Vorspann.
Diesen Bericht schrieb Reinhard Bogena, Sohn der Eheleute Reinhard (Revierförster) und Brunhilde (Hausfrau), seinerzeit wohnhaft in der Beethovenstr. 36. Früher hat er seine Schulzeit in Oberkochen verbracht, danach stand er als Lehrer in Essingen seinen Mann. Heute ist er Pensionär und beschäftigt sich weiterhin mit viel Herzblut mit „alten Sachen“ und schreibt darüber. Zum einen Bücher und zum anderen Artikel in der Fachzeitschrift „TRÖDEL“. Sein Interesse gehört auch alten schönen Autos mit wunderbarem Design, aus einer Zeit als die Autos noch eine „Seele“ hatten.
Anmerkung:
Der geschilderte Besuch fand 2017 statt. Wilfried hat daher einige Bemerkungen in Fettdruck und in Klammern « » hinzugefügt, damit das ganze wieder aktuell bzw. ergänzt wird. Andy Neuhäuser liebt besonders die verschiedenen Textformatierungen, die aufhalten ☺.
Mein Besuch im Jahre 2017.
Ich, Reinhard Bogena, parke in Bahnhofsnähe, steige aus dem Auto und sehe mich um. Das Gebäude ist renoviert, doch im Inneren, wo sich Reisende früher ihre Fahrkarten am Schalter besorgten, hat ein chinesisches Restaurant Einzug gehalten. Den einstigen Schalterbeamten ersetzt ein Automat auf dem Bahnsteig. Von hier aus fuhr ich einst zum Gymnasium in die Nachbarstadt, häufig gezogen von einer der letzten Dampflokomotiven, deren weiße Dampfwolken mit schwarzen Rußpartikeln vermischt am Abteilfenster vorbeizogen. Doch die Schulzeit habe ich schon lange hinter mir und selbst das Berufsleben ist für mich Vergangenheit.

Das alte Postamt, der alte Bahnhof mit der Bahnhofs-Beiz und dem Kiosk (Archiv Müller)
Gegenüber befand sich das Postamt. Dorthin brachte ich meine sorgfältig verfassten Briefe, die ich Freunden und meinen ersten Jugendlieben schrieb. Auch die eine oder andere Sonderbriefmarke erwarb ich in diesem Gebäude vom kleinen Taschengeld und ließ mir Sonderstempel geben. Bestimmt würden sie einmal im Wert steigen, dachte ich. « mir hat mal ein Briefmarkenhändler gesagt: L.L.L. = Lang Liegen Lassen – wird vermutlich auch nicht helfen » Löcher in der Außenwand zeigen, wo einst der Briefkasten und ein Automat für Postwertzeichen befestigt waren. Stark vergilbte Bücher erkennt man jetzt hinter schmutzigen Fenstern, man könnte sie wohl mitnehmen, wenn der im Inneren der alten Post vorhandene „Umsonst-Laden“ geöffnet hätte. Doch wer interessiert sich im Internetzeitalter noch für Bücher? Außerdem ist heute Sonntag, der Eingang verschlossen.
Gleich neben dem Bahnhof gibt es eine Gaststätte, an deren Vorderseite sich zu meiner Zeit ein Kiosk befand. Dort, herausgereicht durch ein kleines Fenster, bekam man neben Zeitschriften und Süßigkeiten auch Zigaretten in 6er-Packungen. Die waren billig und ich füllte sie gerne in attraktivere Schachteln um, die mehr Prestige versprachen. Die Box von „Atika“ war mein Favorit, das hatte nicht jeder. Den kleinen Vorbau erkenne ich wieder, aber nichts deutet mehr auf den ehemaligen Kiosk hin.
Langsam gehe ich weiter, vorbei an einem ehemals feudal wirkenden Haus, einer Villa, die etwas zurückversetzt von der Straße in einem hoch umzäunten Garten steht. Sicher gab es einmal Bedienstete in diesem Haus, so stellte ich mir das als Jugendlicher vor. Eines Tages stand in der breiten Einfahrt zur Villa ein alter „Goliath“ Pkw – vermutlich ein GP 700. Gut erinnere ich mich an das fehlende Kennzeichen, er schien ausgemustert zu sein. Trotz seiner Seltenheit standen Fahrzeuge dieses Alters meist auf dem Autofriedhof, weil sie niemand mehr wollte. Dennoch hatte ich mich, damals gerade mal siebzehn Jahre alt und als Schüler ohne Geld, nicht zu fragen getraut, ob man ihn günstig erwerben könnte. Ich hätte die Folgekosten ohnehin nicht bezahlen können.
A propos Autofriedhof: Wer günstig Teile benötigte, der fuhr nach Schnaitheim, wo es gleich mehrere Schrottplätze gab, darunter auf dem Gelände des heutigen Einkaufszentrums. Sogar in Unterkochen, direkt hinter dem Bahnhof, existierte ein kleiner Schrottplatz, wohin wir als Jugendliche mit dem Fahrrad pilgerten, um uns ans Steuer eines alten Mercedes, einer „Renault Dauphine“ oder eines „Zündapp Janus“ zu setzen und vielleicht eine Betriebsanleitung darin zu finden. Für uns waren das Trophäen, die zu Hause studiert wurden: „Es versteht sich von selbst, als Anfahrgang stets den ersten Gang zu wählen, denn dazu ist er da…” (Borgward Hansa).

Alte Betriebsanleitungen noch älterer Autos (Archiv Bogena)
Um gegen den an manchen Stellen wild abgestellten Schrott vorzugehen, gab es Anfang der 70er Jahre auch in Oberkochen eine Sammelstelle (gleich am Eingang zur Stadt vor Aral-Tankstelle Büchler). Dort konnte man kostenlos alles abstellen, was aus Metall war, bis hin zum Auto.
Doch zurück zur Bahnhofstraße und meinem Spaziergang: Wenige Meter entfernt existierte in den sechziger Jahren ein weiterer Kiosk auf der anderen Straßenseite « das war das „Enepetz“-Kiosk », eine kleine Holzhütte, angelehnt an die Wand eines Hauses « das von den Schellmanns und Wingerts bewohnt wurde ». Soweit ich mich erinnere, saß darin eine ältere Frau, um den vom und zum Bahnhof eilenden Menschen auf die Schnelle Zigaretten, eine Zeitung oder Süßigkeiten zu verkaufen. Auch diesen Kiosk gibt es nicht mehr. Nach ca. 100 Metern mündet die Bahnhofstraße in die eigentliche Hauptstraße des Ortes. In den sechziger Jahren baute an dieser Ecke ein örtlicher Radiohändler « Elektra-Blum » sein neues Geschäft – ein modernes Gebäude mit viel Beton und großen Schaufenstern.

Elektrofachgeschäft Wilhelm Fritscher (Archiv Müller)
Da konnte der gegenüber liegende kleine Elektroladen « der hieß Fritscher, siehe Bericht 627 » bald nicht mehr mithalten – ich glaube, damals kam der Begriff „Verdrängungswettbewerb“ auf. Beim „Elektra-Blum“ gab’s im Erdgeschoss Haushaltsgeräte und Kofferradios, einen Stock höher konnte man sich Heimradio- und Fernsehgeräte vorführen lassen.

Elektra Blum 1965 (Archiv Müller)
Exklusivere Stereoanlagen präsentierten sich in einem kleineren Nebenraum, darunter auch solche mit fremdartig klingenden Namen wie Akai, Aiwa, Kenwood, Studer-Revox, Toshiba oder Sony, Namen, die neugierig machten, denn sie stammten aus einem völlig anderen Teil dieser Welt. « Das war das Reich von Günter Kempf. Er hat sich von mir mal eine Direktschnitt-LP ausgeliehen, um seinen Kunden den perfekten Klang zu demonstrieren ». Das erste Kofferradio, mein erstes Tonbandgerät (beides von „Grundig“) und meinen ersten Kassettenrecorder kaufte ich bei diesem Händler. Man kannte sich. Heute werden hier Kleidungsstücke angeboten. « Das ist auch schon wieder Vergangenheit. Eine Tochter des Döner-Chefs von der anderen Seite hat ein Geschäft für Geschenkartikel, besonders wohl für den türkischen Geschmack, eröffnet ». Auf der anderen Straßenseite wirbt ein türkischer Döner-Imbiss auf dem Schaufenster mit aufgeklebten Bildern der hier angebotenen Speisen. Hatte es dort früher nicht nach frischen Brötchen geduftet? Eine von mehreren Bäckereien müsste in diesem Haus gewesen sein.

Die alte Bäckerei Widmann auch „Storchen-Bäck“ genannt (Archiv Müller)
« Richtig, das war der berühmte Widmann’sche „Storchenbäck“ ». Wenige Meter weiter trifft man auf leere Schaufenster, der innen befestigte Sichtschutz aus Papier löst sich, kein schöner Anblick in der Mitte eines Ortes. Auch das Nachbargebäude, eine ehemalige Gaststätte, sieht nicht besser aus, ebenso hier leere Fenster und Eingangsbereiche, die werktags gleichermaßen verschlossen bleiben. Das wird alles abgerissen, sagte mir jemand im Vorbeigehen, der wohl meinen kritischen Blick bemerkt hatte.

Die alte Mitte gegenüber der neuen Mitte – nicht schön, dafür selten (Archiv Müller)
« Wann sich hier etwas tun wird, weiß vermutlich nicht einmal ein Hellseher. Diese Häuserzeile ist im aktuellen Zustand eine Schande und wer daran Schuld trägt, das wissen nur die Eingeweihten. Und dass das alte ehrwürdige „Lamm“ keine Wiederauferstehung erlebt – aus welchem Grund auch immer – ist auch nicht zu begreifen. Politik heißt auch „mitnander schwätza“ und dann sollte die Kuh doch vom Eis können ».

Innenansicht der alten evangelischen Kirche (heute Bibliothek) (Archiv Müller)
Dann stehe ich vor der alten evangelischen Kirche; sie wurde später an anderer Stelle durch einen Neubau aus Beton ersetzt. Mein Jahrgang durfte gerade noch im alten Sakralbau zur Konfirmation. Während wir dort vor aller Augen und direkt neben dem Altar nacheinander unser Sprüchlein aufsagen mussten, versuchte mich mein Nachbar zum Lachen zu bringen. Nur mit Mühe schaffte ich es, mich zu beherrschen. Ein paar Meter weiter steht das Gotteshaus der Katholiken. Mein damaliger Freund Michael erzählte mir manchmal, dass er dorthin zum Beichten gehen musste, für mich eine äußerst suspekte, weil widersprüchliche Angelegenheit. Wenn Gott ohnehin angeblich alles sieht und weiß, warum musste man ihm die eigenen Sünden dann auch noch erzählen?
Anschließend passiere ich jenes Haus, das jahrzehntelang das Geschäft eines Juweliers beherbergte. Von hier stammt die Uhr, die ich zur Konfirmation bekam, eine „Dugena“ mit Fixoflex-Armband. Später erwarb ich meine Eheringe in diesem Laden, bevor ich von hier fortging. Wer mag die letzten Uhren, Schmuck, Bestecke und anderes aus dem Warenbestand erworben haben? Ein Nachfolger hat sich offensichtlich nicht finden lassen. « Heute befindet sich „Oy’s“ Thai-Massage in diesem Haus und bietet das klassische Nuad Boran an. Ich selbst habe das in Thailand über mehrere Wochen auch gelernt und schätze es sehr und gehe auch regelmäßig hin ».
Dafür machen sich ein paar Meter weiter arabische Einflüsse bemerkbar: Eine Sisha-Bar gab’s früher nicht, Wasserpfeifen kannte man allenfalls vom Hörensagen. « Schon wieder Schnee von gestern. Ein weiterer Leerstand. » Auch Wettbüros mit Sportwetten wie gegenüber waren hier unbekannt, Gewinne versprachen sich die Väter alleine vom Lotto-Spiel oder Toto-Tipps. « Dieses Gebäude wurde Gott sei Dank geliftet. Sah schon schlimm aus. Vor der Zeit als Beiz war da ein Eisenwaren-Kaufhaus mit großem Angebot zuhause. »
Ich drehe um, gehe ein Stück zurück und komme zur Hauptschule, wo ich einige Freunde hatte. Standesdünkel, weil ich selbst auf dem Gymnasium war? Berührungsängste? Keine Spur, im Gegenteil! Man traf sich zum Kartenspiel, sprach über Mädchen und Musik und unternahm einiges zusammen. So fand ein Austausch statt; ich erfuhr vom Schulleben der Anderen und später von deren Ausbildung in der Lehrzeit.

Das alte Spielwarengeschäft Unfried im „Kies“ (Archiv Müller)
Mich zieht es jetzt in jene Richtung, wo früher das Spiel- und Schreibwarengeschäft „Unfried“ mit seinen großen Schaufenstern zu einem meiner wichtigsten Ziele gehörte. Ein Füller von „Pelikan“ oder „Geha“? Dort probierte ich beide aus, um mich dann zu entscheiden. Ein neuer Zeichenblock (möglichst immer mit Bastelbogen), irgendwann ein Rechenschieber von „Aristo“ (wer kann ihn heute noch bedienen), auch die Schulbücher zum Jahresanfang konnten in diesem wunderbaren Laden bestellt werden. Das schönste aber war die Spielwaren-Abteilung: „Märklin“-Eisenbahnen, Häuschen von „Faller“ zum Zusammenbauen, Modellautos von „Matchbox“ und „Wiking“, größere Autos mit Kabelfernsteuerung. Toll, was es dort alles gab! Ich nutzte jede Gelegenheit, um hier hereinzuschauen. Reicht das Taschengeld, um Wünsche zu erfüllen? Heute deutet nichts mehr auf das ehemalige kleine Paradies hin; in den Schaufenstern stehen keinerlei Waren mehr, das Leben der Kinder und Jugendlichen wird heute von Smartphones, Computerspielen und Modetrends bestimmt. Nein, niemals würde ich mit ihnen tauschen wollen!

Wiking und Faller – Das non-plus-Ultra der Modellbauer (Archiv Bogena)
Ein Paar kommt mir entgegen, dürfte etwa in meinem Alter sein; der Mann trägt seine grauen Locken etwas länger. Damals, als wir gerade mal 16 waren, fand man lange Haare nicht einfach nur schick, sondern betrachtete sie als Ausdruck eines Lebensgefühls, das die Songs der damaligen Beatgruppen auslösten: „Hang on Sloopy. Satisfaction!“ Und man setzte sich damit von den Älteren ab, denen man eine autoritäre und konservative Einstellung nachsagte. Wäre es möglich, dass ich mein Gegenüber von früher her kenne? Der ein oder andere wohnt vielleicht noch hier. Michael? Er besaß Langspielplatten von den „Doors“ und „Pink Floyd“, die er uns gern vorspielte. Nachdem er vorzeitig die Schule verließ, habe ich nichts mehr von ihm gehört. Könnte er es sein? Ich bin mir nicht sicher, traue mich nicht ihn anzusprechen, gehe vorbei und denke gleich darauf: Jetzt ist es zu spät!
Nun folge ich einer der Seitenstraßen, die ich oft mit dem Fahrrad durchfahren habe. Es stammte aus einem alteingesessenen kleinen Fahrradladen, namens „Elmer“ im Gasthaus „Krone“, und ich durfte es mir aus einer Reihe heraussuchen, die sich hochkant aufgehängt an einer Wand befanden. „Torpedo“-Dreigangschaltung. Die Lichtanlage kostete extra und für eine bunte Plastikspirale, die über die Bremsseile gewickelt wurde, reichte es auch noch. „Hahn“ hieß der Hersteller des Rades, das galt als Qualitätsprodukt. Damit erkundete ich die ganze Umgebung. Manches erkenne ich wieder, zum Teil gut erhalten, das ein oder andere vom Zahn der Zeit gezeichnet, sichtbar abgewohnt, vereinzelt leer stehend, anderes umgebaut oder in den letzten Jahren neu errichtet. Dann komme ich in die Mehrfamilienhaus-Siedlung in der Walter-Bauersfeld-Straße, wo einst viele meiner Freunde wohnten, bis deren Eltern bauten oder in ein größeres Domizil umzogen. Die Namen auf den Klingelschildern sind mir fremd.
In der Nachbarschaft steht die damals neu erbaute Kirche, in deren Nebenräumen wir an manchen Sonntag-Nachmittagen unsere „Teatime“ veranstalten durften. Beatmusik, tanzen, sich näher kommen. Eine schöne Erinnerung. Auch das in den sechziger Jahren erbaute Rathaus befindet sich hier in der Nähe, aber wo ist der kleine Pavillon auf dem Rathausplatz, unser aller Treffpunkt in den sechziger Jahren? Wer nichts zu tun hatte, kam hierher, setzte sich mit Transistorradio oder Kassettenrecorder unters Dach und wartete auf Gesellschaft. Wenn’s im Sommer zu laut wurde, beschwerte sich manchmal jemand aus dem Nachbarhaus über die Langhaarigen und ihre „Hottentottenmusik“. Dann kam es vor, dass die Polizei im VW-Käfer vorbeifuhr. Der Pavillon ist weg – einer Neugestaltung des Platzes zum Opfer gefallen.

Das alte Rathaus neu gebaut und fertiggestellt im Jahr 1968 (Archiv Müller)
Neben dem Rathaus eine Baugrube. Genau an der Stelle, wo einst ein Hotel stand – in den sechziger Jahren nach den Vorstellungen modernen Bauens neu errichtet und jetzt schon wieder abgerissen, unglaublich. Im nobel wirkenden Hotelrestaurant kehrten wir nach dem Unterricht in der Tanzschule „Blunk“ ein. Dort trank ich mein erstes selbst bestelltes Glas Rotwein und fühlte mich stolz, gleichzeitig aber auch ein wenig unsicher neben den wenigen anderen Gästen, vermutlich Geschäftsleute, die beruflich im Ort zu tun hatten. « Und jetzt steht dort das Vilotel und macht sich sehr gut ». Im Haus gegenüber befindet sich jetzt ein Pflegeheim; zu meiner Jugendzeit wohnten dort alleinstehende junge Männer, die meist in Ausbildung standen. Mit einem war ich locker befreundet; regelmäßig tauschten wir Technikmagazine – von ihm bekam ich „Hobby-Hefte“ zum Lesen, er von mir Autozeitungen. Ob man sich mal einen „Rallye-Kadett“ oder einen „NSU TT“ leisten könnte? Die Zeit brachte es mit sich, dass wir den Kontakt verloren, schade. Wo mag er heute sein? Auch zu vielen anderen ist die Verbindung abgerissen.

Das neue Progymnasium mit Hallenbad im Jahr 1962 oder 1963 (Archiv Müller)
Die Straße weiter hinauf befindet sich, oben an den Berg gebaut, meine alte Schule, das Gymnasium. Seinerzeit am 1. Dezember 1962 feierlich eingeweiht. Zu meiner Zeit noch ein so genanntes Pro-Gymnasium, weil man für die letzten Klassen bis zum Abitur in die Nachbarstadt wechseln musste. Gefühlsmäßig steigt man bis zum Eingang hunderte von Treppen hinauf. « Ich habe nachgezählt. Im Jahr 2019 sind es exakt 106 Stufen ». An manchen Tagen stand einer der aufsichtführenden Lehrer zu Unterrichtsbeginn mit einer Stoppuhr in der Hand am Eingang. Zu-spät-kommende wurden geahndet: Nachsitzen! Das geschah meist in den Fachräumen für Biologie / Chemie, wo die armen Sünder Reagenzgläser putzen oder Aufsätze zum Thema Pünktlichkeit schreiben mussten. An Sommernachmittagen wurden die Delinquenten auch mal ins nahe Wiesengelände hinausgeschickt, um Heuschrecken zu fangen, welche in den folgenden Tagen im Biologieunterricht seziert werden sollten.
Einmal hissten Freunde in der Nacht zum 1. Mai eine selbst hergestellte Totenkopfflagge auf dem Dach der Schule. Das verursachte unerwarteten Wirbel und stand sogar in der Zeitung, denn „offizielle Stellen“ vermuteten einen politisch motivierten Hintergrund – es war die Zeit der 68er-Bewegung. Die Polizei untersuchte den Fall, doch alle Beteiligten schwiegen und andere wussten nichts. « Das war ein wenig anders Reinhard. Nachzulesen in Bericht 691 ». Trotz des ein oder anderen guten Lehrers kamen einige nicht klar an dieser Schule, an der damals, ebenso wie an vielen anderen Gymnasien, „gesiebt“ wurde. „Ihr Sohn wird in Deutsch nie eine bessere Note als Vier erreichen“ prophezeite ein Studienrat (mit Doktortitel, worauf er großen Wert legte) meinen Eltern zu jener Zeit. Ein Satz, der mir nie aus dem Kopf ging. Im gleichen Jahr verließ ich zusammen mit mehreren Klassenkameraden diese Schule, um mein Glück am Gymnasium der Nachbarstadt zu suchen und zu finden. « Ein anderer, Schulleiter Schrenk, war tatsächlich der Meinung: Mathe kann man oder nicht und ein anderer Lehrer erklärte mir später in einem Brief, dass es damals nach dem Motto ging: Nicht fördern, sondern selektieren. Heute wird das Abitur ja schon fast inflationär verteilt und nicht selten stöhnen darüber Universitäten und Arbeitgeber. Und hin und wieder muss an der FH oder UNI ein Mathe-Crash-Kurs gemacht werden, bevor das Studieren beginnen kann ».
Neben der Schule erhebt sich das Gebäude des Hallenbads, wo ich einst das Schwimmen lernte. Der Kurs fand abends statt. Auf dem Weg dahin hatte ich stets ein kleines MW-Transistorradio dabei, mit dem ich den Pop-Sender Radio Luxemburg hörte. Das Haus, in dem ich früher wohnte, ist nicht weit weg. Ich gehe daher noch einmal meinen alten Schulweg, vorbei an jenen Einfamilienhäusern, deren Neubau ich damals mit Interesse verfolgte. In Gedanken spüre ich den Geruch frischen Betons in der Nase und erinnere mich, wie ich verbotenerweise die Neubauten durchstreifte. Es waren hochmoderne, elegante Einfamilienhäuser, wie sie sich meine Familie wohl niemals leisten könnte. Vater war Alleinverdiener und erst seit kurzer Zeit Beamter. Darum bewohnten wir eine günstige Dreizimmer-Wohnung zur Miete in einem Mehrfamilienhaus zusammen mit anderen „normalen“ Leuten, die irgendwo ihrer Arbeit nachgingen. Alle Bewohner achteten darauf, dass rund ums Haus alles sauber und ordentlich aussieht. Schuhe putzen, keinen Dreck ins Treppenhaus reinbringen, nicht mit dem Fuß die Türe aufstoßen! Und heute? Zumindest von außen macht alles einen vernachlässigten Eindruck. Es erinnert mich an meine ersten Besuche in den neuen Bundesländern, wo ich mit Entsetzen Ähnliches sah. Die Umgebung ist verwildert, zugewachsen auch der schmale Pfad in den nahegelegenen Wald. Hier baute ich mit Gedanken an die Abenteuerbücher von Karl May, die ich fast alle gelesen hatte, meine Lager. Oft trieb ich mich hier draußen herum, Sommers wie Winters.
Weit unterhalb dieser Wohnsiedlung am Berg liegt der Sportplatz, für mich keine gute Erinnerung, denn dort fanden jedes Jahr Bundesjugendspiele statt. „Mit deinen langen Beinen muss man mindestens 8 Meter springen können“ – nein, ich konnte nicht! Und dann die Läufe – überall, wo Schnelligkeit und Ausdauer gefragt war, hinkte ich hinterher. Dass das auch gesundheitlich bedingt war, ahnte selbst ich damals nicht. Nächstes Ziel auf meinem Weg zurück zum Auto ist jene Firma, bei der ich in späteren Jahren mit Ferienarbeit etwas Geld verdienen durfte. Arbeitsschuhe mit Stahlkappen musste ich mir dafür kaufen. Acht Stunden Arbeit am Tag, in der Mittagspause gab’s ’ne gut gewürzte, aber kalorienreiche Wurst in der kleinen Kantine. Darauf freute ich mich schon bei Arbeitsbeginn. Die Arbeitskollegen waren nett, schwere Blechrollen binden und zum Weitertransport in Position rücken, mit einem ausgemusterten uralten VW-Pritschenwagen Abfall auf dem Firmengelände transportieren, später im Labor Materialprüfungen durchführen im weißen Arbeitskittel, Verantwortung tragen, ein kleiner Aufstieg, der mich stolz machte…« Ich denke, dass es sich um das alte Kaltwalz-Werk handelt ».
Nicht weit weg befand sich die Zweigstelle eines Autohändlers aus der Nachbarstadt. Hof, Schaufenster und Werkstatt-Trakt stehen leer. Früher schaute ich mir in dem damals neu errichteten Areal die aktuellen Modelle an oder inspizierte verunfallte Fahrzeuge, die manchmal im Hinterhof standen. Ich streife um das Gebäude herum, wobei mein Blick in den verwilderten Garten eines Mehrfamilienhauses fällt. Bergeweise Altreifen, zerschlagene Möbel, zerlumpte Matratzen und anderer Unrat türmen sich dort unter wuchernden Pflanzen, die es nicht schaffen, das alles zu verbergen. Dennoch macht das Gebäude einen bewohnten Eindruck. Wie kann man etwas so verkommen lassen? Ich habe das Gefühl, beobachtet zu werden; als ich hinschaue, verschwindet jemand schnell hinter der Hausecke und an einem Fenster zieht sich ein Kopf zurück. Sieht aus, als ob hier Flüchtlinge untergebracht sind…

Kocherursprung um 1950 herum (Archiv Müller)
Mein letzter Weg führt mich zum „Kocher“, der am Ortsrand entspringt und idyllisch durch den alten Ortskern plätschert. Schade, dass dieses Stück Weg entlang des klaren Wassers so kurz ist. Es ist eine der schönen Ecken dieses Ortes, wo Ursprüngliches erhalten blieb. « Aufgepasst Reinhard, die Neue Mitte lässt grüßen. Bald kannst du dir das anschauen und es wird dir hoffentlich gefallen. Die Bauarbeiten haben inzwischen begonnen ». Auch an anderen Stellen sind durchaus Versuche erkennbar, Neues zu gestalten, auf veränderte Zeiten zu reagieren. Die Welt dreht sich weiter, der größte Teil des Lebens, das damals vor mir lag, liegt nun hinter mir. Dieser Ort gehört dazu, ebenso wie einige andere, die mein Leben prägten. Nachdenklich setze ich mich ins Auto und lasse die Vergangenheit hinter mir, zumindest für diesen Augenblick. Vielleicht sieht in den nächsten Jahren wieder alles ganz anders aus…
Es grüßen die Schulfreunde Wilfried „Billie Wichai“ Müller vom Sonnenberg und Reinhard Bogena aus Essingen.
Zur Info.
Der „Billie vom Sonnenberg“ wird weiterhin seine Berichte unter diesem Namen schreiben, auch wenn er zum 1. Juni 2019 in die Frühlingsstraße 2 umzieht. Die Kontaktdaten bleiben vermutlich unverändert. Für mich geht ein Lebensabschnitt zu Ende und ein neuer beginnt. Das wird sicher nicht ganz einfach werden wird, zumal ich mich von vielen Dingen trennen muss, weil die neue Wohnung nicht alles aufnehmen kann, was ein altes Haus so im Laufe der Jahrzehnte gesammelt hat.
Danke.
Im Bericht 700 habe ich explizit Albert Holz gedankt, der mit einige Male geholfen hat. Das gilt natürlich ganz besonders auch für Franz Holdenried und Sepp Merz, die ich doch glatt in der Amtsblattausgabe unterschlagen habe.
Wilfried „Billie Wichai“ Müller