Vorspann.

Diesen Bericht schrieb Reinhard Bogena, Sohn der Eheleu­te Reinhard (Revier­förs­ter) und Brunhil­de (Hausfrau), seiner­zeit wohnhaft in der Beetho­ven­str. 36. Früher hat er seine Schul­zeit in Oberko­chen verbracht, danach stand er als Lehrer in Essin­gen seinen Mann. Heute ist er Pensio­när und beschäf­tigt sich weiter­hin mit viel Herzblut mit „alten Sachen“ und schreibt darüber. Zum einen Bücher und zum anderen Artikel in der Fachzeit­schrift „TRÖDEL“. Sein Inter­es­se gehört auch alten schönen Autos mit wunder­ba­rem Design, aus einer Zeit als die Autos noch eine „Seele“ hatten.

Anmer­kung:

Der geschil­der­te Besuch fand 2017 statt. Wilfried hat daher einige Bemer­kun­gen in Fettdruck und in Klammern « » hinzu­ge­fügt, damit das ganze wieder aktuell bzw. ergänzt wird. Andy Neuhäu­ser liebt beson­ders die verschie­de­nen Textfor­ma­tie­run­gen, die aufhalten ☺.

Mein Besuch im Jahre 2017.

Ich, Reinhard Bogena, parke in Bahnhofs­nä­he, steige aus dem Auto und sehe mich um. Das Gebäu­de ist renoviert, doch im Inneren, wo sich Reisen­de früher ihre Fahrkar­ten am Schal­ter besorg­ten, hat ein chine­si­sches Restau­rant Einzug gehal­ten. Den einsti­gen Schal­ter­be­am­ten ersetzt ein Automat auf dem Bahnsteig. Von hier aus fuhr ich einst zum Gymna­si­um in die Nachbar­stadt, häufig gezogen von einer der letzten Dampf­lo­ko­mo­ti­ven, deren weiße Dampf­wol­ken mit schwar­zen Rußpar­ti­keln vermischt am Abteil­fens­ter vorbei­zo­gen. Doch die Schul­zeit habe ich schon lange hinter mir und selbst das Berufs­le­ben ist für mich Vergangenheit.

Oberkochen

Das alte Postamt, der alte Bahnhof mit der Bahnhofs-Beiz und dem Kiosk (Archiv Müller)

Gegen­über befand sich das Postamt. Dorthin brach­te ich meine sorgfäl­tig verfass­ten Briefe, die ich Freun­den und meinen ersten Jugend­lie­ben schrieb. Auch die eine oder andere Sonder­brief­mar­ke erwarb ich in diesem Gebäu­de vom kleinen Taschen­geld und ließ mir Sonder­stem­pel geben. Bestimmt würden sie einmal im Wert steigen, dachte ich. « mir hat mal ein Brief­mar­ken­händ­ler gesagt: L.L.L. = Lang Liegen Lassen – wird vermut­lich auch nicht helfen » Löcher in der Außen­wand zeigen, wo einst der Brief­kas­ten und ein Automat für Postwert­zei­chen befes­tigt waren. Stark vergilb­te Bücher erkennt man jetzt hinter schmut­zi­gen Fenstern, man könnte sie wohl mitneh­men, wenn der im Inneren der alten Post vorhan­de­ne „Umsonst-Laden“ geöff­net hätte. Doch wer inter­es­siert sich im Inter­net­zeit­al­ter noch für Bücher? Außer­dem ist heute Sonntag, der Eingang verschlossen.

Gleich neben dem Bahnhof gibt es eine Gaststät­te, an deren Vorder­sei­te sich zu meiner Zeit ein Kiosk befand. Dort, heraus­ge­reicht durch ein kleines Fenster, bekam man neben Zeitschrif­ten und Süßig­kei­ten auch Zigaret­ten in 6er-Packun­gen. Die waren billig und ich füllte sie gerne in attrak­ti­ve­re Schach­teln um, die mehr Presti­ge verspra­chen. Die Box von „Atika“ war mein Favorit, das hatte nicht jeder. Den kleinen Vorbau erken­ne ich wieder, aber nichts deutet mehr auf den ehema­li­gen Kiosk hin.

Langsam gehe ich weiter, vorbei an einem ehemals feudal wirken­den Haus, einer Villa, die etwas zurück­ver­setzt von der Straße in einem hoch umzäun­ten Garten steht. Sicher gab es einmal Bediens­te­te in diesem Haus, so stell­te ich mir das als Jugend­li­cher vor. Eines Tages stand in der breiten Einfahrt zur Villa ein alter „Goliath“ Pkw – vermut­lich ein GP 700. Gut erinne­re ich mich an das fehlen­de Kennzei­chen, er schien ausge­mus­tert zu sein. Trotz seiner Selten­heit standen Fahrzeu­ge dieses Alters meist auf dem Autofried­hof, weil sie niemand mehr wollte. Dennoch hatte ich mich, damals gerade mal siebzehn Jahre alt und als Schüler ohne Geld, nicht zu fragen getraut, ob man ihn günstig erwer­ben könnte. Ich hätte die Folge­kos­ten ohnehin nicht bezah­len können.

A propos Autofried­hof: Wer günstig Teile benötig­te, der fuhr nach Schnait­heim, wo es gleich mehre­re Schrott­plät­ze gab, darun­ter auf dem Gelän­de des heuti­gen Einkaufs­zen­trums. Sogar in Unter­ko­chen, direkt hinter dem Bahnhof, existier­te ein kleiner Schrott­platz, wohin wir als Jugend­li­che mit dem Fahrrad pilger­ten, um uns ans Steuer eines alten Merce­des, einer „Renault Dauphi­ne“ oder eines „Zündapp Janus“ zu setzen und vielleicht eine Betriebs­an­lei­tung darin zu finden. Für uns waren das Trophä­en, die zu Hause studiert wurden: „Es versteht sich von selbst, als Anfahr­gang stets den ersten Gang zu wählen, denn dazu ist er da…” (Borgward Hansa).

Oberkochen

Alte Betriebs­an­lei­tun­gen noch älterer Autos (Archiv Bogena)

Um gegen den an manchen Stellen wild abgestell­ten Schrott vorzu­ge­hen, gab es Anfang der 70er Jahre auch in Oberko­chen eine Sammel­stel­le (gleich am Eingang zur Stadt vor Aral-Tankstel­le Büchler). Dort konnte man kosten­los alles abstel­len, was aus Metall war, bis hin zum Auto.

Doch zurück zur Bahnhof­stra­ße und meinem Spazier­gang: Wenige Meter entfernt existier­te in den sechzi­ger Jahren ein weite­rer Kiosk auf der anderen Straßen­sei­te « das war das „Enepetz“-Kiosk », eine kleine Holzhüt­te, angelehnt an die Wand eines Hauses « das von den Schell­manns und Wingerts bewohnt wurde ». Soweit ich mich erinne­re, saß darin eine ältere Frau, um den vom und zum Bahnhof eilen­den Menschen auf die Schnel­le Zigaret­ten, eine Zeitung oder Süßig­kei­ten zu verkau­fen. Auch diesen Kiosk gibt es nicht mehr. Nach ca. 100 Metern mündet die Bahnhof­stra­ße in die eigent­li­che Haupt­stra­ße des Ortes. In den sechzi­ger Jahren baute an dieser Ecke ein örtli­cher Radio­händ­ler « Elektra-Blum » sein neues Geschäft – ein moder­nes Gebäu­de mit viel Beton und großen Schaufenstern.

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Elektro­fach­ge­schäft Wilhelm Fritscher (Archiv Müller)

Da konnte der gegen­über liegen­de kleine Elektro­la­den « der hieß Fritscher, siehe Bericht 627 » bald nicht mehr mithal­ten – ich glaube, damals kam der Begriff „Verdrän­gungs­wett­be­werb“ auf. Beim „Elektra-Blum“ gab’s im Erdge­schoss Haushalts­ge­rä­te und Koffer­ra­di­os, einen Stock höher konnte man sich Heimra­dio- und Fernseh­ge­rä­te vorfüh­ren lassen.

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Elektra Blum 1965 (Archiv Müller)

Exklu­si­ve­re Stereo­an­la­gen präsen­tier­ten sich in einem kleine­ren Neben­raum, darun­ter auch solche mit fremd­ar­tig klingen­den Namen wie Akai, Aiwa, Kenwood, Studer-Revox, Toshi­ba oder Sony, Namen, die neugie­rig machten, denn sie stamm­ten aus einem völlig anderen Teil dieser Welt. « Das war das Reich von Günter Kempf. Er hat sich von mir mal eine Direkt­schnitt-LP ausge­lie­hen, um seinen Kunden den perfek­ten Klang zu demons­trie­ren ». Das erste Koffer­ra­dio, mein erstes Tonband­ge­rät (beides von „Grundig“) und meinen ersten Kasset­ten­re­cor­der kaufte ich bei diesem Händler. Man kannte sich. Heute werden hier Kleidungs­stü­cke angebo­ten. « Das ist auch schon wieder Vergan­gen­heit. Eine Tochter des Döner-Chefs von der anderen Seite hat ein Geschäft für Geschenk­ar­ti­kel, beson­ders wohl für den türki­schen Geschmack, eröff­net ». Auf der anderen Straßen­sei­te wirbt ein türki­scher Döner-Imbiss auf dem Schau­fens­ter mit aufge­kleb­ten Bildern der hier angebo­te­nen Speisen. Hatte es dort früher nicht nach frischen Brötchen geduf­tet? Eine von mehre­ren Bäcke­rei­en müsste in diesem Haus gewesen sein.

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Die alte Bäcke­rei Widmann auch „Storchen-Bäck“ genannt (Archiv Müller)

« Richtig, das war der berühm­te Widmann’sche „Storchen­bäck“ ». Wenige Meter weiter trifft man auf leere Schau­fens­ter, der innen befes­tig­te Sicht­schutz aus Papier löst sich, kein schöner Anblick in der Mitte eines Ortes. Auch das Nachbar­ge­bäu­de, eine ehema­li­ge Gaststät­te, sieht nicht besser aus, ebenso hier leere Fenster und Eingangs­be­rei­che, die werktags gleicher­ma­ßen verschlos­sen bleiben. Das wird alles abgeris­sen, sagte mir jemand im Vorbei­ge­hen, der wohl meinen kriti­schen Blick bemerkt hatte.

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Die alte Mitte gegen­über der neuen Mitte – nicht schön, dafür selten (Archiv Müller)

« Wann sich hier etwas tun wird, weiß vermut­lich nicht einmal ein Hellse­her. Diese Häuser­zei­le ist im aktuel­len Zustand eine Schan­de und wer daran Schuld trägt, das wissen nur die Einge­weih­ten. Und dass das alte ehrwür­di­ge „Lamm“ keine Wieder­auf­er­ste­hung erlebt – aus welchem Grund auch immer – ist auch nicht zu begrei­fen. Politik heißt auch „mitnan­der schwätza“ und dann sollte die Kuh doch vom Eis können ».

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Innen­an­sicht der alten evange­li­schen Kirche (heute Biblio­thek) (Archiv Müller)

Dann stehe ich vor der alten evange­li­schen Kirche; sie wurde später an anderer Stelle durch einen Neubau aus Beton ersetzt. Mein Jahrgang durfte gerade noch im alten Sakral­bau zur Konfir­ma­ti­on. Während wir dort vor aller Augen und direkt neben dem Altar nachein­an­der unser Sprüch­lein aufsa­gen mussten, versuch­te mich mein Nachbar zum Lachen zu bringen. Nur mit Mühe schaff­te ich es, mich zu beherr­schen. Ein paar Meter weiter steht das Gottes­haus der Katho­li­ken. Mein damali­ger Freund Micha­el erzähl­te mir manch­mal, dass er dorthin zum Beich­ten gehen musste, für mich eine äußerst suspek­te, weil wider­sprüch­li­che Angele­gen­heit. Wenn Gott ohnehin angeb­lich alles sieht und weiß, warum musste man ihm die eigenen Sünden dann auch noch erzählen?

Anschlie­ßend passie­re ich jenes Haus, das jahrzehn­te­lang das Geschäft eines Juweliers beher­berg­te. Von hier stammt die Uhr, die ich zur Konfir­ma­ti­on bekam, eine „Dugena“ mit Fixoflex-Armband. Später erwarb ich meine Eherin­ge in diesem Laden, bevor ich von hier fortging. Wer mag die letzten Uhren, Schmuck, Bestecke und anderes aus dem Waren­be­stand erwor­ben haben? Ein Nachfol­ger hat sich offen­sicht­lich nicht finden lassen. « Heute befin­det sich „Oy’s“ Thai-Massa­ge in diesem Haus und bietet das klassi­sche Nuad Boran an. Ich selbst habe das in Thailand über mehre­re Wochen auch gelernt und schät­ze es sehr und gehe auch regel­mä­ßig hin ».

Dafür machen sich ein paar Meter weiter arabi­sche Einflüs­se bemerk­bar: Eine Sisha-Bar gab’s früher nicht, Wasser­pfei­fen kannte man allen­falls vom Hören­sa­gen. « Schon wieder Schnee von gestern. Ein weite­rer Leerstand. » Auch Wettbü­ros mit Sport­wet­ten wie gegen­über waren hier unbekannt, Gewin­ne verspra­chen sich die Väter allei­ne vom Lotto-Spiel oder Toto-Tipps. « Dieses Gebäu­de wurde Gott sei Dank gelif­tet. Sah schon schlimm aus. Vor der Zeit als Beiz war da ein Eisen­wa­ren-Kaufhaus mit großem Angebot zuhause. »

Ich drehe um, gehe ein Stück zurück und komme zur Haupt­schu­le, wo ich einige Freun­de hatte. Standes­dün­kel, weil ich selbst auf dem Gymna­si­um war? Berüh­rungs­ängs­te? Keine Spur, im Gegen­teil! Man traf sich zum Karten­spiel, sprach über Mädchen und Musik und unter­nahm einiges zusam­men. So fand ein Austausch statt; ich erfuhr vom Schul­le­ben der Anderen und später von deren Ausbil­dung in der Lehrzeit.

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Das alte Spiel­wa­ren­ge­schäft Unfried im „Kies“ (Archiv Müller)

Mich zieht es jetzt in jene Richtung, wo früher das Spiel- und Schreib­wa­ren­ge­schäft „Unfried“ mit seinen großen Schau­fens­tern zu einem meiner wichtigs­ten Ziele gehör­te. Ein Füller von „Pelikan“ oder „Geha“? Dort probier­te ich beide aus, um mich dann zu entschei­den. Ein neuer Zeichen­block (möglichst immer mit Bastel­bo­gen), irgend­wann ein Rechen­schie­ber von „Aristo“ (wer kann ihn heute noch bedie­nen), auch die Schul­bü­cher zum Jahres­an­fang konnten in diesem wunder­ba­ren Laden bestellt werden. Das schöns­te aber war die Spiel­wa­ren-Abtei­lung: „Märklin“-Eisenbahnen, Häuschen von „Faller“ zum Zusam­men­bau­en, Modell­au­tos von „Match­box“ und „Wiking“, größe­re Autos mit Kabel­fern­steue­rung. Toll, was es dort alles gab! Ich nutzte jede Gelegen­heit, um hier herein­zu­schau­en. Reicht das Taschen­geld, um Wünsche zu erfül­len? Heute deutet nichts mehr auf das ehema­li­ge kleine Paradies hin; in den Schau­fens­tern stehen keiner­lei Waren mehr, das Leben der Kinder und Jugend­li­chen wird heute von Smart­phones, Compu­ter­spie­len und Modetrends bestimmt. Nein, niemals würde ich mit ihnen tauschen wollen!

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Wiking und Faller – Das non-plus-Ultra der Modell­bau­er (Archiv Bogena)

Ein Paar kommt mir entge­gen, dürfte etwa in meinem Alter sein; der Mann trägt seine grauen Locken etwas länger. Damals, als wir gerade mal 16 waren, fand man lange Haare nicht einfach nur schick, sondern betrach­te­te sie als Ausdruck eines Lebens­ge­fühls, das die Songs der damali­gen Beatgrup­pen auslös­ten: „Hang on Sloopy. Satis­fac­tion!“ Und man setzte sich damit von den Älteren ab, denen man eine autori­tä­re und konser­va­ti­ve Einstel­lung nachsag­te. Wäre es möglich, dass ich mein Gegen­über von früher her kenne? Der ein oder andere wohnt vielleicht noch hier. Micha­el? Er besaß Langspiel­plat­ten von den „Doors“ und „Pink Floyd“, die er uns gern vorspiel­te. Nachdem er vorzei­tig die Schule verließ, habe ich nichts mehr von ihm gehört. Könnte er es sein? Ich bin mir nicht sicher, traue mich nicht ihn anzuspre­chen, gehe vorbei und denke gleich darauf: Jetzt ist es zu spät!

Nun folge ich einer der Seiten­stra­ßen, die ich oft mit dem Fahrrad durch­fah­ren habe. Es stamm­te aus einem altein­ge­ses­se­nen kleinen Fahrrad­la­den, namens „Elmer“ im Gasthaus „Krone“, und ich durfte es mir aus einer Reihe heraus­su­chen, die sich hochkant aufge­hängt an einer Wand befan­den. „Torpedo“-Dreigangschaltung. Die Licht­an­la­ge koste­te extra und für eine bunte Plastik­spi­ra­le, die über die Brems­sei­le gewickelt wurde, reich­te es auch noch. „Hahn“ hieß der Herstel­ler des Rades, das galt als Quali­täts­pro­dukt. Damit erkun­de­te ich die ganze Umgebung. Manches erken­ne ich wieder, zum Teil gut erhal­ten, das ein oder andere vom Zahn der Zeit gezeich­net, sicht­bar abgewohnt, verein­zelt leer stehend, anderes umgebaut oder in den letzten Jahren neu errich­tet. Dann komme ich in die Mehrfa­mi­li­en­haus-Siedlung in der Walter-Bauers­feld-Straße, wo einst viele meiner Freun­de wohnten, bis deren Eltern bauten oder in ein größe­res Domizil umzogen. Die Namen auf den Klingel­schil­dern sind mir fremd.

In der Nachbar­schaft steht die damals neu erbau­te Kirche, in deren Neben­räu­men wir an manchen Sonntag-Nachmit­ta­gen unsere „Teati­me“ veran­stal­ten durften. Beatmu­sik, tanzen, sich näher kommen. Eine schöne Erinne­rung. Auch das in den sechzi­ger Jahren erbau­te Rathaus befin­det sich hier in der Nähe, aber wo ist der kleine Pavil­lon auf dem Rathaus­platz, unser aller Treff­punkt in den sechzi­ger Jahren? Wer nichts zu tun hatte, kam hierher, setzte sich mit Transis­tor­ra­dio oder Kasset­ten­re­cor­der unters Dach und warte­te auf Gesell­schaft. Wenn’s im Sommer zu laut wurde, beschwer­te sich manch­mal jemand aus dem Nachbar­haus über die Langhaa­ri­gen und ihre „Hotten­tot­ten­mu­sik“. Dann kam es vor, dass die Polizei im VW-Käfer vorbei­fuhr. Der Pavil­lon ist weg – einer Neuge­stal­tung des Platzes zum Opfer gefallen.

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Das alte Rathaus neu gebaut und fertig­ge­stellt im Jahr 1968 (Archiv Müller)

Neben dem Rathaus eine Baugru­be. Genau an der Stelle, wo einst ein Hotel stand – in den sechzi­ger Jahren nach den Vorstel­lun­gen moder­nen Bauens neu errich­tet und jetzt schon wieder abgeris­sen, unglaub­lich. Im nobel wirken­den Hotel­re­stau­rant kehrten wir nach dem Unter­richt in der Tanzschu­le „Blunk“ ein. Dort trank ich mein erstes selbst bestell­tes Glas Rotwein und fühlte mich stolz, gleich­zei­tig aber auch ein wenig unsicher neben den wenigen anderen Gästen, vermut­lich Geschäfts­leu­te, die beruf­lich im Ort zu tun hatten. « Und jetzt steht dort das Vilotel und macht sich sehr gut ». Im Haus gegen­über befin­det sich jetzt ein Pflege­heim; zu meiner Jugend­zeit wohnten dort allein­ste­hen­de junge Männer, die meist in Ausbil­dung standen. Mit einem war ich locker befreun­det; regel­mä­ßig tausch­ten wir Technik­ma­ga­zi­ne – von ihm bekam ich „Hobby-Hefte“ zum Lesen, er von mir Autozei­tun­gen. Ob man sich mal einen „Rallye-Kadett“ oder einen „NSU TT“ leisten könnte? Die Zeit brach­te es mit sich, dass wir den Kontakt verlo­ren, schade. Wo mag er heute sein? Auch zu vielen anderen ist die Verbin­dung abgerissen.

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Das neue Progym­na­si­um mit Hallen­bad im Jahr 1962 oder 1963 (Archiv Müller)

Die Straße weiter hinauf befin­det sich, oben an den Berg gebaut, meine alte Schule, das Gymna­si­um. Seiner­zeit am 1. Dezem­ber 1962 feier­lich einge­weiht. Zu meiner Zeit noch ein so genann­tes Pro-Gymna­si­um, weil man für die letzten Klassen bis zum Abitur in die Nachbar­stadt wechseln musste. Gefühls­mä­ßig steigt man bis zum Eingang hunder­te von Treppen hinauf. « Ich habe nachge­zählt. Im Jahr 2019 sind es exakt 106 Stufen ». An manchen Tagen stand einer der aufsicht­füh­ren­den Lehrer zu Unter­richts­be­ginn mit einer Stopp­uhr in der Hand am Eingang. Zu-spät-kommen­de wurden geahn­det: Nachsit­zen! Das geschah meist in den Fachräu­men für Biolo­gie / Chemie, wo die armen Sünder Reagenz­glä­ser putzen oder Aufsät­ze zum Thema Pünkt­lich­keit schrei­ben mussten. An Sommer­nach­mit­ta­gen wurden die Delin­quen­ten auch mal ins nahe Wiesen­ge­län­de hinaus­ge­schickt, um Heuschre­cken zu fangen, welche in den folgen­den Tagen im Biolo­gie­un­ter­richt seziert werden sollten.

Einmal hissten Freun­de in der Nacht zum 1. Mai eine selbst herge­stell­te Toten­kopf­flag­ge auf dem Dach der Schule. Das verur­sach­te unerwar­te­ten Wirbel und stand sogar in der Zeitung, denn „offizi­el­le Stellen“ vermu­te­ten einen politisch motivier­ten Hinter­grund – es war die Zeit der 68er-Bewegung. Die Polizei unter­such­te den Fall, doch alle Betei­lig­ten schwie­gen und andere wussten nichts. « Das war ein wenig anders Reinhard. Nachzu­le­sen in Bericht 691 ». Trotz des ein oder anderen guten Lehrers kamen einige nicht klar an dieser Schule, an der damals, ebenso wie an vielen anderen Gymna­si­en, „gesiebt“ wurde. „Ihr Sohn wird in Deutsch nie eine besse­re Note als Vier errei­chen“ prophe­zei­te ein Studi­en­rat (mit Doktor­ti­tel, worauf er großen Wert legte) meinen Eltern zu jener Zeit. Ein Satz, der mir nie aus dem Kopf ging. Im gleichen Jahr verließ ich zusam­men mit mehre­ren Klassen­ka­me­ra­den diese Schule, um mein Glück am Gymna­si­um der Nachbar­stadt zu suchen und zu finden. « Ein anderer, Schul­lei­ter Schrenk, war tatsäch­lich der Meinung: Mathe kann man oder nicht und ein anderer Lehrer erklär­te mir später in einem Brief, dass es damals nach dem Motto ging: Nicht fördern, sondern selek­tie­ren. Heute wird das Abitur ja schon fast infla­tio­när verteilt und nicht selten stöhnen darüber Univer­si­tä­ten und Arbeit­ge­ber. Und hin und wieder muss an der FH oder UNI ein Mathe-Crash-Kurs gemacht werden, bevor das Studie­ren begin­nen kann ».

Neben der Schule erhebt sich das Gebäu­de des Hallen­bads, wo ich einst das Schwim­men lernte. Der Kurs fand abends statt. Auf dem Weg dahin hatte ich stets ein kleines MW-Transis­tor­ra­dio dabei, mit dem ich den Pop-Sender Radio Luxem­burg hörte. Das Haus, in dem ich früher wohnte, ist nicht weit weg. Ich gehe daher noch einmal meinen alten Schul­weg, vorbei an jenen Einfa­mi­li­en­häu­sern, deren Neubau ich damals mit Inter­es­se verfolg­te. In Gedan­ken spüre ich den Geruch frischen Betons in der Nase und erinne­re mich, wie ich verbo­te­ner­wei­se die Neubau­ten durch­streif­te. Es waren hochmo­der­ne, elegan­te Einfa­mi­li­en­häu­ser, wie sie sich meine Familie wohl niemals leisten könnte. Vater war Allein­ver­die­ner und erst seit kurzer Zeit Beamter. Darum bewohn­ten wir eine günsti­ge Dreizim­mer-Wohnung zur Miete in einem Mehrfa­mi­li­en­haus zusam­men mit anderen „norma­len“ Leuten, die irgend­wo ihrer Arbeit nachgin­gen. Alle Bewoh­ner achte­ten darauf, dass rund ums Haus alles sauber und ordent­lich aussieht. Schuhe putzen, keinen Dreck ins Treppen­haus reinbrin­gen, nicht mit dem Fuß die Türe aufsto­ßen! Und heute? Zumin­dest von außen macht alles einen vernach­läs­sig­ten Eindruck. Es erinnert mich an meine ersten Besuche in den neuen Bundes­län­dern, wo ich mit Entset­zen Ähnli­ches sah. Die Umgebung ist verwil­dert, zugewach­sen auch der schma­le Pfad in den nahege­le­ge­nen Wald. Hier baute ich mit Gedan­ken an die Abenteu­er­bü­cher von Karl May, die ich fast alle gelesen hatte, meine Lager. Oft trieb ich mich hier draußen herum, Sommers wie Winters.

Weit unter­halb dieser Wohnsied­lung am Berg liegt der Sport­platz, für mich keine gute Erinne­rung, denn dort fanden jedes Jahr Bundes­ju­gend­spie­le statt. „Mit deinen langen Beinen muss man mindes­tens 8 Meter sprin­gen können“ – nein, ich konnte nicht! Und dann die Läufe – überall, wo Schnel­lig­keit und Ausdau­er gefragt war, hinkte ich hinter­her. Dass das auch gesund­heit­lich bedingt war, ahnte selbst ich damals nicht. Nächs­tes Ziel auf meinem Weg zurück zum Auto ist jene Firma, bei der ich in späte­ren Jahren mit Ferien­ar­beit etwas Geld verdie­nen durfte. Arbeits­schu­he mit Stahl­kap­pen musste ich mir dafür kaufen. Acht Stunden Arbeit am Tag, in der Mittags­pau­se gab’s ’ne gut gewürz­te, aber kalorien­rei­che Wurst in der kleinen Kanti­ne. Darauf freute ich mich schon bei Arbeits­be­ginn. Die Arbeits­kol­le­gen waren nett, schwe­re Blech­rol­len binden und zum Weiter­trans­port in Positi­on rücken, mit einem ausge­mus­ter­ten uralten VW-Pritschen­wa­gen Abfall auf dem Firmen­ge­län­de trans­por­tie­ren, später im Labor Materi­al­prü­fun­gen durch­füh­ren im weißen Arbeits­kit­tel, Verant­wor­tung tragen, ein kleiner Aufstieg, der mich stolz machte…« Ich denke, dass es sich um das alte Kaltwalz-Werk handelt ».

Nicht weit weg befand sich die Zweig­stel­le eines Autohänd­lers aus der Nachbar­stadt. Hof, Schau­fens­ter und Werkstatt-Trakt stehen leer. Früher schau­te ich mir in dem damals neu errich­te­ten Areal die aktuel­len Model­le an oder inspi­zier­te verun­fall­te Fahrzeu­ge, die manch­mal im Hinter­hof standen. Ich strei­fe um das Gebäu­de herum, wobei mein Blick in den verwil­der­ten Garten eines Mehrfa­mi­li­en­hau­ses fällt. Berge­wei­se Altrei­fen, zerschla­ge­ne Möbel, zerlump­te Matrat­zen und anderer Unrat türmen sich dort unter wuchern­den Pflan­zen, die es nicht schaf­fen, das alles zu verber­gen. Dennoch macht das Gebäu­de einen bewohn­ten Eindruck. Wie kann man etwas so verkom­men lassen? Ich habe das Gefühl, beobach­tet zu werden; als ich hinschaue, verschwin­det jemand schnell hinter der Hausecke und an einem Fenster zieht sich ein Kopf zurück. Sieht aus, als ob hier Flücht­lin­ge unter­ge­bracht sind…

Oberkochen

Kocher­ur­sprung um 1950 herum (Archiv Müller)

Mein letzter Weg führt mich zum „Kocher“, der am Ortsrand entspringt und idyllisch durch den alten Ortskern plätschert. Schade, dass dieses Stück Weg entlang des klaren Wassers so kurz ist. Es ist eine der schönen Ecken dieses Ortes, wo Ursprüng­li­ches erhal­ten blieb. « Aufge­passt Reinhard, die Neue Mitte lässt grüßen. Bald kannst du dir das anschau­en und es wird dir hoffent­lich gefal­len. Die Bauar­bei­ten haben inzwi­schen begon­nen ». Auch an anderen Stellen sind durch­aus Versu­che erkenn­bar, Neues zu gestal­ten, auf verän­der­te Zeiten zu reagie­ren. Die Welt dreht sich weiter, der größte Teil des Lebens, das damals vor mir lag, liegt nun hinter mir. Dieser Ort gehört dazu, ebenso wie einige andere, die mein Leben prägten. Nachdenk­lich setze ich mich ins Auto und lasse die Vergan­gen­heit hinter mir, zumin­dest für diesen Augen­blick. Vielleicht sieht in den nächs­ten Jahren wieder alles ganz anders aus…

Es grüßen die Schul­freun­de Wilfried „Billie Wichai“ Müller vom Sonnen­berg und Reinhard Bogena aus Essingen.

Zur Info.

Der „Billie vom Sonnen­berg“ wird weiter­hin seine Berich­te unter diesem Namen schrei­ben, auch wenn er zum 1. Juni 2019 in die Frühlings­stra­ße 2 umzieht. Die Kontakt­da­ten bleiben vermut­lich unver­än­dert. Für mich geht ein Lebens­ab­schnitt zu Ende und ein neuer beginnt. Das wird sicher nicht ganz einfach werden wird, zumal ich mich von vielen Dingen trennen muss, weil die neue Wohnung nicht alles aufneh­men kann, was ein altes Haus so im Laufe der Jahrzehn­te gesam­melt hat.

Danke.

Im Bericht 700 habe ich expli­zit Albert Holz gedankt, der mit einige Male gehol­fen hat. Das gilt natür­lich ganz beson­ders auch für Franz Holden­ried und Sepp Merz, die ich doch glatt in der Amtsblatt­aus­ga­be unter­schla­gen habe.

Wilfried „Billie Wichai“ Müller

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