Eines Samstag­mor­gens war ich auf dem Wochen­markt und traf dort Franz Holden­ried. Er sprach mich an: „Komm‘ doch mal vorbei und lass‘ uns über die alten Zeiten schwät­zen“. Gesagt getan – wenn auch mit mehrmo­na­ti­ger Verspä­tung. Also setzten wir uns ab der 2. Jahres­hälf­te 2016 zusam­men und dabei entstand die Idee, etwas über die ersten Italie­ner in Oberko­chen zu schrei­ben. Nachdem wir so einige Male zusam­men­ge­ses­sen waren und ich die vielen Expona­te und Bilder im Hause Holden­ried sehen durfte, war klar, dass in diesem Bericht auch über die Holden­rieds erzählt werden muss. Und so entstand dieser Bericht und wir hoffen, dass er der Leser­schaft gefällt.

Deutsch­lands Gastarbeiter

Die ersten Gäste, die Deutsch­land offizi­ell ins Land bat, um fleißig beim Wirtschafts­wun­der Hand anzule­gen, kamen aus Itali­en: 1955 schloss die Bundes­re­pu­blik mit Rom ein Anwer­be­ab­kom­men für italie­ni­sche Arbeits­kräf­te ab. Für die jungen Italie­ner, soweit sie nicht aus Nordita­li­en stamm­ten, gab es nicht viel zu erhof­fen – Militär oder Arbeits­lo­sig­keit. Es folgten 1960 Griechen­land und Spani­en, bis Ende der Sechzi­ger zudem Marok­ko, Portu­gal, Tunesi­en und Jugosla­wi­en. Den größten Einfluss auf die Entwick­lung sollte aber ein nur zwei Seiten umfas­sen­des Papier haben, das am 30. Oktober 1961 unter­zeich­net wurde: Das Anwer­be­ab­kom­men mit der Türkei führte zum Beginn der türki­schen Einwanderung.

Und nun begann etwas was bis heute fortdau­ert. Wir riefen zuerst italie­ni­sche Arbeits­kräf­te und es kamen Menschen. Wir nannten sie Gastar­bei­ter, aber wir behan­del­ten sie oft nicht als Gäste. Wir gingen davon aus, dass sie eines Tages wieder gehen würden, aber sie blieben und trotz aller, bis heute bestehen­der Proble­me, berei­cher­ten sie letzt­end­lich unser aller Leben (Vermut­lich sieht man das nirgend­wo besser als in Berlin). Sie erhiel­ten Arbeit als Un- oder Angelern­te in der Indus­trie, vor allem in Berei­chen, in denen es schmut­zig zuging oder schwe­re körper­li­che Arbeit gefragt war. Aber sie hatten es schwer, denn das deutsche Wetter und Essen waren schwer zu ertra­gen. Freizeit war sicher nicht einfach in unserem Land, denn die deutschen Männer sahen in den meist jungen Italie­nern Konkur­renz im eigenen Land – nicht wegen der Arbeit, sondern wegen der Mädels. Im Zuge dieser kleinen Völker­wan­de­rung von Süd nach Nord kam natür­lich auch das Essen zu uns und sicher­te nicht nur das Überle­ben der italie­ni­schen Gäste, sondern berei­cher­te auch nach und nach unseren Speise­zet­tel und die Restau­rant­land­schaft. Ein Deutsch­land ohne Menschen italie­ni­scher Herkunft ist heute gar nicht vorstell­bar, aber es war ein langer, manch­mal auch schmerz­haf­ter Weg. Deutsch­land und Itali­en, das war schon immer etwas Beson­de­res und wird es wohl auch immer bleiben – egal ob Landschaft, Essen, Weine, Fußball oder das Lebens­ge­fühl im Land der Zitro­nen, das es auch schon Goethe angetan hat.

Noch ein paar statis­ti­sche Daten

Die meisten Italie­ner, die sich im Laufe der Zeit in Deutsch­land nieder­lie­ßen, verlie­ßen ihre Heimat aus Gründen der Arbeits­su­che. In Deutsch­land leben im Jahr 2015 rund 600.000 italie­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge. Damit ist Deutsch­land nach Argen­ti­ni­en das Land mit den meisten italie­ni­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen außer­halb Italiens.

Die Stadt­ver­wal­tung

steuert noch Daten zur Bevöl­ke­rungs­struk­tur 1956 und 2016 in Oberko­chen bei, aus der wir Inter­es­san­tes erken­nen können.

Oberkochen

1956 – Wo sind unsere Einwoh­ner geboren? (Archiv Holdenried)

Oberkochen

2016 – Wo kommen unsere Einwoh­ner her? (Archiv Holdenried)

2 kleine Italie­ner, nein in diesem Fall 4

Oberkochen

Antonio und Giorgio (Archiv Holdenried)

und klein waren sie auch nicht, kamen 1959 (vermut­lich) als erste Italie­ner nach Oberko­chen. Sie hießen Antonio Scandur­ra, Giorgio Sinori­ni, Frances­co NN und Cesare NN. Anfangs wohnten Sie bei Holster in der Feigen­gas­se 14 (war in den Jahren vor dem Abbruch auch Flücht­lings­un­ter­kunft bevor das Grund­stück zum Lehrer­park­platz mutier­te). Bis auf Antonio gingen die anderen bald wieder zurück. Später wohnte Antonio bei Dombrow­ski in der Weingar­ten­stra­ße 40. Da sich niemand um die neuen Arbeits­kol­le­gen aus dem Süden kümmer­te, nahm sich Franz Holden­ried ihrer an. Antonio war inter­es­siert und begabt und wurde später als Former angelernt. Doch zuerst musste er den Formsand mit der Schub­kar­re trans­por­tie­ren, denn Gastar­bei­ter waren billi­ger als die Anschaf­fung von Gabel­stap­lern. Sie arbei­te­ten zusam­men in der Gieße­rei der Fa. Bäuerle bis zum letzten Abstich im Jahre 1974.

Oberkochen

Letzter Abstich in der Bäuerle-Gieße­rei 1974 (Archiv Holdenried)

In diesem Zusam­men­hang muss erwähnt werden, dass nach dem Krieg sogar Akade­mi­ker auf Anord­nung der Ameri­ka­ner in der Gieße­rei arbei­ten mussten bis sie entna­zi­fi­ziert wurden. Ob’s erzie­he­risch etwas gebracht hat konnte nicht recher­chiert werden – eher wohl nicht.

Das Weinberg­schne­cken­sam­meln

war in den 50er und 60er Jahren eine belieb­te Sammel­lei­den­schaft. Auch Antonio und Giorgio sammel­ten fleißig um daraus schmack­haf­te italie­ni­sche Gerich­te zu kochen. Bevor sie im Kochtopf landen konnten, mussten sie eine Nacht in einem Eimer gewäs­sert werden. Was die beiden nicht ahnen konnten – Schne­cken können unglaub­li­che Kräfte aufbrin­gen. Sie warfen den Deckel ab und suchten das Weite. Zur Freude von Mieter und Vermie­ter hinter­lie­ßen sie ihre Spuren an den tapezier­ten Wänden und sorgten somit für eine Renovie­rung dersel­ben. Es bewahr­te sie aber nicht davor auf dem Teller in einer wunder­vol­len Tomaten­sauce zu landen, um von Antonio, Giorgio und Franz genuss­voll verzehrt zu werden.

Oberkochen

Mit Schne­cken war Geld zu verdienen

Die Geschich­te vom gefan­ge­nen Walfisch

Oberkochen

Piombi­no – ein italie­ni­scher Traum (Archiv Holdenried)

geschah in Piombi­no, der Heimat Antoni­os. Mario, ein Bruder Antoni­os und ein richti­ger Natur­bur­sche, der jagte und fisch­te. Eines Tages sah Mario beim Fischen einen Wal blasen, der sich in die flache Lagune verirrt hatte. Er erschoss ihn einfach von seinem Boot aus, seine Firma zog ihn mit einer Winde an Land, entnahm alle wertvol­len Organe sowie „Walrat“ aus dem Kopf und „Ambra“ aus dem Darm (das sich gegen gutes Geld verkau­fen ließ) und verbud­del­te den Rest ein Jahr lang im Sand. Später fand das Skelett seinen Weg in ein Museum nach Siena. Die Geschich­te ist verbrieft. Franz hat damals die italie­ni­schen Zeitungs­be­rich­te gelesen. Tja, die Zeiten waren eben andere und man machte einfach……

Oberkochen

Lage Piombi­nos (Archiv Holdenried)

Die Freund­schaft

Oberkochen

Reise nach Pisa mit Ingrid Holden­ried, Umber­to NN, Anne NN, Antonio Scandur­ra (Archiv Holdenried)

zwischen Franz (79) und Antonio (87) dauert bis heute an und brach­te im Laufe der Jahre viele Erleb­nis­se in ihrer beider Leben. Holden­rieds waren schon 1960 das erste Mal in der Tosca­na und fuhren mit dem Zug, beglei­tet von Antonio, in 28 Stunden von Oberko­chen nach Piombi­no und dann wieder zurück – Heute fliegen wir in 24 Std. von Deutsch­land nach Neusee­land. Wenn wir die Bilder von Piombi­no anschau­en erken­nen wir darin das italie­ni­sche Bild der 50er und 60er. Dieser Urlaub war ein einschnei­den­des Erleb­nis im Leben von Ingrid und Franz Holden­ried, denn dort lernten sie ein anderes Lebens­ge­fühl kennen – la dolce vita. Antoni­os Bruder Umber­to machte seine Hochzeits­rei­se nach Oberko­chen. Bei seiner nächt­li­chen Ankunft in Oberko­chen suchte er eine Unter­kunft und verwech­sel­te das Schleicher’sche Kino „Camera“ mit einer „Alber­go“ und begehr­te im Wohnhaus von Albert Schlei­cher vergeb­lich Einlass.

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Sonntäg­li­cher Ausflug den Heide­weg hinun­ter mit Ursula Schlos­ser, Hedwig Marquardt, Lore Marquardt, Ingrid Holden­ried, Franz Holden­ried und Antonio Scandur­ra (Archiv Holdenried)

Die Holden­rieds

Oberkochen

Famili­en­wap­pen Holden­ried 1485 (Archiv Holdenried)

kommen ursprüng­lich aus dem oberschwä­bi­schen Weingar­ten bei Ravens­burg und entstam­men einem alten boden­stän­di­gem Bürger‑, Zünfte- und Gelehr­ten­ge­schlecht, das sich bis ins 15 Jhrhdt. zurück­ver­fol­gen lässt. Der Vater von Franz war auch schon Former-Meister und arbei­te­te zuerst bei der Gieße­rei Jedele und später bei der Gieße­rei Funk in Aalen. Das Kriegs­en­de erleb­te die Familie (aus Furcht vor ameri­ka­ni­scher Bombar­die­rung) im Erzstol­len unter­halb der Triumpf­stadt, denn der Einmarsch der Amis verlief in Aalen nicht ganz gefahrlos.

Auf Wikipe­dia lesen wir dazu: Von den Kampf­hand­lun­gen des Zweiten Weltkrie­ges blieb Aalen größten­teils verschont. Erst in den letzten Kriegs­wo­chen führten Luftan­grif­fe zur Zerstö­rung oder schwe­ren Beschä­di­gung von Teilen der Stadt, des Bahnhofs und der anderen Bahnan­la­gen. Eine über drei Wochen andau­ern­de Serie von Luftan­grif­fen hatte ihren Höhepunkt am 17. April 1945, als Bomber der US-Luftstreit­kräf­te das in Aalen statio­nier­te Heeres­ne­ben­zeug­amt und die Bahnan­la­gen bombar­dier­ten. 59 Perso­nen wurden getötet, davon über die Hälfte verschüt­tet, und über 500 obdach­los. 33 Wohnge­bäu­de, 12 andere Gebäu­de und 2 Brücken wurden zerstört und 163 Gebäu­de, darun­ter 2 Kirchen, beschä­digt. Fünf Tage später wurden die natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Macht­ha­ber Aalens von den ameri­ka­ni­schen Streit­kräf­ten abgesetzt.

In die Wohnung zurück konnten sie nicht mehr, da sich hier „der Ami“ bereits breit gemacht hatte und später angeb­lich Marok­ka­ner unter­ge­bracht werden sollten. Vater Holden­ried, der inzwi­schen bei Bäuerle in Oberko­chen arbei­te­te, ließ in der alten Wohnung kein Stück zurück. Sein neuer Arbeit­ge­ber organi­sier­te mit einem LKW den Umzug nach Oberko­chen in die Baracke im Brunkel und seitdem sind die Holden­rieds in Oberko­chen ansäs­sig. Franz Holdenrrrrrrr­ried ging dann in Oberko­chen unter den Lehrern Stelzer, Gögger­le, Klotz­bü­cher (der Lehrer mit dem rrrrrr­rol­len­den „R“) und Zweig, in die damals 8 Jahre dauern­de Schule im Dreißental.

Oberkochen

Lehrer Klotz­bü­cher (Archiv Holdenried)

Franz Holden­ried und seine Leidenschaft

Nach der Schule stell­te sich die Frage „Was nun Franz?“ Das war nicht schwer zu beant­wor­ten. Der Vater war Former und so wurde der Sohn auch Former. Und wenn ich mich heute so bei Holden­rieds umschaue – die Entschei­dung damals war goldrich­tig. Die Leiden­schaft für das Formen geht bei Franz bis in die Kindheit zurück. Schon als 10jähriger wurden mit Begeis­te­rung Zinnsol­da­ten gegos­sen. Danach waren „Uller“ gefragt.

Oberkochen

Muster eines Ullers (Archiv Holdenried)

Uller wurden als Talis­man von Skifah­rern an den Skiho­sen getra­gen. Das Ganze geht auf den nordi­schen Winter­gott Uller zurück. Nach der Schul­zeit began­nen die Lehrjah­re. Zuerst 1 ½ Jahre beim Funk in Aalen und vollendet wurde diese in Bad Winds­heim. 1956 kam Franz auf einen Besuch nach Oberko­chen zurück und erhielt von Herr Eberle der Firma Bäuerle ein Angebot für die Gieße­rei und so blieb Franz in seinem Oberko­chen. Er arbei­te­te 19 Jahre lang, bis zur Schlie­ßung 1974, bei Bäuerle und danach nochmals 28 Jahre bei SHW in Königs­bronn. Geformt wurde während der Arbeit und in der Freizeit. Wenn wir uns in den Landkrei­sen Aalen und Heiden­heim umschau­en sehen wir an vielen Stellen das Vermächt­nis von Franz Holden­ried. Sein Meister­werk war und ist bis heute der Königs­bron­ner Brunnen.

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Das Meister­werk – der Königs­bron­ner Brunnen mit dem Meister Holden­ried und dem Bürger­meis­ter Stütz (Archiv Holdenried)

Oberkochen

Artikel aus den Königs­bron­ner Gemein­de­nach­rich­ten (Archiv Holden­ried)
(bitte klicken!)

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Das Meister­werk auf dem Gabel­stap­ler (Archiv Holdenried)

So richtig Fahrt auf nahm das priva­te Formen mit Beginn der Narren­zunft in Oberko­chen, für die er als „Ordens­schmied“ die ganzen Orden in Form brach­te. Nach und nach wurden seine Guss-Kunst-Werke immer mehr, die nicht nur draußen ihr Zuhau­se fanden, sondern sich auch im Hafner­weg 25 in Haus und Garten drängen.

Berufs­bild Former

Former war von 1935 bis 1997 ein Ausbil­dungs­be­ruf in Deutsch­land. Former arbei­ten in Gieße­rei­en und stellen dort Gussfor­men her, die für das Gießen von Werkstü­cken aus Stahl, Eisen oder anderen Metal­len benötigt werden. Former sind in größe­ren Gieße­rei­en tätig, sie arbei­ten in Werk- oder Maschi­nen­hal­len und teilwei­se an Schmelz­öfen und Gießan­la­gen. Voraus­set­zung zum Beruf ist in der Regel eine abgeschlos­se­ne Berufs­aus­bil­dung als Former oder Gieße­rei­me­cha­ni­ker (Fachrich­tun­gen Handform­guss, Maschi­nen­form­guss, Verfah­rens­me­cha­ni­ker in der Hütten- und Halbzeug­in­dus­trie, Fachrich­tun­gen Nicht­ei­sen­me­tall-Umfor­mung oder Stahl-Umfor­mung). Seit 1. August 1997 ist der Ausbil­dungs­be­ruf Former/in aufge­ho­ben und in den neu geschaf­fe­nen Ausbil­dungs­be­ru­fen aufge­gan­gen: Gießereimechaniker/in mit den Fachrich­tun­gen Handform­guss, Maschi­nen­form­guss sowie Druck- und Kokil­len­guss Verfahrensmechaniker/in in der Hütten- und Halbzeug­in­dus­trie mit den Fachrich­tun­gen Eisen- und Stahl-Metall­ur­gie, Stahl-Umfor­mung, Nicht­ei­sen-Metall­ur­gie und Nicht­ei­sen­me­tall-Umfor­mung. Metall- und Glockengießer/in mit den Fachrich­tun­gen Zinnguss, Kunst- und Glocken­guss und Metallgusstechnik.

Förmli­che Grüße von Wilfried Billie Wichai Müller vom Sonnen­berg und Franz Holden­ried aus dem Hafnerweg.

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