Oberkochen

v.l.n.r.: Josef Rhode, Elisa­beth und Richard Stumpf jun., davor Chris­toph und Stephan mit dem gelieb­ten Roller

Wir schrei­ben das Jahr 1953. Die Situa­ti­on in der DDR war äußerst gespannt. Der Staats­haus­halt hatte massi­ve Schräg­la­ge. Die meisten Inves­ti­tio­nen wurden, auf Kosten der Ernäh­rungs- und Konsum­gü­ter­in­dus­trie, in die Schwer­indus­trie gepumpt. Somit war die Ernäh­rung der Bevöl­ke­rung nicht mehr gewähr­leis­tet. Dazu kam die laufen­de „Abstim­mung mit den Füßen“, sprich die Flucht in die BRD. Zu jener Zeit gab es auch viele Straf­ge­fan­ge­ne. Auch die evange­li­sche Kirche wurde in dieser Zeit stark angegan­gen. Verschär­fend kam noch hinzu, dass die Arbeits­nor­men zum 30. Juni wegen des bevor­ste­hen­den 60. Geburts­ta­ges von Walter Ulbricht um 10 % erhöht wurden. Es rumor­te in der Arbei­ter­schaft. Die Sowjets lehnten einen weiche­ren Kurs ab und die Dinge nahmen ihren Lauf. Der 17. Juni begann mit Streiks in den Großbe­trie­ben, münde­te in Demons­tra­ti­ons­zü­gen in den großen Städten und führte letzt­end­lich zu einer gewalt­sa­men Nieder­schla­gung des Volks­auf­stan­des durch die „Brüder“ aus der Sowjet­uni­on. Inner­halb der kommen­den 7 Monate wurde über 1.500 Perso­nen der Prozess gemacht. Die ganze Bandbrei­te zwischen Freispruch, mehrjäh­ri­gen und lebens­lan­gen Gefäng­nis­stra­fen in der DDR oder in sowje­ti­schen Gulags sowie der Todes­stra­fe wurde ausgenutzt.

In der Folge­zeit nahm die Republik­flucht wieder zu und der Zustrom von Flücht­lin­gen aus der DDR nach Oberko­chen wurde wieder deutlich größer was sich in den „Meldun­gen über neu Zugezo­ge­ne“ in den Amtsblatt­aus­ga­ben in Oberko­chen ablesen lässt.

Und damit sind wir dann auch schon bei der Geschich­te der Familie Stumpf und wie sie nach Oberko­chen kamen, die uns nachste­hend mein Schul­freund Chris­toph Stumpf schildert:

Der Grund für unsere Republik­flucht lag darin begrün­det, dass mein Vater nach dem oben beschrie­be­nen Volks­auf­stand wegen einer regime­kri­ti­schen Äußerung, die er als Betriebs­rat öffent­lich abgege­ben hatte, verhaf­tet und ein Jahr lang einge­sperrt wurde. Nach seiner Entlas­sung ist er 1954 über Berlin in den Westen geflüch­tet (wie so viele andere auch) und letzt­end­lich bei seiner alten Lehrfir­ma Carl Zeiss, jetzt aber in Oberko­chen, gelan­det. Unter­kunft fand er im alten HJ-Heim, nun Bergheim genannt, oberhalb des Turmwegs mit der Hausnum­mer 24, das inzwi­schen als Männer­wohn­heim genutzt wurde.

Oberkochen

HJ-Heim, Männer­wohn­heim, Progym­na­si­um, Sonnen­berg­schu­le und Gebäu­de Sonnen­berg­str. 2 im Bau

Irgend­wie ist es ihm dann gelun­gen im neu erbau­ten Miets­haus in der Sonnen­berg­str. 2 (das etwas in die Jahre gekom­men ist, auch wenn es innen wohl anders ausse­hen mag) eine 2‑Zim­mer-Wohnung zu bekom­men. Damit war die Voraus­set­zung geschaf­fen, seine Frau und seine beiden kleinen Buben Chris­toph und Stephan nachzu­ho­len. Aber wie stellt man das an? Die Berlin-Route war inzwi­schen geschlos­sen und so musste eine andere Lösung gefun­den werden. Nach dem Motto „wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“, und der mensch­li­che Verstand kann sehr kreativ sein, wurde die Sache angegan­gen. Das gesam­te „Nachzugs-Projekt“ wurde in 5 Schrit­te eingeteilt.

Schritt 1

Mein Großva­ter mütter­li­cher­seits, Josef Rhode, war kriegs­blind. Er hatte im 1. Weltkrieg mit 18 Jahren durch einen Granat­split­ter beide Augen verlo­ren. Er stell­te nun einen Antrag auf Geneh­mi­gung einer Besuchs­rei­se zu einem ebenfalls kriegs­blin­den Kriegs­ka­me­ra­den mit Namen Georg Junghans, der seiner­zeit in Schorn­dorf wohnte. Selbst­ver­ständ­lich wurde dem alten blinden Mann eine Reise­er­laub­nis erteilt. Vielleicht sogar mit der stillen Hoffnung verknüpft dass er dort bleibt – und man hätte im Osten einen nicht produk­ti­ven Kostgän­ger weniger gehabt.

Schritt 2

Großva­ter bedank­te sich für die Geneh­mi­gung, beantrag­te aber gleich­zei­tig eine solche für seine ältes­te Tochter – meine Mutter Elisa­beth – denn ohne Beglei­tung war eine Ausrei­se schlicht­weg unmög­lich. Also mussten die DDR-Oberen auch diese Ausrei­se nolens volens genehmigen.

Schritt 3

Meine Mutter bedank­te sich ebenfalls, gab aber gleich­zei­tig an, dass sie ihren blinden Vater nur beglei­ten könne, wenn sie ihre damals 2 und 3 Jahre alten Kinder, also mich und Stefan, mitneh­men könne. Gut vorzu­stel­len, dass die nur zähne­knir­schend erlaubt wurde. Aber letzt­end­lich zählt allein das Ergeb­nis. Die Geneh­mi­gung galt nun für Großva­ter, Mutter und Kinder. Klingt irgend­wie nach dem russi­schen Märchen vom Rübenziehen….. ☺

Schritt 4

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Der Rathaus-Fehler­teu­fel schlug zu „Richard wurde mit seinem Sohn Stephan verwechselt“

Und so fuhr der Zug mit dem blinden Opa, der Mutter und ihren zwei Kindern sowie reich­lich Gepäck via Stutt­gart nach Schorn­dorf und dann gleich weiter nach Oberko­chen – in die neue Heimat am Sonnen­berg. Das Projekt der Famili­en­zu­sam­men­füh­rung war geglückt, weil der kreati­ve Flücht­lings­ver­stand besser arbei­te­te als der DDR-Verhin­de­rungs­ver­stand. Aber wie kommt der blinde Opa Rhode wieder zurück in die „Zone“ nach Heili­gen­stadt zu seiner Frau und Familie? Dazu bedarf es des

Schrit­tes 5

Paral­lel zu unserem „Trans­fer“ hatte mein Großva­ter väter­li­cher­seits, Richard Stumpf sen., auch Kriegs­ve­te­ran aus dem 1. Weltkrieg, ebenfalls eine Reise zu Verwand­ten in die Nähe Nürnbergs beantragt und geneh­migt bekom­men. Wie es der Zufall so will, trafen sich beide Opas bei ihren Kindern und Enkel­kin­dern auf dem Sonnen­berg und reisten von dort aus gemein­sam zurück ins „Paradies der Arbei­ter und Bauern“. Im Laufe der Zeit gab es noch ein paar Geschwis­ter und als der Sonnen­berg zu klein wurde zogen wir alle in ein eigenes Haus im Silcher­weg 13.

Wir lernen aus dieser Geschich­te, dass mit guten Ideen, einem starken Willen und günsti­gen Umstän­den vieles möglich war und auch heute noch ist.

Nachtrag zu Elisa­beth und Richard Stumpf jun.

Elisa­beth geb. Rhode wurde 1924 in Reinhol­ter­ode im Eichsfeld als erstes von 5 Kindern geboren. Den II. Weltkrieg erleb­te sie als Kranken­schwes­ter in einem Lazarett in Kassel. Es folgte die Ausbil­dung zur Damen­schnei­de­rin mit eigener Werkstatt mit Lehrlin­gen und Gesel­len. Daneben beklei­de­te sie das Amt der Obermeis­te­rin der Schnei­der­innung Heili­gen­stadt. Nach der Flucht nach Oberko­chen führte sie in Vollzeit das „Famili­en­un­ter­neh­men Stumpf“ bei der sie großen Eindruck als Köchin hinter­ließ und dafür sorgte, dass alle Famili­en­mit­glie­der in maßge­schnei­der­ter Oberbe­klei­dung das Haus verließen.

Als 4. Kind von Richard Stumpf (siehe unten) wurde Richard jun. 1927 in Nürnberg geboren. Den II. Weltkrieg überleb­te er bei der Marine. In Göttin­gen machte er bei Zeiss eine Lehre als Feinme­cha­ni­ker. Später Fachar­bei­ter und Betriebs­rat in der MEWA Metall­wa­ren­fa­brik in Heili­gen­stadt. Nach der Flucht Fachar­bei­ter und Meister­prü­fung bei Zeiss in Oberko­chen. Anfang der 60er Jahre wechsel­te er in Bereich RRM (Relais-Rechnen-Maschi­nen) und wurde damit Mitglied des Teams das seiner­zeit die EDV in Oberko­chen aufbau­te. Da die ersten Compu­ter bei Zeiss von Zuse kamen (z.B. Zuse 22) lernte er auch Konrad Zuse persön­lich kennen. In diesem neuen Tätig­keits­feld war er bis zu seiner Pensio­nie­rung tätig. Er war zeitle­bens ein sozial umtrie­bi­ger Mensch. Er war Initia­tor und Leiter der katho­li­schen Arbeit­neh­mer­be­we­gung, Gründungs- und Ehren­mit­glied der CDU Oberko­chen und aktiver Mitar­bei­ter in der katho­li­schen Kirchen­ge­mein­de Oberko­chen. Kurz – ein Mensch der Spuren hinter­las­sen hat.

Nachtrag zu Richard Stumpf sen.

Oberkochen

Schrift­stel­ler Richard Stumpf „Warum die Flotte zerbrach“

Geb. 20. Feb 1892 in Gräfen­berg / Bayern gest. 23. Juli 1958 in Heili­gen­stadt / Eichsfeld. Katho­lisch. Von Beruf Zinngie­ßer und Mitglied einer christ­li­chen Gewerk­schaft. 1912 bis 1918 Dienst bei der Kaiser­li­chen Marine. Während der Jahre des Großen Krieges schrieb er Tagebü­cher obwohl das strikt verbo­ten war. Dieses Kriegs­ta­ge­buch wurde von Histo­ri­kern analy­siert und war Teil einer Ausstel­lung im Frühjahr 2014 in Wilhelms­ha­ven unter dem Titel „….die Flotte schläft im Hafen ein – Kriegs­all­tag in Matro­sen­ta­ge­bü­chern 1914 bis 1918“. Dazu waren zur Eröff­nungs­fei­er alle Enkel von Richard Stumpf sen., also unsere Oberko­che­ner Stump­fes, einge­la­den und sie waren mächtig stolz auf ihren Opa: Chris­toph, geb. 1952, Stephan, geb. 1953, Maria, geb. 1957, Johan­nes, geb. 1959 und Angeli­ka, geb. 1963.

Mehr Details dazu unter folgen­dem Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Stumpf

Anmer­kung

Das ist eine gute Gelegen­heit die geschätz­ten LeserIn­nen zu bitten, Ihre eigene spannen­de Geschich­te „Wie ich nach Oberko­chen kam“ zu veröf­fent­li­chen. Für das Bildma­te­ri­al dieses Artikels geht mein Dank an Chris­toph und Marion Stumpf geb. Triemer, sowie an Hartmut und Inge Müller geb. Schrader.

Wie immer grüßt, der Schul­freund von Chris­toph, recht herzlich vom „alten“ Sonnen­berg. Mit einigen der Stumpf-Geschwis­ter habe ich heute noch Verbin­dung und wir sehen uns regel­mä­ßig beim Schulzeit-Treff 

Wilfried Billie Wichai Müller.

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