder in die alte Heimat zurück, wo ich auch durch die Pflege der Gräber, Stamm­tisch „Graf Eberhard“, Mitglied­schaft in Verei­nen und aller­lei anderer Tätig­kei­ten nie den Kontakt zur Heimat verlo­ren habe – war vor langen Jahren u.a. Mitgrün­der des Stadt­ju­gend­rings, es ging auch um ein Jugend­haus, Vorsit­zen­der des Förder­ver­eins Handball, Bütten­red­ner, gründe­te den Oberko­che­ner Freun­des­kreis 1. ADV (Allge­mei­ner Dachplat­ten­ver­ein) mit Bergtou­ren, Segeln usw., war in zweistel­li­ger Zahl Trauzeu­ge – bei einem zweimal – alle Ehen bestehen übrigens noch.

Oberkochen

Ein Hut, ein Stock……. Der Huga-Paul und des Schönherr’s Willi – Freun­de für’s Leben (Archiv Hug)

Heimat ist Ort, Freund­schaft, Funda­ment, Gefühl, Bezie­hung zu Menschen und Umwelt mit ersten Sozia­li­sie­rungs­er­leb­nis­sen in räumli­cher und sozia­ler Dimen­si­on; ist Platz der Kindheit, Zusam­men­ge­hö­rig­keit, Herz und Wohlfüh­len. Nun hat sich das Dorf zur Indus­trie­stadt weiter­ent­wi­ckelt, Tausen­de kommen jeden Tag zum Arbei­ten her, Globa­li­sie­rung. Gibt es noch wie damals ein Mitein­an­der, ein Wir-Gefühl? Aber der Planet dreht sich weiter, jede Genera­ti­on hat ihre Zeit… Danke Dir Dreißental!

➔Teil 7 folgt in zwei Wochen.

Wilfried „Billie Wichai“ Müller

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