Über die Siche­rung der Markungs- und Eigentumsgrenzen

Die richter­li­che Funkti­on
In erster Linie ist die Aufga­be der Unter­gän­ger eine richter­li­che. Sie sind in ihrer Urteils­fin­dung frei und ohne jede Bindung. Die sachli­che Zustän­dig­keit des Unter­gangs­ge­richts ist auf die unter­gäng­li­chen Sachen beschränkt. Das Landrecht von 1610 versteht darun­ter alle »Spänne (Strei­tig­kei­ten), die sich so wol in den Stätten und Dörffern der Gebäw (Gebäu­de) alls auff dem Feld der Bemarckun­gen (Gemar­kun­gen), Dienst­bar­kei­ten und anderen Gerecht­sa­men halben, begeben«. Die örtli­che Zustän­dig­keit richtet sich nach dem Belegen­heits­prin­zip (der Lage des Grund­stücks). Über das Prozeß­ver­fah­ren sagt das Landrecht, es sollen »alle Spänn nach dem Herkom­men von den bestell­ten Under­gen­gern durch ein kurtzen, summa­ri­schen und mündt­li­chen Prozeß auf den Augen­schein fürge­nom­men und zum schleu­nigs­ten entsch­i­den werden«.

Das gesam­te Verfah­ren spielt sich in einem einzi­gen Termin ab. Er dient sowohl der Klage und Klage­er­wi­de­rung, wie der Beweis­erhe­bung und Entschei­dung. Die Klage wird mündlich durch einfa­ches Darle­gen der Beschwer­de­punk­te vorge­bracht, der Beklag­te erwidert in gleicher Weise. Das Schrift­lich­keits­prin­zip hat im Unter­gangs­pro­zeß keinen Eingang gefun­den. Ledig­lich der Spruch wird etwa von der Mitte des 16. Jahrhun­derts an proto­kol­liert. Beson­de­rer Wert wird auf die Öffent­lich­keit des Verfah­rens gelegt, nicht im Sinne der heuti­gen forma­len prozeß­recht­li­chen Vorschrift, sondern als Auffor­de­rung zur Teilnah­me am Unter­gang, es wird »zum Unter­gang verkündet«.

Das Beweis­ver­fah­ren im Unter­gangs­pro­zeß ist einfach und unmit­tel­bar. Das weitaus wichtigs­te Beweis­mit­tel ist der Augen­schein. Ohne ihn gibt es keinen Urteils­spruch. Er und nicht das mündli­che Vorbrin­gen der Partei­en ist der beherr­schen­de Prozeß­akt. Man sucht beim Augen­schein nach den Grenz­zei­chen und anderen Merkma­len oder Anhalts­punk­ten für den Verlauf der strit­ti­gen Grenze. Daneben spielt der Zeugen­be­weis in der Form des Kundschafts­be­wei­ses eine maßgeb­li­che Rolle. Der Beweis durch Kundschaft (durch Erkun­di­gun­gen) ist vor allem zur Ermitt­lung frühe­rer Grenz­fest­stel­lun­gen gegeben, wobei als vollwer­ti­ger Zeuge nur gelten kann, wer als Unter­gän­ger mitge­wirkt hat.

Dem Unter­gangs­pro­zeß wohnt eine Tendenz zur Güte und zum Vergleich inne. Das Gericht versucht während des ganzen Verfah­rens, die Partei­en zu einigen und den Streit gütlich beizu­le­gen. Ist eine Einigung nicht erziel­bar, dann endet der Prozeß durch den gericht­li­chen Spruch. Das Urteil wird im Termin mündlich verkün­det, eine schrift­li­che Nieder­le­gung ist nicht vorge­se­hen. Wo beson­de­re Unter­gangs­bü­cher geführt werden, gehört das Einschrei­ben des Urteils nicht zum Prozeß, sondern dient der künfti­gen Siche­rung der Grenze. Wenn der Spruch kundge­tan ist, werden »unver­se­umbt« die Grenz­stei­ne gesetzt. Das Urteil ist aber appel­la­bel (anfecht­bar), im Landrecht von 1610 sind als Berufungs­in­stan­zen die Stadt­ge­rich­te und das landes­herr­li­che Hofge­richt genannt.

Im Unter­gangs­pro­zeß zeigt sich ein volks­tüm­lich gestal­te­tes, mit alten Rechts­bräu­chen ausge­stat­te­tes Verfah­ren ohne stren­gen Prozeß­for­ma­lis­mus, in dem die üblichen Beweis­mit­tel durch die Hervor­keh­rung des Augen­scheins weitge­hend ersetzt sind. Es wird während der langen Zeit seines Bestehens ausschließ­lich von Laien­rich­tern getra­gen, die so entschei­den, wie das lokale Recht und das örtli­che Herkom­men ihnen gebie­ten. Die Mitwir­kung rechts­ge­lehr­ter Advoka­ten ist nirgends bemerkbar.

Die adminis­tra­ti­ve Funkti­on
Neben der Streit­ent­schei­dung steht die Grenz­si­che­rung, der vorbeu­gen­de Grenz­schutz im Vorder­grund des Aufga­ben­be­reichs der Unter­gän­ger. Der Schutz bestand ursprüng­lich in der regel­mä­ßi­gen Besich­ti­gung der Grenzen, dem Grenz­be­gang oder Umgang. Dieser Umgang ist zunächst eine periodi­sche Demons­tra­ti­on des Eigen­tums­an­spruchs und insoweit eine Rechts­hand­lung. Er ist mitun­ter auf kulti­sche Übungen zurück­ge­führt und mit dem Charak­ter der Grenze als Heilig­tum in Verbin­dung gebracht worden. Die Bedeu­tung des Umgan­ges für die Grenz­si­che­rung liegt in der Wachhal­tung der Erinne­rung. In diesem Sinn ist er kein Rechts­ver­fah­ren, sondern eine Verwal­tungs­hand­lung. Ursprüng­lich müssen alle Ortsbür­ger teilneh­men. Vielfach werden auch die männli­chen Jugend­li­chen von einem bestimm­ten Alter an beigezo­gen, um die Konti­nui­tät über die Genera­tio­nen hinweg zu gewähr­leis­ten. Die Stützung der Erinne­rung durch Bewir­tung der älteren Teilneh­mer weitet sich in manchen Orten zu volks­tüm­li­chen Festlich­kei­ten aus, die allmäh­lich zu örtli­chem Brauch­tum werden. Manches alther­ge­brach­te, in seinen Formen und in seinem Ablauf treu gepfleg­te Dorffest mag aus einem frühe­ren Umgang hervor­ge­gan­gen sein. Dem Gedächt­nis der jungen Leute gibt man mancher­orts durch derbe Scher­ze Nachhil­fe. Am meisten verbrei­tet sich der Brauch, unver­se­hens tüchti­ge Ohrfei­gen zu verab­rei­chen. Aus den Umgän­gen sind mögli­cher­wei­se auch die kirch­li­chen Flurpro­zes­sio­nen entstan­den, die da, wo die Wege beson­ders weit waren, zu Umrit­ten oder Umfahr­ten gewor­den sind.

Beim weltli­chen Umgang wandelt sich die Teilnah­me der ganzen Gemein­de allmäh­lich in einen Grenz­be­gang durch die Unter­gän­ger, vielfach unter Beibe­hal­tung der volks­tüm­li­chen Formen. Auch hierfür bürgert sich nun das vielschich­ti­ge Wort Unter­gang ein. Die Dorford­nun­gen bezeich­nen den regel­mä­ßi­gen ordent­li­chen Umgang als ordina­ri-Unter­gang. Dabei überwa­chen die Unter­gän­ger die Erhal­tung der Grenz­ein­rich­tun­gen und besich­ti­gen die Grenz­zü­ge auf Nutzungs­über­schrei­tun­gen, nehmen also zugleich Aufga­ben der Feldpo­li­zei wahr. Sie verfü­gen mitun­ter über einen der niede­ren Straf­ge­walt und können Geldbu­ßen verhängen.

Bis zur Mitte des 15. Jahrhun­derts bestan­den die Grenz­ein­rich­tun­gen ausschließ­lich aus natür­li­chen Merkma­len, Hecken, Raine, Ödstrei­fen, Stein­rie­gel, auffal­len­de Bäume (Lachbäu­me), Sumpf­stel­len, Wasser­grä­ben, Waldrän­der usw. ließen den Grenz­ver­lauf erken­nen. Mit der Rezep­ti­on des römischen Rechts verbrei­te­te sich allmäh­lich die im römischen Rechts­be­reich längst geübte Verstei­nung der Grenzen. Man setzte auf die Grenz­bruch­punk­te beson­ders zugehaue­ne aus möglichst hartem Gestein bestehen­de Stein­pfei­ler. Wo man nicht von einem Stein zum anderen sehen konnte, setzte man dazwi­schen sogenann­te Läufer­stei­ne, so daß die Grenze von Stein zu Stein im Blick­feld war.

Mit dem Stein­satz tauch­te gleich­zei­tig die sogenann­te Verzeu­gung auf. Auch dies ist ein auf römisches Rechts­brauch­tum zurück­ge­hen­des Mittel der Grenz­si­che­rung. Die Siche­rung sollte dadurch erreicht werden, daß unter die Grenz­stei­ne unver­wes­li­che Merkma­le gelegt wurden. In unserem Gebiet finden sich Feldstein­trüm­mer, Kiesel­stei­ne, Ziegel- und Glasscher­ben, Kohle­stück­chen, verein­zelt auch Schei­de­mün­zen. Die Verzeu­gung geschah meist in der Weise, daß drei Stücke des gleichen oder auch verschie­de­nen Materi­als in einer bestimm­ten Ordnung zuein­an­der auf dem Boden der für den Stein­satz ausge­ho­be­nen Grube abgelegt und mit einer mehr oder weniger dicken Erdschicht bedeckt wurden. Darauf wurde der Stein gesetzt und die Grube einge­deckt. Die Art und Weise des Verzeu­gens wurde streng geheim­ge­hal­ten, sie war nur den Unter­gän­gern bekannt. Jedes Unter­gän­ger­kol­le­gi­um hatte eine eigene Zeugschaft, die nicht einmal den Unter­gän­gern der Nachbar­ge­mein­den bekannt werden durfte. In der Geheim­hal­tung der unter­ge­leg­ten Merkma­le und ihrer Gruppie­rung lag die Siche­rung des Grenz­stei­nes. Die unter­ge­leg­ten Merkma­le hieß man Zeugen. Sie bezeug­ten den Unter­gän­gern die Echtheit und die unver­än­der­te Lage des Grenz­stei­nes. Es ist verständ­lich, daß das Zeugen­ge­heim­nis den Unter­gän­gern die Exklu­si­vi­tät ihrer Stellung verbürg­te. Auch für die Bezeich­nung »Zeuge« findet sich in unserem Beobach­tungs­ge­biet eine Reihe von sinnglei­chen Wörtern, die sich aus landschaft­li­chen oder volks­tüm­li­chen Verschie­den­hei­ten er klären: Loszeu­gen, Loszei­chen, Gemärk, heimli­che Gemerk­zei­chen, Wahrzei­chen, Unter­mark, mit Volks­hu­mor auch: Eier, Jungen, Kinder, Enkel. Am gebräuch­lichs­ten ist aber das Wort Zeuge, das wahrschein­lich ein Überset­zungs­lehn­wort aus dem latei­ni­schen »testis« ist.

Oberkochen

Hermann Neuffer, Stuttgart

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