Alamannische hochmittelalterliche Grubenhäuser
Um die vor wenigen Monaten abgebrochenen Alt-Oberkochener geschichtsträchtigen Gebäude „Hirsch“ (samt Brauerei) und „Nagel“ (Hirschwirt) wird in geschichtsbewussten Kreisen noch heute und lange „getrauert“. In besonderem Maße gilt das bei anderen geschichtlich Wissenden und Interessierten auch für die wenig später zerschrubbten teils ziemlich alten Kellergewölbe unter diesen Gebäuden, die dem Plan für eine „Neue Mitte“ weichen mussten. Ein umgerüsteter geschichtsträchtiger gastronomischer „Hirschkeller“ dort, wo früher das Brauerei-Eis gelagert worden war, hätte einen urgemütlichen „Hirsch-Gedächtnis-Verhock-Hock unter der Neuen Mitte“ abgeben können.

Der „Nagelkeller“ (17. Jahrhundert). Deutlich erkennbar sind wesentlich ältere und größere behauene, als „Spolien“ bezeichnete Steine, die aus Vorgängergebäuden wiederverwendet wurden.
Die beiden bis ins 17. Jahrhundert zurückweisenden Keller wurden im Auftrag des Landesamts für Denkmalpflege vom Büro für Bauforschung, Bauarchäologie, Dokumentation und Beratung Michael Weihs, 72657 Altenriet, im Oktober 2016 optimal vermessen und zeichnerisch sowie digital-fotografisch dokumentiert. Herr Weihs und ich haben uns schon 2001 anlässlich der Arbeiten des HVO in der „Bilz“ kennen gelernt, wo Herr Weihs im Wohnbereich des Bilzhauses den „Küchenofen“ des Bilzhannes bestimmte.
Die gesamten Arbeiten zwischen dem alten „Schwesternhaus“ und der „alten Evangelischen Kirche“ waren seitens des Landesamts und für Denkmalpflege, Esslingen, unter der verantwortlichen Leitung von Olaf Goldstein M.A. erfolgt.

Die Grabungsfläche „Hirsch“ – („Krok“) nördlich der alten Evangelischen Kirche (ehemalige Sakristei)
Bei den systematischen Planierungs-Arbeiten stieß man, wie erwartet – wie schon vor einem Vierteljahrhundert beim Bau eines Regenrückhaltebeckens – auf den alten ziemlich bald nach der Reformation, (Oberkochen 1553) angelegten Evangelischen Friedhof, der ungefähr von 1580 bis 1860 belegt wurde, gestoßen. Bei den archäologischen Arbeiten wurden ca. 100 teilweise ziemlich dicht aneinander angelegte geschichtlich aufschlussreiche Gräber der Frühzeit des Protestantismus in Oberkochen freigelegt. Die untersuchten Gräber reichen somit bis in den Beginn der dann weit über 200 Jahre währenden konfessionellen kommunalen Doppelverwaltung in Oberkochen zurück: Oberkochen stand bis 1803 zu zwei Dritteln als katholisch unter ellwangisch fürstpröpstlicher, zu einem Drittel als evangelisch unter württembergisch herzoglicher zum Kloster Königsbronn gehörender Verwaltung. Die konfessionelle Trennung über diese lange Zeit ist in weitem Umkreis einmalig und brachte mit sich, dass Oberkochen gleichzeitig von zwei (!), nämlich einem katholischen und einem evangelischen Bürgermeister verwaltet wurde, was immer wieder zu Auseinandersetzungen führte, die 1749 zumindest dem Papier nach, durch das in unserer heimatkundlichen Serie ausführlich besprochene „Aalener Protokoll“ geregelt wurden (Berichte 40, 41, und 359 bis 364).
Zu den Kellern vermerkte Herr Weihs, dass ein Teil des hintersten Kellers, der zum Brauereigebäude des „Hirsch“ gehörte, den baulichen Merkmalen nach zu einem Teil wohl als Eiskeller genutzt wurde. In diesem Zusammenhang war ihm meine Mitteilung von Interesse, derzufolge die Flur des Baugebiets jenseits des Kochers Richtung Bahnhof „Eisweiher“ heiße. Die früheren Eisweiher seien nur ca. 20 cm tief gewesen. Das gebrochene Eis habe man durch spezielle Luken in den Keller verfrachtet.

Brauereikeller Hirsch – erbaut zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Vor mehr als tausend Jahren.…
Seit Jahrzehnten habe ich als Ehrenamtlicher Mitarbeiter des früheren Landesdenkmalamts und späteren Landesamts für Denkmalpflege das Stadtbauamt immer wieder darauf hingewiesen, dass bei Erdbewegungen in unberührtem alten sozusagen „jungfräulichem“ Erdreich speziell im alten Ortskern im Bereich der beiden Kirchen damit gerechnet werden muss, dass man auf Spuren von alamannischen „Grubenhäusern“ stoßen könne. Dies gilt auch für bestehende nichtunterkellerte Gebäude oder Gebäudeteile.
In Oberkochen war man zwar 1980 auf einen weiteren beachtlichen Teil eines bekannten, nach der Grabung von Dr. Ingo Stork, dem damaligen Grabungsleiter vom LAD auf 1000 Gräber hochgerechneten merowingischen Gräberfeldes gestoßen (Haus Stelzenmüller in der Frühlingstraße) – von der mit Sicherheit dazugehörenden mittelalterlichen Siedlung war jedoch bis heute noch nicht die geringste Spur bekannt geworden – und dabei war mit 100-prozentiger Gewissheit davon auszugehen, dass zu einem so stattlichen Gräberfeld (lt. Dr. Stork von „überörtlicher Bedeutung“) auch eine entsprechend große Siedlung gehört hat, die letztlich nicht spurlos verschwunden, sondern vor allem unbemerkt (oder „ungemeldet“) überbaut worden ist. Der Hauptgrund hierfür liegt in der Tatsache, dass die Alamannen – im Gegensatz zu den Römern – nicht mit unvergänglichem Stein, sondern mit vergänglichem und deshalb schwer nachweisbarem Holz gebaut haben. Insofern hat der Abbruch der Gebäude „Hirsch“ und „Nagel“ – wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird – auf andere Weise zu einer bemerkenswerten Bereicherung des Oberkochener Geschichtsbilds geführt:
Mit Datum vom 2. Juni d.J. teilte mir nämlich Herr Goldstein M.A. zu meiner großen Freude per Email mit, dass neben den Bestattungen des ehem. ev. Friedhofs auch noch zwei bislang unbekannte Keller aus der Zeit vor 1830 zum Vorschein gekommen sind, – vor allem aber ein „Grubenhaus“ des 10./11. Jahrhunderts, und, dass aus diesem Grund nun nahezu die gesamte Restfläche zwischen der ehemaligen Bestandsbebauung und dem Friedhof im Rahmen einer Rettungsgrabung flächig untersucht wird. Hierzu stellte die Stadt umgehend einen beachtlichen 5‑stelligen Betrag bereit. (GR-Beschluss vom 17.7.2017: 65.000,– Euro).
Diese Grabung wurde, wie mit dem angeführten Schreiben vom 2.6. mitgeteilt, von dem bereits genannten Büro für Bauforschung und Bauarchäologie M. Weihs durchgeführt. Am Mittwoch dem 2. August waren die Arbeiten beendet und Herr Weihs informierte mich in der Grabungsstätte, ehe sie noch am gleichen Tag komplett „zugeschoben“ wurde, ausführlich wie folgt über die Ergebnisse:
Zunächst stellte Herr Weihs klar, dass der Begriff „Grubenhaus“ etwas unglücklich gewählt ist, denn über den „Grubenhäusern“ seien nicht, wie zu vermuten steht, irgendwelche Wohngebäude errichtet gewesen. Vielmehr müsse man sich die „Grubenhäuser“ als eine satteldachähnlich überdachte Vorform der erst später überbauten Keller vorstellen, wobei man sich die Keller nicht als quaderförmige Hohlräume vorstellen darf, sondern, wie das Wort aussagt, als konkav durchgeschwungene Vertiefungen, „Gruben“, über welchen, wohl unterstützt von First-Giebel-Pfosten, eine Satteldachkonstruktion errichtet wurde. Die Gruben setzen sich in den Ende Juli bis Anfang August 2017 gefertigten Schnitten dunkelbraun vom umgebenden hellen ockerfarbenen lettigen Mutterboden ab.


Schnitte von „Gruben“ der Grubenhäuser. Auf beiden Fotos unterscheidet sich der dunkle „Grubenboden“ deutlich wahrnehmbar von dem umgebenden hellen Mutterboden.
Die überdachten „Gruben“ haben wohl zur Unterbringung von Hauswerk oder zur Vorratshaltung gedient, oder wegen des feuchten Klimas zur Aufstellung eines Webstuhls. Besonders erfreulich: Im Rahmen der Arbeiten konnte auch noch ein „zweites Grubenhaus“ aus der gleichen Zeit, also weit über 1000 Jahre alt, nachgewiesen werden, das teilweise im Zuge der wesentlich später im 17. Jahrhundert errichteten Keller des Gebäudes „Nagel“ zerstört worden war.
Von den zu den „Grubenhäusern“ gehörenden Häusern, die man sich als einfache zwischen Pfosten gestellte Holzhäuser vorstellen muss, seien in dem untersuchten Bereich zahlreiche „Pfostengruben“ nachgewiesen worden, – quasi die im Erdreich „vergangenen“ senkrechten Holzpfosten der Wohngebäude.
Außer diesen über 1000 Jahre alten Spuren baulicher Befunde konnte in der untersuchen Fläche eine kleinere und eine größere Feuerstelle nachgewiesen werden; die größere müsse, so Herr Weihs, im Zusammenhang mit dort geherrscht habender großer Hitze gesehen werden, weshalb er sie im Bereich eines dort ausgeübten Handwerks sehe.

Feuerstelle – vermutlich im Zusammenhang mit einen Handwerk zu sehen
Bereits am Abend des 2. August waren sämtliche im Rahmen der Notgrabung angefertigten „Schnitte“ und „Schürfungen“ wieder zugeschüttet.
Die im Lauf der Grabung geborgenen keramischen und anderen Funde werden derzeit noch genauer untersucht. Herr Weihs stellte uns das folgende Foto zur Verfügung.

Über 1000 Jahre alte Funde aus dem Bereich der neuentdeckten Grubenhäuser
Zur Gesamtsituation der früh- bis hochmittelalterlichen Ausgrabungsergebnisse ist zu sagen, dass im gesamten Bereich zwischen „Bühl“, – das ist die höchste und somit überschwemmungssichere Stelle zwischen dem Katzenbach- und dem Gutenbachtal, wo auf einem uralten Platz für ein profanes oder sakrales Gebäude die um die Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert erbaute heutige Katholische Kirche St. Peter und Paul steht, – und der alten Ortsmitte südlich der alten Evangelischen Kirche (heute Stadtbibliothek), – also überall dort, wo sich beidseits der Aalener Straße noch „jungfräulicher“ Boden, vor allem nicht vollständig unterkellerte Gebäude befinden, damit zu rechnen ist, dass bei Bauarbeiten uralte Spuren mittelalterlicher Bebauung ans Tageslicht kommen, deren amtliche Untersuchung die Geschichte Oberkochens bereichern. Die Stadt und der ehrenamtliche Mitarbeiter des Landesamtes für Denkmalschutz werden bei allen künftigen Bauarbeiten hierauf ein besonderes Auge werfen.
Entscheidend ist, dass für die Geschichte Oberkochens eine weitere Lücke empfindlich geschichtsloser Zeit des „finsteren Mittelalters“ zwischen dem Alamannen-Friedhof (6. und 7. Jahrhundert) und dem von der Vorgängerkirche verbliebenen romanischen Sockelgeschoss der damaligen Kirche St. Peter (13. Jahrhundert) geschlossen wurde.
Auch Herr Weihs geht davon aus, dass vor der romanischen Vorvorgängerkirche der heutigen St. Peter- und Paulkirche bereits ein beachtlicher früh- bis hochmittelalterlicher Bau gestanden haben muss, wobei davon auszugehen sein dürfte, dass dies – entsprechend der Bestattungen im alamannischen Gräberfeld – bereits im 8., spätestens dem 9. Jahrhundert der Fall war. Darüber, ob dies ein Holz- oder ein Steinbau war, lässt sich nur spekulieren. Auch, ob durch den Bau der bekannten Kirchen Spuren eines allerersten (Sakral)baus auf dem „Bühl“ (ein alt-germanisches Wort für „Erhebung, Buckel“) zerstört wurden, bleibt im Bereich der Spekulation. – Das unglaublich massive romanische Sockelgeschoss der Katholischen Kirche aus dem 13. Jahrhundert mit seinen bis zu 2 Meter dicken Mauern kommt indes wohl kaum von ungefähr, – sodass in der Tat von einem zumindest teilweise aus Stein errichteten beachtlichen Vorgängerbau aus der Zeit zwischen dem 8. und dem 11. Jahrhundert mit relativ großer Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden darf. Unser Mitglied Alfred Fichtner hat sich auf die Spuren alter und uralter Steine in den Kocheruferverbauungen gemacht. Auch in der mächtigen Mauer entlang des Mühlbergeles, ferner der Mauer zum ebenfalls jüngst abgebrochenen „Rockidocki-Haus“ gegenüber dem Gesindehaus der Mühle in „Klein-Venedig“ und anderen Mauern im Kocheruferbereich stecken teils sehr alte und große behauene Steine. (siehe Bericht 613 vom 25.1.2013)

Phantastische Zeichnung: „Auf dem Bühl“ – Das „Vor-Oberkochen“ in der Zeit zwischen 800 und 1000 n. Chr.
Ich habe versucht, mir ein nach-karolingisches „Ortsbild“ zwischen ca. 800 und 1000 nach Christus, also der Zeit unserer neuesten Geschichtsspuren vor weit über 1000 Jahren, auszudenken und zu Papier zu bringen. Der Kocher schlängelt sich durchs Tal (von dem Wort „cocalinga“ = „sich schlängeln“ soll sich das Wort „Kocher“ ableiten). – Das „virtuelle“ Oberkochen, das damals vom Namen her noch lange nicht nachgewiesen ist, darf man sich nicht als ein in geschlossener Bauweise entstandenes Dorf vorstellen, vielmehr als in losem Zusammenhang stehende Einzelgehöfte mit den dazugehörenden Grubenhäusern und andren Nebengebäuden, und natürlich einem zunächst vielleicht profanen, später einem etwas markanten höchstwahrscheinlich sakralen Bau, – auch eine „Mischarchitektur“ zuerst wohl aus Holz, später aus Stein, mit Turm, an der höchsten Stelle über dem eher sumpfigen und überschwemmungsgefährdeten Kochertal, dem sogenannten „Bühl“. Auch hier befinden wir uns – wie die Rekonstruktionszeichner des großen zur Alamannenausstellung in Stuttgart vor 20 Jahren im Theiss-Verlag erschienenen umfassenden Alamannenwerks – im Bereich der Vorstellung.
Der „Bühl“ muss indes mit größter Wahrscheinlichkeit als Keimzelle des späteren Orts Oberkochen angesehen werden. Unzweifelhaft sind geschichtliche Spuren auf dem „Bühl“ bereits in vorchristlicher Zeit belegt durch den Fund einer hallstattzeitlichen Schale (8.–5. vorchristliches Jahrhundert), die bei oberflächlichen Bauarbeiten gegenüber der Katholischen Kirche freigelegt wurde. Auch unser ältestes Artefakt, ein bandkeramischer steinzeitlicher Hammer, wurde „auf dem Bühl“ gefunden. (Beides im Heimatmuseum).
Die Herren Goldstein M.A. und Weihs haben diesen Bericht freundlicherweise auf sachliche Richtigkeit durchgesehen. Dafür herzlichen Dank.
Dietrich Bantel
Ehrenamtlicher Mitarbeiter beim Landesamt für Denkmalpflege (LAD)