Der Hermann Metz erinnert sich gerne an seine Jahre im Dreißen­tal, auch wenn er schon in jungen Jahren seine Heimat verlas­sen hat.

Unser Haus im Dreißen­tal – eher a Heisle – in dem wir als Familie wohnten, war ein Normbau, entwi­ckelt und gebaut in natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Zeit (1937÷38). Die Einfachst-Häuschen standen auf beiden Seiten der Dreißen­tal­stra­ße im Abschnitt zwischen der Lerchen­stra­ße und der nächs­ten Paral­lel­stra­ße, die anfangs nur ein Feldweg war und etwa 1950 zur Fahrstra­ße zwischen Dreißen­tal­stra­ße und Sperber­stra­ße ausge­baut wurde. Von hier ab war der Kessel bis zum Waldrand ein Wiesen­pa­ra­dies, in das man die „Hahna-Hidde“ hinein­ge­setzt hatte. 1945 darf man noch den nach Süden ausge­rich­te­ten Hang (später Sonnen­berg und Weingar­ten), den bis an die Volkmars­berg­stra­ße reichen­den Hang und die ganze Brunnen­hal­de dazu rechnen. Die beiden Skizzen, und beson­ders die Namen der Bewoh­ner, geben die Situa­ti­on um 1945 wieder.

Oberkochen

Plan vom oberen Dreißen­tal (Archiv Metz)

Oberkochen

Das Haus „Metz“ mit der Hausnr. 64 (Archiv Metz)

Anlage der Siedlung.

Die ursprüng­li­che Siedlung und die Archi­tek­tur der Häuser schie­nen auf der Idee einer teilwei­se eigenen Nahrungs­mit­tel­ver­sor­gung der Bewoh­ner zu fußen. 1938 berei­te­ten die Natio­nal­so­zia­lis­ten einen Krieg vor, in dem jeder sich selbst versor­gen­de Bürger eine Erleich­te­rung gewesen wäre. Unser Grund­stück war etwa 600 Quadrat­me­ter groß; es bilde­te einen Strei­fen zwischen der Dreißen­tal­stra­ße und der oberhalb gelege­nen Sperber­stra­ße. Der Ertrag aus dem fleißig bebau­ten Garten war für unsere Familie spürbar: Kartof­feln gab es, sowie rote Rüben und Zucker­rü­ben, Kohlra­bi, Gelbe Rüben, Lauch und Kopfsa­lat, zudem Küchen­kräu­ter und Tomaten (die leider nie reif wurden), Bräschdl­eng (Erdbee­ren wer’s net woiß) und verschie­de­ne Beeren­bü­sche liefer­ten das Grund­ma­te­ri­al fürs wichti­ge Gsälz (Marme­la­de). Die nach dem Krieg einzie­hen­den Logier-Herren nahmen sofort einige Quadrat­me­ter für den Anbau von Tabak in Beschlag. Dafür mussten sie beim beschwer­li­chen „Schoo­ra“ helfen. Der Boden machte es einem wahrlich nicht leicht, denn er bestand aus viel Lehm und fast ebenso vielen Kalksteinen.

Wer wohnte nach dem 2. Weltkrieg an der oberen Dreißen­tal­stra­ße? Da erinnert sich der Hermann an sein Quartier und der Billie schaut ins Einwoh­ner­mel­de­buch von 1949/50 und findet zum oberen Dreißen­tal, das ich einfach bei der Abzwei­gung Volkmars­berg­stra­ße anset­ze, folgen­de Einträge.

Dreißen­tal­stra­ße, begin­nend links abwärts

Haus 70 Wingert, Josef „Stöpsl“ (Werkzeug­ma­cher), Böhmer, Philipp (Werkzeug­schmied); Kroner, Agnes (Rentne­rin) / Haus 68 Bezler, Maria (Witwe), Hertel, Reinhold (opt. Rechner); Schmidt, Korbi­ni­an (Dreher) / Haus 66 Tritt­ler, Josef (Werkzeug­ma­cher) / Haus 64 Metz, Paul (Eisen­dre­her); Janot­ta, Robert (Dreher); Rewig, Pauli­ne (Witwe) / Haus 62 Kolb Adolf „d’r rote Kolb“ (Schlos­ser), Holz, Anna (Hausfrau) / Haus 60 Köhler, Georg (Rentner); Karl (Mecha­ni­ker) / Haus 58 / Grimmin­ger, Josef (Schwei­ßer); Prinz, Anna (Hausfrau) / Haus 56 Schramm, Emil (Kaufmann); Ende, Rudolf (Bäcker).

Dreißen­tal­stra­ße, begin­nend rechts abwärts

Haus 77 Donhau­ser, Jakob (Hilfs­ar­bei­ter), Öster­lein, Fried­rich (Rentner); Reinsper­ger, Helmut (Feinop­ti­ker); Schnei­der, Gertrud (Witwe); Seifert, Otto (Feinop­ti­ker); Strohal, Johann (Schmie­de­meis­ter) / Haus 75 Czuka, Anton (Schlos­ser); Hermann, Jakob (Hilfs­ar­bei­ter); Kugele, Adolf (Hilfs­ar­bei­ter); Maier, Eugen (Instal­la­teur) / Haus 73 Gold, There­sia (Witwe; Wenzel, Josef (Rentner) / Haus 71 Betzler, Klara (Hausfrau); Eberhard, Otto (Polizei­be­am­ter a.D.) / Haus 69 Kolb, Adolf „d’r schwar­ze Kolb“ (Bohrer­ma­cher), Anna (Witwe); Möhrle, Josef (Maurer) / Haus 67 Oberdor­fer, Maria (Witwe); Gold, Severin (Inv. Rentner) / Haus 65 Maier, Alfons (Lager­ar­bei­ter) / Haus 63 Gold, Johan­nes „Marx“ (Bohrer­ma­cher) / Haus 61 Vogel, Josef (Magazi­nier) / Haus 59 Schlos­ser, Albert (Kontrol­leur), Kuhn, Hedwig (Hausfrau) / Haus 57 Stelzer, Oskar (Eisen­frä­ser); Engel­hardt, Horst (techn. Angestell­ter); Grabka, Heinrich (Heizer) / Haus 55 Meroth, Anton (Mecha­ni­ker) / Haus 53 Peters­hans, Hermann (Fuhrun­ter­neh­mer); Schmid, Emma (Hausfrau) / Haus 51 Dittrich, Albert (Stell­ma­cher); Gehring, Karl (Schlos­ser) / Haus 49 Retten­mai­er, Micha­el (Bahnwär­ter) / Haus 47 Burghard, Leonhard (Schlos­ser); Marek, Alfred (Hilfs­ar­bei­ter) / Haus 45 Schaupp, Otto (Pfört­ner); Wingert, Paul (Glaser­meis­ter; Wingert, Rita (Hausfrau)

Sperber­stra­ße begin­nend rechts abwärts

Haus 29 Heinlein, Georg (Eisen­dre­her); Dietzsch, Hans (Schlos­ser); Fechner, Gerhard (Dreher) Haus 27 Hopfen­sitz, Eugen (Eisen­dre­her); Banaschik, Hubert (Schrei­ner) / Haus 25 Bortz, Wilhelm (Eisen­dre­her); Langen­sie­pen, Dieter (Schorn­stein­bau­er); Papen­diek, Walter (Ingenieur); Reiprich, Frida (Witwe und Konto­ris­tin), Reiprich, Hans (Hilfs­ar­bei­ter) Haus 23 Gillmei­er, Josef (Autome­cha­ni­ker); Rzehak, Alois (Friseur) Haus 21 Haspel, Wilhelm (Oberinge­nieur); Teige, Kurt (Hilfs­ar­bei­ter)

Sperber­stra­ße begin­nend links abwärts

Haus 42 Glucker, Fried­rich (Schlos­ser); Greiß, Martin (Schlos­ser), Linder, Johann (Ingenieur) / Haus 40 Geis, Ludwig (Kaltwal­zer) / Haus 38 Meschen­mo­ser, Johan­nes (Beizer); Frisch, Werner (Techn. Zeich­ner) / Haus 36 Point­ner, Anton (Metall­ar­bei­ter) / Haus 34 Schill, Josef (Maschi­nen­ar­bei­ter) / Haus 32 Hirner, Karl (Fräser) / Haus 30 Homa, Rudolf (Schlos­ser), Müller, Robert (Schrei­ner) / Haus 28 Bestle, Adolf (Maschi­nen­schlos­ser); Bestle, Eugen (Schlos­ser); / Haus 26 Elmer, Karl (Werkzeug­ma­cher und Hoaxatläder).

Nun haben Kinder nicht nur mit Erwach­se­nen zu tun, sondern auch mit anderen Kindern, beson­ders mit denen aus der Nachbar­schaft. Wenn ich aufgrund meiner Erinne­run­gen zusam­men­zäh­le, komme ich auf 72 Kinder in diesem Quartier.

Oberkochen

Häuser im oberen Dreißen­tal mit den Hausnum­mer 68–62 v.l.n.r. (Archiv Metz)

Unser Haus.

Auch wenn es sehr einfach gebaut war, so hatten wir doch ein Dach über dem Kopf. Der Baupreis, einschließ­lich des Grund­stücks, soll 7.000 Reichs­mark betra­gen haben. Eine korrek­te Umrech­nung ist nicht ganz einfach. Bei Recher­chen findet man einen Umrech­nungs­kurs von 1:7,15. Das würde einen Wert von rund 50.000 € bedeu­ten. Weil meine Eltern beim Einzug 1938 nur ein lächer­lich kleines Eigen­ka­pi­tal besaßen, hatten sie bestimmt 90% Kredit auf dem Buckel. Der musste von ihnen jahre­lang Mark für Mark abgezahlt werden. Für meine Mutter war das immer eine Wohltat des Führers, dass sie das Glück hatten, dieses Haus (Hitler-Häuschen genannt) besit­zen zu dürfen. Wer mit offenen Augen durch Oberko­chen und Aalen läuft, kann solche kleine Siedlun­gen auch heute noch entde­cken. Auch der Tod ihres Mannes, meines Vaters, für den Führer, hat ihre Meinung dazu nicht geändert.

Oberkochen

Das Haus „Metz“ von der Sperber­stra­ße aus gesehen, im Hinter­grund befin­den sich heute die Dives-sur-Mer-Straße und die Monte­belluna­stra­ße (Archiv Metz)

Im hier darge­stell­ten Grund­riss war der mit „Hennaschd­aal“ (Hühner­stall) bezeich­ne­te Raum eine Beson­der­heit. Er war nach Norden bis hinauf zur Dachrin­ne offen. Diesen Raum gab es in allen rot markier­ten Häusern. Die Bewoh­ner nutzten ihn auch, denn sie brach­ten dort Hühner- und Hasen­stäl­le unter. Eine Familie hielt sogar Ziegen, die sie mit Milch versorg­ten. Die Klein­tier­zucht war gang und gebe und Grund­la­ge für wohlschme­cken­de Sonntags­es­sen. Das unerläss­li­che „Henna- ond Haasa-Misch­da“ (das Ausmis­ten der Klein­tier­stäl­le) wurde oft den größe­ren Kindern übertra­gen. Im sowie­so schon kleinen Haus war die Stube, die sog. „Gute Stube“ ein fast überflüs­si­ger Raum, lebten wir doch fast ausschließ­lich in der Küche, die ebenfalls einfach einge­rich­tet war. Immer klemm­te es an der Wasch­ge­le­gen­heit, denn es gab nur da Schütt­stei­ne mit dem Wasser­hahn darüber. Ein zweiter Wasser­hahn war in der Wasch­kü­che im Keller instal­liert. Unter dem Dach gab es drei Minizim­mer. Einmal pro Woche wurde gebadet, in der Wasch­kü­che, in der berühm­ten Zinkba­de­wan­ne. Das warme Wasser kam aus dem Wasch­kes­sel, einem in einen runden Herd einge­las­se­nen Kupfer­kes­sel. Dort wurde es mit einem Eimer geschöpft und in die Badewan­ne geschüt­tet. Das WC war im Grunde kein richti­ges WC, sondern ein – man muss schon sagen – ein unhygie­ni­sches Plumps­klo. Es war der erste Raum, der nach dem Krieg eine Wasser­spü­lung erhielt, als die Dreißen­tal­häu­ser an die Kläran­la­ge­an­ge­schlos­sen wurden. Wasser­spü­lung! Was für ein Luxus!

Eine inter­es­san­te Anmer­kung noch. Als wir uns als Familie schon in Südba­den nieder­ge­las­sen hatten, entdeck­te ich in der Nähe von Breisach den Oberko­che­ner Haustyp. Er stand, wie in Oberko­chen, in einer Siedlung, die erst einige Zeit nach dem Krieg für Flücht­lin­ge aus Ostpreu­ßen und Pommern erbaut worden war, also 15, 20 Jahre nach Oberko­chen. Um die Häuschen herum gab es üppige Tausend-Quadrat­me­ter-Grund­stü­cke und den bekann­ten Stall für Klein­tie­re. Hier geschah das wie auch in Oberko­chen: Man baute aus, um und an, sodass bald kein Haus mehr aussah wie früher.

Das Dreißen­tal – ein Mikrokosmos.

Obwohl wir in einem kleinen Dorf mit weniger als 2.000 Einwoh­nern lebten, nahm ich zwischen den alten und neuen Oberko­che­nern eine reser­vier­te Zurück­hal­tung wahr. Diese Empfin­dung bestä­tig­te mir kürzlich auch mein jünge­rer Bruder. Zwar „striel­ten“ wir Kinder schon früh viel herum, aber unser Quartier war das hinte­re Dreißen­tal. Dort waren wir zuhause.

Drum herum lagen die obere und untere Sperber­stra­ße, der Turmweg sowie das untere Dreißen­tal. Deutlich abgele­ge­ne­re Gebie­te wie dr Katza­bach, das Kies, die ganze Bahnhof­sei­te, der Brunkel und d‘ Oalemer Stroaß waren eine Welt für sich.

Da schnup­per­ten wir immer wieder mal rein, etwa weil wir dort Schul­ka­me­ra­den und Bekann­te hatten oder etwas kaufen oder austra­gen mussten, aber vieles blieb uns fremd. Beunru­hi­gend fand ich es, dass wir immer wieder, zumin­dest fragend, angeschaut wurden, fast wie Fremde. Heute kann ich es fast verste­hen: „So a gloae­ner Kerl mit okemm­te Hoor ond Sommrsch­bros­sa, dauernd siesch´n em Dorf romstria­la. Weam g’härschn du? Was suachschn du dao honda? Nex, i gugg!“

Es gab aber auch Wohlge­son­ne­ne. Wir kamen regel­mä­ßig zur Elsbeth Schee­rer in die Mühle, um Mehl zu kaufen. Die Elsbeth war wirklich eine sehr nette Frau. Und beim Bebel-Fischer durften wir immer wieder „em Katza­bach“ die Kühe hüten, für ein Butter­brot am Abend und ein Glas Milch. Die Frieda und ihr Bruder Josef gingen immer anstän­dig mit uns um. Nur war die Frieda ungeheu­er wunder­fit­zig. Sie wollte alles wissen, da übertraf sie noch beim Frise­er Hahn den Helmut ????. Damit sie zufrie­den war, habe ich sie manch­mal a bissle „aagloo­ga“. Abr i han älles beich­tat – wie sich’s ghört hat.

Im zuvor beschrie­be­nen Teil des Dreißen­tals – ich nehme die Sperber­stra­ße dazu – mit seinen etwa dreißig Häusern stamm­ten acht der Hausvor­stän­de aus Oberko­chen, hatten also gewach­se­ne Verbin­dun­gen ins Dorf. Alle anderen, die deutli­che Mehrzahl also, waren „Reigschmegg­de“, die aber in Kriegs­zei­ten zumeist aus der näheren Region stamm­ten. Viel kriti­scher müssen die Flücht­lings­scha­ren ihre neue Situa­ti­on erlebt haben, die bis etwa 1950 sich plötz­lich in dem unbekann­ten Dorf Oberko­chen wieder­fan­den. Sie waren zumeist aus dem Osten gekommen.

Vertrie­be­ne und Flücht­lin­ge aus Rumäni­en, Ungarn, Oberschle­si­en, Ostpreu­ßen, aus dem Sudeten­land sowie Zeiss-bedingt aus Thürin­gen, Sachsen und Franken. Selbst für unsere Eltern waren sie eine neue, fremde Gesell­schaft. Was ihnen zweifel­los half, war, dass sie eine Arbeit hatten und Geld verdien­ten. Der einset­zen­de Bauboom verhalf den meisten zu einer eigenen Wohnung, was das Zusam­men­le­ben stabi­li­sier­te. Heute, über 70 Jahre später, werden alle Proble­me von einst überwun­den sein.

Zum Thema Beich­ten muss ich noch etwas erwäh­nen. Der Pfarrer hielt uns an, regel­mä­ßig zu beich­ten. Ich geriet aber nach einiger Zeit in die Zwick­müh­le, denn mir gingen langsam die Sünden aus. Da war ich froh um jegli­chen Stoff wie so harmlo­ses Anlügen der Bebels Frieda u.ä.m. Aber die Not hörte nicht auf und so habe ich manche Sünde gebeich­tet, die nicht im offizi­el­len Beicht­spie­gel stand. Dazu gehör­ten beispiels­wei­se folgen­de Fantasie-Sünden:

  • Ich habe „dui und sell“ angespuckt, weil sie frech zu mir war.
  • Ich habe von dem und jenem Lehrer gedacht, er sei a „bleedr Daggl“, weil er mir eine Tatze gab.
  • Ich habe bei „deane ond deane“ durch die Zaunlat­ten „ens Bloama­beet bronzt, weil‘s mr bressiert“ hat.

Bei der Beicht­vor­be­rei­tung gefiel es mir beson­ders, wenn in der stillen Kirche der Kirchen­schmied Maier von gegen­über mit dem Hammer auf dem Amboss das Metall bearbei­te­te. Der helle, durch alle Mauern dringen­de, Klang von Eisen auf Eisen war mir wie Musik in den Ohren.

Entde­ckungs­gän­ge im Dorf.

Das alte Oberko­chen war, soweit ich zurück­den­ken kann, einer­seits ein Bauern­dorf, anderer­seits eine Indus­trie­an­sied­lung mit Fabri­ken wie Bäuerle, Kaltwalz­werk, Leitz, Oppold, Schmid und WIGO.

Der Dorfcha­rak­ter war nicht so, dass man sich Oberko­chen „obedengt“ für einen Urlaub ausge­sucht hätte. Das schnel­le Zupflas­tern mit Siedlun­gen wie das obere Dreißen­tal trugen zur Verschö­ne­rung auch nicht gerade bei. Die Schwä­bi­sche Alb ist ja voll solcher Dörfer. Sie waren sicher ein Ausdruck des frühe­ren herben Lebens. Schwä­bisch Sibiri­en nannte man diese Landschaft in Stutt­gart. Die lehmi­gen, steini­gen Felder waren schwer zu bearbei­ten, das Angebau­te wuchs nicht so recht, und sparsam war man auch. Wenn gebaut wurde, spiel­te eine gefäl­li­ge Archi­tek­tur nur eine nachran­gi­ge Rolle. Die Höfe, Häuser und Scheu­nen mussten praktisch sein, man musste darin wohnen, schaf­fen und Werte lagern können.

Dem einge­bo­re­nen Oberko­che­ner mag meine Beschrei­bung vielleicht weniger gefal­len. Sollte das so sein entschul­di­ge mich bei ihm – soll er sie dann als die verdreh­te Ansicht eines früh Ausge­wan­der­ten begreifen.

Was ich Euch aber schwö­re, ist, dass mir Euer Dorf, entschul­digt, Eure Stadt, noch im hohen Alter mitten im Herz und in der Seele steckt. Ihr habt Wälder, Wachol­der­wie­sen und Berge, aber was Ihr an beson­ders Schönem habt, ist das Wasser, der Kocher und all die kleinen Bäche. Es gibt keines, in dem ich nicht mit Inbrunst herum­wa­te­te. Wo ich nicht hinkam, weil ein Zaun dazwi­schen war, wie etwa das Gässle zwischen dr Schell und der Schee­rer-Mühle (heute der Fußweg zur Neuen Mitte hin), blieb ich, in Erinne­rung oft Stunden lang, stehen, denn alles war mir eine einzi­ge Augen­wei­de. Der Kanal, der das aufge­stau­te Kocher­was­ser auf das Schee­rer-Wasser­rad führte, war für mich zu tief, aber es war schön, dort den fetten Forel­len nachzu­schau­en. Die Verän­de­run­gen in dem wachsen­den Dorf merkte ich schon als kleines Kind.

Oberkochen

Die Familie Metz, die durch den Krieg, wie viele andere auch, bald ausein­an­der­ge­ris­sen wurde (Archiv Metz)

Meine Mutter stand oft genug helle Ängste aus, weil ich nach der Schule verschwand und mich erst abends wieder im Dreißen­tal sehen ließ. Solche Bolzen drehte man nur, wenn es einem zu wohl war. In diesem Dorf, ich wieder­ho­le es, war es mir wirklich wohl.

An dieser Stelle geden­ke ich unseres etwas proble­ma­ti­schen Lehrers Leo Klotz­bü­cher. Er verfass­te inbrüns­ti­ge, um nicht zu sagen, schmal­zi­ge Gedich­te über sein Heimat­dorf Lautern am Rosen­stein. Dass es ihm aber wirklich so zumute war, wie er das alles beschrieb, nehme ich ihm gerne ab.

Im Zusam­men­hang mit Bächen und Kocher muss ich aber noch ein Ereig­nis anspre­chen, das mich heute noch schmerzt. Als die Firma Zeiss in Oberko­chen die Produk­ti­on aufnahm, leiste­te sie sich etwas, das sie damals schnellst­mög­lich hätte ändern müssen. Ich rede davon, dass sich der Kocher nach der Zeiss-Ansied­lung plötz­lich rot färbte. Wo er rot war, schwamm kein Fisch mehr. Der Kocher blieb, so schät­ze ich, drei Jahre lang mit der roten Brühe belas­tet. Woher kam sie? Bei Carl Zeiss wurden Linsen für Brillen, Fotoap­pa­ra­te und Mikro­sko­pe herge­stellt. Dafür brauch­te man eine Polier­pas­te, deren schmir­geln­den Bestand­tei­le härter als Glas waren. Ein Zeiss-Optiker erzähl­te mir, die Paste enthal­te Chrom. Das Umwelt­ge­wis­sen war damals noch sehr unter­ent­wi­ckelt, aber die Zeiss-Oberen hätten sich etwas dabei denken können und sich sofort um eine Kläran­la­ge kümmern müssen. (Anmer­kung: Den Kocher nicht als Abfluss zu benut­zen kam in den Jahrzehn­ten nach dem Krieg vielen Firmen nicht in den Sinn. Ab Aalen war der Kocher praktisch tot. Es dauer­te lange bis sich da ein Bewusst­sein bildete.)

Einmal watete ich im Katzen­bach, oder war es der Guten­bach? Ich trat in eine Flaschen­scher­be und schnitt mir saumä­ßig den großen Zehen auf. Hätte früher ein Mensch eine Bierfla­sche zerschla­gen und in den Bach gewor­fen? Das kann ich mir nicht vorstel­len. Die Verlet­zung sah schlimm aus. Soweit ich weiß, gab es nur den Dr. Sußmann in der Bahnhof­stra­ße und der wäre auch viel zu weit weg gewesen. Also heilte die Verlet­zung von selbst und ich schwö­re, dass sie immer noch sicht­bar ist und so habe ich eine bleiben­de Erinne­rung an mein Heimatdorf.

Eine harte Zeit war damals die Lehrzeit wie dieses Beispiel verdeut­licht. Da hatten wir einen Lehrmeis­ter mit einem ungewöhn­li­chen Hilfs­mit­tel: einem 3/4 Zoll-Schlauch­stum­pen, etwa 40 cm lang. Der lag auf seinem Kleider­spint. Wenn es ihm danach war, einem Delin­quen­ten ans Leder zu gehen, schrie er: „Holl´an raa!“. Wir mussten das Folter­mit­tel also selbst besor­gen. Ich war eher klein gewach­sen, weswe­gen ich zuerst einen Stuhl heran­zie­hen musste. Die Schlä­ge waren schmerz­haft. Aber eines Tages, es war um 1955 herum, erzähl­te der Meister im Werkstatt­un­ter­richt, er sei von Eltern angezeigt worden, aber er habe den Richter überzeu­gen können, dass er immer wusste, auf welche Körper­tei­le er nicht schla­gen durfte: Kopf, Bauch, Nieren. Er war nämlich neben­her noch Hemobat (Homöo­path) und da kannte er seine medizi­ni­sche Verant­wor­tung. Von da an mussten wir den Schlauch­stum­pen nicht mehr so oft „raa holla“. Würde mich heute einer fragen, welches von den beschrie­be­nen Folter­mit­teln am nachhal­tigs­ten auf mich wirkte, würde ich antwor­ten: „Oina an d´ Gosch, na isch schnell vrsurrt“, aber das Anschrei­en mit allen seinen hinter­lis­ti­gen Gemein­hei­ten und Ungerech­tig­kei­ten spüre ich heute noch – einschließ­lich dem Urteil der Wirtin vom „Grünen Baum“, „I sei a vrwahr­lo­astr Kerl“.

Erwäh­nens­wert ist noch das Thema Brief- und Paket­zu­stel­lung. Herr Franz Schil­ling, ein Dreißen­ta­ler aus dem Weingar­ten, hatte u.a. sein Wohnge­biet als Zustel­lungs­be­reich. Er trug eine dunkel­blaue Postuni­form mit dazuge­hö­ri­ger Schild­müt­ze. Wenn er Päckchen zustell­te, trans­por­tier­te er sie in einem zweiräd­ri­gen Holzkar­ren mit Holzspei­chen­rä­dern. Der Paket­be­häl­ter mit Deckel war aus Eisen­blech. Seine Arbeit muss eine Schin­de­rei gewesen sein, denn, um mit dem Karren die Dreißen­tal­stra­ße, die Sperber­stra­ße und der Lerchen­stra­ße, vielleicht auch die Sonnen­berg­stra­ße zu bedie­nen, musste man sport­lich sein. Wenn er etwas abzuge­ben hatte, stell­te er seinen Karren schräg gegen die Garta­mäu­er­la, um zu verhin­dern, dass sich der Karre „s Daal naa“ nicht selbst­stän­dig machte.

➔ Teil 6 folgt in zwei Wochen.

Wilfried „Billie Wichai“ Müller

Weitere Berichte aus dieser Kategorie

Weitere Berichte