Vor einigen Monaten hatte ich die Leser­schaft gebeten, im Rahmen des Berichts 674 über die Stumpf’sche Famili­en­ge­schich­te, ihre eigene Geschich­te „Wie ich nach Oberko­chen kam“ zu erzäh­len. Dazu erreich­ten mich einige Geschich­ten, die nun nach und nach bearbei­tet und veröf­fent­licht werden. In diesem Zusam­men­hang will ich auch auf das Thema HEIMAT einge­hen. Dieses Thema ist in Zeiten starker Verän­de­run­gen durch­aus wieder aktuell gewor­den. Die politi­schen Partei­en und sogar die Kirche (in ihren Predig­ten) beschäf­tig­ten sich mit diesem Thema. Politik tut sich mit dem Begriff schwer, und bewegt sich dabei sehr vorsich­tig wie in einem Tretmi­nen­feld. Aber inzwi­schen haben wir ja sogar ein Heimat­mi­nis­te­ri­um (Man glaubt es kaum). Wir sehen das auch an der Fülle der Zeitschrif­ten in den Kiosken, die sich mit dem Thema beschäf­ti­gen. Nach dem II. Weltkrieg war das Thema ganz heiß, denn Millio­nen verlo­ren ihre ALTE HEIMAT und mussten eine NEUE HEIMAT suchen. Ich erinne­re mich, dass meine Großel­tern in Fulda eine Garten­par­zel­le in der Klein­gärt­ner­sied­lung NEUE HEIMAT hatten, um sich dort frisches Gemüse selbst zu ziehen. Dieser Begriff ist auch der Name eines DGB-eigenen Wohnungs­bau­un­ter­neh­mens mit Sitz in Hamburg. Das zeigt uns, dass es damals überwie­gend um den Verlust der alten und um die Verwur­ze­lung in der neuen Heimat ging.

Aber was ist das – Heimat oder Hoimat? Was verbin­den wir damit?

Zualler­erst ist das etwas, was für die Jungen (auch wir waren das mal und sahen das ähnlich) keine große Bedeu­tung hat. Sie sind vornehm­lich mit sich beschäf­tigt und leben für die Zukunft und die Umset­zung ihrer Träume. Das Gefühl für die Heimat kommt erst später, meistens wenn man sie verlas­sen hat. Für jene, welche die Heimat nie verlas­sen haben, sind es wohl die Sprache, der Dialekt, Kultur und Bräuche, die Landschaft, der dazuge­hö­ri­ge Geruch sowie die Freun­de. Auch mit Mutter’s Küche hat es etwas zu tun und mit den Festen der frühen Jahre. Und ganz wichtig mit Schule, den Freun­den von früher, den Verei­nen, den Orten und den Lieblings­plät­zen sowie die Abenteu­er der Kindheit. Für andere, welche die Heimat verlo­ren haben, geht es um Herkunft und Vertrei­bung, um Trauer und Zerstö­rung, um das Exil, in dem man sich zurecht­fin­den muss. Andere haben ihre Heimat aus verschie­de­nen Gründen freiwil­lig verlas­sen. Bei denen geht es überwie­gend darum, die Bande zur Heimat nicht zu zerschnei­den. Solan­ge Klassen- und Jahrgangs­tref­fen statt­fin­den und die Eltern noch leben, bleibt die Verbin­dung bestehen. Es finden hin und wieder Besuche statt und man genießt die Rückkehr an die Stätte der Kindheit und Jugend, trifft sich mit alten Freun­den und der Familie und schwelgt in Erinne­run­gen. Trotz­dem geht man aber gerne wieder weg, weil man für seine eigene Familie eine neue, eigene Heimat gefun­den hat. Grund­sätz­lich gilt, dass Heimat etwas mit Sicher­heit, Wohlfüh­len und Gebor­gen­heit zu tun hat. Die Welt mag sich immer schnel­ler drehen, Heimat bietet Halt und Zuver­sicht. Nicht umsonst heißt eines der belieb­tes­ten deutschen Volks­lie­der „Kein schöner Land in dieser Zeit als hier das uns’re weit und breit….“ Zum Thema Heimat gibt es auf der WebSite des HVO eine Betrach­tung von Josef Mascha­lek aus dem Jahr 1954.

Heimat_von_Josef_Maschalek.pdf

Meine Sicht der Dinge

Für mich war Oberko­chen immer Heimat­ha­fen, von dem aus ich in die Welt aufge­bro­chen bin – privat, für die Marine und für Leitz. Und ich bin immer wieder gerne zurück­ge­kom­men, um dann wieder aufzu­bre­chen, wenn Fernweh, Beruf oder die große(n) Liebe(n) mich gezwun­gen haben. Als ich ein bis zwei Mal im Jahr in den 70ern von Sylt oder Kiel mit dem Nacht­zug nach Hause gefah­ren bin, fingen die Heimat­ge­füh­le in Crails­heim an, als ich morgens um 6 Uhr umstei­gen musste und mich Kilome­ter für Kilome­ter an Oberko­chen annäher­te. Gegen 8 Uhr war ich in Oberko­chen und alles war wieder wie früher. Nach ein paar Tagen war es dann aber auch wieder genug und es ging wieder in die Welt hinaus. Ich habe einen Sauna­freund, der vor vielen Jahren ohne Arbeit und nicht bereit war Oberko­chen deshalb zu verlas­sen, um sein Glück woanders zu versu­chen. Auf die Frage warum antwor­te­te er mir damals: „Ich bleibe hier, bin gedul­dig und warte ab; hier wohnen doch meine Freun­de.“ Als ich 1973 Oberko­chen verließ, zog ich in den nördlichs­ten Ort mit Namen List auf Sylt (mit der nördlichs­ten Fisch­bu­de Deutsch­lands namens „Gosch“, das heute ein Imperi­um darstellt), weil mir hier alles zu klein und zu eng war. Ich suchte das Meer und weite Horizon­te. Nachdem ich die Welt gesehen hatte, der abend­li­che Sonnen­un­ter­gang über dem Meer zur Norma­li­tät gewor­den war, kehrte ich nach 4 Jahren zur See und über 81.000 Seemei­len zurück in meinen schwä­bi­schen Heimat­ha­fen. Das Thema ist natür­lich auch eng mit den Begrif­fen Heimat­ver­ein und Heimat­mu­se­um verbun­den und für einen Ort „ohne Geschich­te“ ist es Dietrich Bantel und dem „Bär“ gelun­gen sehr viel zusam­men­zu­tra­gen und zur Schau zu stellen und der Kuno Gold liefer­te die familiä­ren Struk­tu­ren dazu. Es gibt die große Geschich­te, die uns mehr oder weniger lieblos und langwei­lig im Geschichts­un­ter­richt vermit­telt wird und es gibt die vielen kleinen Geschich­ten, die regel­mä­ßig im Amtsblatt oder auf der Website des Heimat­ver­eins gelesen werden können und die letzt­end­lich auch ein Gefühl von Heimat vermit­teln. Heimat­ge­füh­le führen aber auch zur Verklei­ne­rung, zur Veren­gung der Sicht­wei­se. Beson­ders dann, wenn sich das Umfeld drama­tisch zu verän­dern scheint. Sei es durch Arbeits­lo­sig­keit, durch Flücht­lings­zu­zug oder durch Terror. Dann ist der Wohlfühl­be­reich bedroht und letzt­end­lich fühlt man sich dann nur noch in seiner Wohnung sicher. Abschlie­ßend noch eine persön­li­che Einschät­zung: Es macht einen Riesen­un­ter­schied, ob ich die Leute kenne und sie mich, oder ob ich ein Fremder in einem Ort bin. Nichts Schöne­res ‚wenn ich aus der Ferne zurück­kom­me und die Leut‘ grüß und mit ihnen schwätz, in d‘ Sauna gang, auf d‘Wochamarkt (leider derzeit etwas mickrig in ungewöhn­li­cher Umgebung), zum Frühschop­pa en d‘Bretzgabloas, unter­wegs oft mit dem Rad auf unseren Reinhold Messner treff‘ und wir uns über Gott und die Welt unter­hal­ten, beim Gang durch den Ort hier und da a Schwätz­le halt, vorbei­fah­ren­den Autos zuwin­ke, gerne das Lob über meine Berich­te entge­gen­neh­me, beim Gnaier a Butter­bre­zel ess‘ ond im „Podium“ en Weißwein schlürf – auf der Oschtalb ben I dahoim.

Weihnach­ten

ist wohl das Fest, welches das höchs­te Heimat­ge­fühl vermit­telt. Wir haben, meistens aus Gründen des Studi­ums oder der Berufs­wahl, unsere Heimat verlas­sen. Die Enge hinter uns gelas­sen und sind ins Leben gestol­pert. In der Regel sind wir, solan­ge wir keine eigene Familie hatten, an Weihnach­ten „nach Hause“ zurück­ge­kehrt, um in der Familie gemein­sam, nach familiä­rer Sitte, das Heili­ge Fest zu feiern. Einer­seits hat es uns angezo­gen und wir näher­ten uns auf der Anrei­se unserem Heimat­ort wieder an. Überleg­ten was sich alles verän­dert haben könnte, ob die bekann­ten Gesich­ter noch da waren u.ä.m. Anderer­seits war aber auch sofort die Enge wieder da, vor der wir einst geflo­hen waren. Nach dem Fest und einem Treffen mit den Klassen­ka­me­ra­den von früher auch glück­lich, wieder abrei­sen zu können. Solche Besuche waren oft ambiva­lent und hinter­lie­ßen das Gefühl: Nächs­tes Mal komme ich nicht wieder, um dann wortbrü­chig doch wieder ein Jahr später zurück zu sein.

1984 kam die TV-Serie „Heimat“ von Edgar Reitz ins Fernsehen.

Ein irrsin­nig aufwen­di­ger TV-Mehrtei­ler. Der Titel so provo­kant wie program­ma­tisch, die erste Staffel der TV-Chronik über Schab­bach, einem fikti­ven Dorf im Hunsrück. Ein sensa­tio­nel­ler Erfolg. Der Regis­seur arbei­te­te 3 Jahre an diesem Thema und erhielt über 15.000 Briefe. Der Wert der Heimat ist in diesen Jahren noch gestie­gen. 56 Prozent der Deutschen geben heute an, dass Heimat „eher an Bedeu­tung gewon­nen“ hat, nur für 25 Prozent ist sie bedeu­tungs­lo­ser gewor­den. Längst sind auch die ehema­li­gen Spötter umgeschwenkt und heimge­kehrt. Natür­lich gibt es auch im Kreis unseres Schul­zeit-Treffs „Schöle­rIn­nen“, denen das bis heute nichts bedeu­tet. Denen sage ich: „Euch entgeht ein Lebens-Gefühl“. Heimat ist salon­fä­hig gewor­den, vom Vertrie­ben­en­tref­fen über die Alters­ge­nos­sen und Schul­zeit-Treffs bis hin zum Stamm­tisch Graf Eberhard in der Kult-Beiz „Grube“ in Oberkochen.

Aphoris­men und Sprüche zum Thema Heimat.

Fried­rich Schil­ler: „In der Fremde erfährt man, was die Heimat wert ist.“ Max Frisch: „Die ursprüng­li­che Heimat ist eine Mutter, die zweite eine Stief­mut­ter.“ Homer: „Wer sich überall zuhau­se fühlt, ist nirgend­wo daheim.“ Theodor Fonta­ne: „Wer in die Fremde geht, weiß was er an der Heimat hat“. Johann Wolfgang von Goethe: „Niemand darf seine Wurzeln verges­sen, sie sind der Ursprung unseres Lebens.“ Edgar Reitz: “Heimat ist nichts einfa­ches, ist immer wider­sprüch­lich.“ Wolfgang Schäub­le: „Wenn ich daheim bin, versteht mich jeder sofort.“ Ein türki­sches Sprich­wort sagt: „Heimat ist dort, wo du satt wirst.“ Ein Mitschü­ler zu einem anderen: „Warum gehst du denn zu diesen überflüs­si­gen Klassen­tref­fen? Die Antwort laute­te: „Weil dort unsere Wurzeln sind.“ Damit ist alles gesagt.

Oberkochen

Hartmut der gewerb­li­che Berufs­aus­bil­der (alle Fotos aus Archiv Stefan Müller)

Bevor wir nun zur eigent­li­chen Geschich­te kommen, muss ich darauf hinwei­sen, dass es in unserer Gemein­de zwei Hartmut Müller gab und beide waren Ausbil­der bei Carl Zeiss. Der eine, rührig, umtrie­big; egal ob beim Zeissa Karle, in der Politik (SPD), im Zeiss-Jugend-Club oder im Gemein­de­rat usw. usf. war kaufmän­ni­scher Ausbil­der. Dieser Hartmut wohnt heute mit seiner Inge auf der Heide. In diesem Bericht geht es um den anderen Hartmut Müller, der in der gewerb­li­chen Ausbil­dung bei Zeiss tätig war und lange in der Jenaer Straße wohnte.

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Stefan spielt Schach am Gutenbach

Doch nun zur Geschich­te, geschrie­ben von Stefan Müller, mit den Augen seines Sohnes Valentin.

Dazu eine nette Begeben­heit am Rande. Ich wohnte früher auch in der Jenaer Straße 8, bevor mein Sohn Sascha geboren wurde und habe auch noch Stefans Mutter Ellen gekannt, die leider viel zu früh gestor­ben ist und Hartmut Müller als allein­er­zie­hen­den Vater zweier Söhne, Carsten und Stefan, zurück­las­sen musste:

Mein Name ist Valen­tin Müller und ich möchte heute erzäh­len wie ich nach Oberko­chen kam. Damit meine ich nicht die Geschich­te, wie ich im Febru­ar 2014, nach vier Tage Aufent­halt im Aalener Kranken­haus, von meinen Eltern Monika und Stefan nach Hause in den Gerhart-Haupt­mann-Weg in Oberko­chen gebracht wurde. Den gleichen Weg haben meine Eltern 1980 und 1981 auch beschrit­ten, aller­dings mit Endsta­ti­on Jenaer Straße – mein Papa in die Hausnum­mer 8 und meine Mama in die Hausnum­mer 23. Nein, ich möchte in meiner Erzäh­lung begin­nen, wie und warum meine Großel­tern und teilwei­se sogar Urgroß­el­tern den Weg nach Oberko­chen in meine Heimat fanden. Hier stellt sich die Frage was ist denn „Heimat“? Wo man geboren wurde, wo man den Großteil seines Lebens verbracht hat, wo die Eltern herkom­men bzw. geboren wurden oder woher die Vorfah­ren stammen? In dieser sehr mobilen Welt, mit häufi­gen Stand­ort­wech­seln aufgrund des Studi­ums, der Arbeits­platz­wahl oder auch der Liebe wegen, ist das eine sehr vielfäl­tig zu beant­wor­ten­de Frage.

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Eltern­haus von Hartmut Müller in Neuhaus

Da ist zunächst mein Opa Hartmut Müller, geboren 1929 in Neuhaus am Rennweg im Thürin­ger Wald. 1944 begann er eine Lehre zum Feinme­cha­ni­ker 50km entfernt von seiner Heimat bei der Firma Carl Zeiss in Jena, die er 1947 mit dem Fachar­bei­ter­brief erfolg­reich abschloss. Nachdem die US-Boys Thürin­gen gemäß der Konfe­renz von Jalta an die Russen überga­ben, began­nen diese alles zu demon­tie­ren – auch das was niet- und nagel­fest war, im Grunde alles was die Amis nicht mitge­nom­men hatten. Repara­tio­nen nannte man das. Die Deutschen sollten schau­en wie sie zurecht­ka­men, sie waren schließ­lich der Urheber des Großen Krieges. Diese Erleb­nis­se ließen in der Gedan­ken­welt meines Opas den Entschluss reifen, nicht länger im Neuen Osten Deutsch­lands zu bleiben. Er begann seine Flucht im Juni 1948 (zur damali­gen Währungs­re­form am 20. Juni im Westen). Erst nach Göttin­gen, verfolgt und mit Schüs­sen bedroht durch Grenz­schüt­zer. Da in Göttin­gen bei Carl Zeiss, besser gesagt, bei der R. Winkel GmbH, bei welcher Carl Zeiss damals größter Anteils­eig­ner war, niemand aus dem Osten einge­stellt wurde und die briti­schen Besat­zer alle wieder zurück schick­ten, beschloss mein Opa sich zu seinem Onkel nach Bissin­gen (Teck) in Süddeutsch­land durch­zu­schla­gen. Als weite­res Flucht­mit­tel diente die Eisen­bahn. Er enter­te einen Waggon über das Zugfens­ter, als die Patrouil­len gerade nicht hinsa­hen. Er hatte nur eine Akten­ta­sche mit dem nötigs­ten Dingen (u.a. wichti­ge Dokumen­te und Unter­la­gen sowie ein selbst­ge­bau­tes Carl Zeiss Fernglas, das heute noch in der Familie in Ehren gehal­ten wird) bei sich. Viele Einzel­hei­ten der Flucht klingen leider wieder vertraut, wenn wir die Fernseh­bil­der der letzten Jahre Revue passie­ren lassen. Grenzen werden bei Dunkel­heit überschrit­ten, Schüs­se werden auf die Flüch­ten­den abgege­ben, lange Fußmär­sche und Züge als Flucht­mit­tel. Grenzer und Patrouil­len, die Menschen dabei hindern, ihre Pläne umzuset­zen, um ein besse­res Leben zu errei­chen. Dabei ist es keine zwei Genera­tio­nen her, dass viele unserer eigenen Vorfah­ren ein sehr ähnli­ches Schick­sal erdul­den mussten. Erfolg­reich in Süddeutsch­land angekom­men, konnte er leider nicht dauer­haft bei seinen Onkel bleiben, denn auch dort war nach dem Krieg nur schwer ein Auskom­men zu finden. So zog er in ein Auffang­heim bei Stutt­gart-Kornwest­heim weiter. Dort war nur ein trost­lo­ses Leben als Tagelöh­ner möglich. Als ihn dort im August die Nachricht erreich­te, dass Carl Zeiss in Oberko­chen Arbeits­kräf­te suchen würde, vor allem aus dem alten Stand­ort Jena, zog er umgehend in der Nacht mit weite­ren Kolle­gen los, um nach Oberko­chen zu gelan­gen und dort sein Glück zu machen. Bis Schwä­bisch Gmünd wurden sie von einem LKW mitge­nom­men und danach liefen sie die Nacht durch bis sie am Morgen Oberko­chen erreich­ten! Hier wurde er nach Prüfung seiner Papie­re einge­stellt. Auf seinem Ausweis mit der Nr. 1165 ist das Datum 12.08.1948 vermerkt, und so legte er den neuen Grund­stein für die zukünf­ti­gen Müllers aus seiner Linie in Oberkochen.

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Hartmut’s erstes Baracken-Zuhause

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Hartmut blickt in eine besse­re Zukunft

Zuerst wohnte er in den Zeiss-Baracken am Ölwei­her, dann in der Dreißen­tal­stra­ße 62, im Zeppe­lin­weg 43 und später lange Jahre in der Jenaer Straße 8. Er war in Oberko­chen auch sehr aktiv in den Verei­nen TVO (TSV) und FCO (über 40 Jahre mit Fußball und Handball) und im Schwä­bi­schen Albver­ein. Aber auch außer­halb der Vereins­struk­tu­ren gestal­te­te er das gesell­schaft­li­che Leben in seiner neuen Heimat mit. Vor über 50 Jahren, in Jahr 1967 gründe­te er zusam­men mit Handbal­ler-Freun­den die Garten­ge­mein­schaft im Schwörz.

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Hartmut’s Garten­freun­de im Schwörz

Aber er engagier­te sich auch im Jahrgang 1929, bei vielen anderen losen Treffen in Oberko­chen (Schwimm­bad, Sauna Freun­de, 5 Uhr Treff, Kegel­freun­de usw.). Aber auch im Berufs­le­ben hat er viele junge Menschen als Ausbil­der für Feinme­cha­ni­ker bis 1986 geprägt, als er nach mehr als 40 Jahre bei Carl Zeiss in den Frühru­he­stand ging. Beson­ders über die Freizei­ten mit den Auszu­bil­den­den in den Alpen oder auch über die Kriegs­grä­ber­fahr­ten nach Frank­reich bei Greno­ble und Dagneux erzähl­te er gerne.

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Mit dem Heinkel Roller unter­wegs – immer etwas Besonderes

Genau­so gerne schwärm­te er von seinem ersten motori­sier­ten Gefährt Ende der 50iger Jahre – seinem Heinkel-Roller. Dieser wurde dann später von einem VW-Käfer mit großem Fenster abgelöst, dem dann einige Audis folgten. Da zu einer Familie auch ein Ehepart­ner gehör­te, komme ich nun zu meiner Oma Ellen und deren Eltern Hans und Margarete.

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Marga­re­te und Hans Lindner im sog. Sonntags-Staat

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Vertrie­be­nen- und Flücht­lings­aus­weis Hans Lindner

Mein Uropa Hans Lindner, ursprüng­lich aus Schwein­furt (*1908), verschlug es auf der Suche nach Arbeit in den 20iger Jahren von der Indus­trie­stadt Schwein­furt nach Jena zu Carl Zeiss, wo er 1929 als Schlei­fer anfing. Im Jahre 1932 erfolg­te dann die Heirat mit Marga­re­te Högner aus Auma. Beide bekamen als einzi­ges Kind 1936 meine Oma Ellen. Nach Oberko­chen kam Hans Lindner als politi­scher Flücht­ling, auch wieder­um zu Carl Zeiss. Da er sich aktiv an den Reden und Streiks gegen das SED Régime betei­ligt hatte und der Volks­auf­stand am 17.Juni 1953 nieder­ge­schla­gen wurde, musste er flüch­ten, um den Bestra­fun­gen zu entge­hen. Am 7.Oktober 1953 wurde er dann als Bewoh­ner in Oberko­chen im damali­gen Männer­wohn­heim (heute Sonnen­berg­schu­le) im Turmweg 24 regis­triert. Obwohl die Familie in Jena ein Haus besaß, wurde die Flucht für den Rest der Familie nach Oberko­chen organi­siert. Zuerst wurde es mit einer Zuzugs­be­rech­ti­gung aus dem Jahre 1954 versucht. Diese konnte aber nicht genutzt werden und so gelang die Flucht im Septem­ber 1955 über Berlin. So fand sich die Familie Lindner zuerst im Zeppe­lin­weg 19 und später auch in der 21 in Oberko­chen wieder. Dort blieb Hans wohnhaft bis zum frühen Tod seiner Frau Marga­re­te im Jahre 1965. Danach zog es ihn weiter nach Heiden­heim wo er, bis zu seinem Tod 1986, wohnhaft war. Der Firma Carl Zeiss blieb er über 40 Jahre, bis zum Ruhestand Juni 1972, treu. Dort engagier­te er sich, geprägt durch die Zeit in Jena, viele Jahre im Betriebsrat.

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Ellen und ihre Zeiss-Tanz-Gruppe 1960

Doch nun zurück zu meiner Oma Ellen. In ihrer Geburts­stadt Jena erlern­te sie von 1951 bis 1954 den Beruf der techni­schen Zeich­ne­rin bei Carl Zeiss. Nach ihrer Flucht führte sie diese Tätig­keit hier bei Carl Zeiss in der Abtei­lung Med. fort. Im gesell­schaft­li­chen Leben engagier­te sie sich beson­ders in der Zeiss-Tanzgrup­pe Oberko­chen in den 60iger Jahren.

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Hartmut heira­tet seine Ellen 1959

Die Familie von Ellen und Hartmut Müller in Oberko­chen entstand 1956 und im Jahr 1959 bekam die Bezie­hung mit der Hochzeit in Oberko­chen nunmehr einen offizi­el­len Status. Ellen war in Oberko­chen von 1955 bis 1965 bei Carl Zeiss tätig, bis mein Onkel Carsten geboren wurde. Mein Papa Stefan kam dann als 2. Kind 1980 dazu und nun war die Familie komplett. Meine Oma Ellen verstarb 1985 leider, bedingt durch eine unheil­ba­re Krebs­krank­heit, viel zu früh. Die Eltern meiner Mutter Monika kamen erst später nach Oberko­chen, wobei die Gründe, warum es gerade Oberko­chen gewor­den ist, auch ihren Ursprung in den Flucht- und Migra­ti­ons­be­we­gun­gen des 2. Weltkriegs hatte. Gergelj und Ilona Valtner stammen aus Vojvo­di­na genau­er gesagt Nova Crnja und Marko­vice­vo im Banat gelegen. Wobei Geschwis­ter der Mutter von Gergelj zum Ende des 2. Weltkriegs, da diese mit Deutschen verhei­ra­tet waren, nach Deutsch­land vertrie­ben wurden und letzt­end­lich in Großku­chen gelan­det waren.

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Gergly Valtner beim Röchling

Durch diesen familiä­ren Kontakt und der Suche nach einer besser bezahl­ten Arbeit kam Gergelj Ende 1972/Anfang 1973 (zusam­men mit Onkel und Cousin beide mit Namen Janos, genannt Jani), nach Ostwürt­tem­berg um Arbeit zu finden. In dieser Zeit wurden in Jugosla­wi­en aktiv Gastar­bei­ter angewor­ben, aller­dings eher in anderen Regio­nen als im Banat. Letzt­end­lich lande­ten sie alle drei bei der Firma Röchling (heute Wälzholz). Am Ende ihres Arbeits­le­bens, mit dem verdien­ten Renten­ein­tritt, hatten sie dann über 30 Jahre bei dieser Firma verbracht. Auch seine Frau Ilona geb. Palin­ko, kam Ende 1973 nach Oberko­chen nach und fand ebenfalls bei der Firma Röchling eine Anstel­lung. Zurück in der Heimat in Jugosla­wi­en blieben die beiden Töchter Ilona und Ibolya, da keine dauer­haf­te Auswan­de­rung geplant war. 1978 kam dann mein Onkel Gergelj jun. und 3 Jahre später meine Mutter Monika hier im Aalener Kranken­haus zur Welt. Zuerst wohnte man in der Meisen­gas­se und dann in der Jenaer Straße 23. So wohnten Mama Monika und Papa Stefan einige Jahre lang schräg gegen­über ohne vonein­an­der zu wissen, dass sich ihre Wege einige Jahre später wieder kreuzen und verei­ni­gen würden. Mitte der 80iger wurde in Jugosla­wi­en ein neues Haus gebaut, denn ein dauer­haf­tes Bleiben war weiter­hin nicht geplant. Doch der Zusam­men­bruch des Ostblocks und mit den sich anbah­nen­den Kriegen in Jugosla­wi­en machte einen dicken Strich durch diese Planun­gen und so entschloss man sich 1993 hier in der Mühlstra­ße ein Haus zu kaufen und zwar eines der inzwi­schen abgeris­se­nen Grambohl-Häuser. An der Stelle entstand vor kurzem ein Wohnblock mit Arztpra­xen. Ende der 90iger fanden dann meine Mutter und Papa zuein­an­der und heira­te­ten im Jahre 2005. Nachdem beide zuerst neben Opas alter Wohnung in der Jenaer­str. 8 wohnten, zogen beide 2011 in den Gerhart-Haupt­mann-Weg, wo nun auch mein Zuhau­se ist. Übrigens, wie sollte es auch anders sein, auch mein Papa Stefan hat den gleichen Arbeit­ge­ber wie alle seine Vorfah­ren und ist jetzt schon über 12 Jahre bei der Firma Carl Zeiss tätig.

Das ist meine Geschich­te wie ich und meine Vorfah­ren nach Oberko­chen gekom­men sind. Ich gehe jetzt in den gleichen Kinder­gar­ten wie Papa und Mama, nur das Gebäu­de am Guten­bach hat sich inzwi­schen verän­dert. Wenn ich mich dort so bei meinem Spiel­ge­fähr­ten umschaue, stelle ich fest, dass es nicht viele Kinder gibt, die als die 2. Genera­ti­on hier geboren wurden und die Großel­tern bzw. sogar die Urgroß­el­tern zugezo­gen sind. Bin ich jetzt auch ein Einhei­mi­scher und ist Oberko­chen meine Heimat, auch wenn ich der Schwä­bi­schen Sprache nicht mächtig bin?

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Marga­re­te Lindner, Hans und Ellen im Zeppe­lin­weg 21

Dank

an Stefan, der diesen Bericht geschrie­ben und alle Bilder zur Verfü­gung gestellt hat. Natür­lich ist sein Valen­tin ein Einhei­mi­scher, der hier seine Heimat hat, so wie die anderen auch und er ist auch ein Schwa­be – ob mit Dialekt oder ohne. Diese Geschich­te zeigt einmal mehr die familiä­ren Verflech­tun­gen, die zwischen Carl Zeiss Jena und Oberko­chen bestehen. Für die einen ist das die richti­ge Heimat und für die anderen die neue Heimat. In diesem Zusam­men­hang will ich mal hervor­he­ben, dass unsere Gemein­de, was Integra­ti­on angeht, ein durch­aus gelun­ge­nes Projekt ist. Natür­lich war es mitun­ter eine schwe­re Geburt, beson­ders in den 40ern, 50ern und 60ern. Aber kompli­zier­te Gebur­ten bringen mitun­ter starke Kinder auf die Welt. Hier mussten sich nach dem II. Weltkrieg Bauern, Arbei­ter und Angestell­te, Thürin­ger, Sachsen und Schwa­ben, Italie­ner, Jugosla­wen, Spani­er und Türken (um nur einige zu nennen), Vertrie­be­ne, Flücht­lin­ge und sonsti­ge „Reig’schmeckte“ zusam­men finden (manch­mal auch raufen) und lernen mitein­an­der auszu­kom­men. Und so ist es bis heute und wird es auch in Zukunft sein. Und das alles funktio­niert relativ gut, weil es hier Arbeit gibt – bei alten ehrwür­di­gen Global Playern und bei neuen innova­ti­ven Firmen, beim Handwerk und Handel sowie im dienst­leis­ten­den Gewer­be, die den Menschen hier Arbeit geben. Denn Heimat ist auch, wo es den Menschen gut geht.

Heimat­li­che Grüße vom Sonnen­berg und vom Gerhart-Haupt­mann-Weg. Und nicht verges­sen: Jeder, der Oberko­chen seine Heimat nennt, sollte wenigs­tens einmal im Heimat­mu­se­um gewesen sein, um sich mit der Geschich­te seines Heimat-Ortes ausein­an­der­zu­set­zen. An die Lehrer­schaft geht der Apell, dass jedes Kind während der Schul­zeit wenigs­tens einmal im Museum gewesen sein sollte. Diese Einla­dung gilt natür­lich allen anderen auch und gerade das vergan­ge­ne Jubilä­ums­jahr 2017 des Heimat­ver­eins ist ein Grund mehr, sich mit der Thema­tik zu beschäf­ti­gen. 43,9 % aller deutschen Museen sind Volks­kun­de- und Heimat­mu­se­en, aber nur 13,8 % der Besucher „verlau­fen“ sich zu ihnen. Wir leben in einem Zeital­ter der begin­nen­den Digita­li­sie­rung und ich bin der festen Überzeu­gung, dass sich auch die Heimat-Museen anpas­sen und ein virtu­el­les Museum über das Inter­net anbie­ten müssen – denn nicht immer kommt der „Hund zum Knochen, sondern der Knochen muss mitun­ter auch zum Hund“.

Stefan Müller

Wilfried Billie Wichai Müller vom Sonnenberg.

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