(ein Beitrag von Wolfgang Jäger, alias Jagger)
Anfang des Jahres hat sich bei mir der Wolfgang Jäger gemeldet und mir einen Artikel geschickt und gefragt ob das etwas zum Veröffentlichen wäre. Wir sind immer erfreut wenn jemand etwas zu erzählen hat, besonders wenn er auch noch eine solche emotionale Bindung zu Oberkochen hat wie der „Jagger“ – der Sohn vom Jäger Jäger. Nun kurz zur Familie um den junggebliebenen Mann vorzustellen:
Jakob (geb. 1928) Jäger stammt aus dem ellwängischen Hohenberg und kam mit seiner Frau Elfriede (geb. 1929) Jäger nach Oberkochen um hier seine erste Stelle als Revierförster anzutreten. Die Familie wohnte anfangs in der Goethestr. 8, im Zeppelinweg, in der Katzenbachstr. 72 (beim Gipser Balle) und im 1966 neu bezogenen Forsthaus im Heideweg 13. Im Jahr 1979 verließ die Familie Oberkochen weil der Vater in Rindelbach eine Försterstelle übernahm. Jakob Jäger hat sich auch beim Wiederaufbau des abgebrannten Naturfreundehauses verdient gemacht. Wolfgang, Kind des Jahrgangs 1960, durchlief den Kindergarten Bergheim, Grundschule Tierstein und ab 1970 Gymnasium mit dem Abschluss der Fachhochschule 1978. Im Jahr 1984 kam Wolfgang wieder zurück auf die Ostalb zur Kripo nach Aalen wo er bis 1992 seinen Dienst als „Kriminaler“ leistete. Danach weitere Ausbildung bei der Polizei und von 1997 bis 2004 Kripochef in Lörrach. Seither ist er als Kriminaloberrat für Führungskräfteentwicklung der Polizei in Baden-Württemberg zuständig. Führt ihn der Weg hin und wieder auf die Ostalb schaut er selbstredend in Oberkochen vorbei und ließ sich auch mal vom Förster Vogel „sein“ altes Wohnhaus aus alter Zeit zeigen. Doch nun zum eigentlichen Thema dem sich Wolfgang in jungen Jahren gewidmet hat – die Disco in Oberkochen aufleben zu lassen:
Wie die Disco nach Oberkochen kam
Ausgestattet mit zwei Tonbandgeräten der Marken Grundig und Telefunken, selbstgebauten Boxen, einem überdimensionierten Verstärker, einem Mischpult von Monacor, einem Mikro, ein paar 100-Watt-Strahlern und einer 3‑Kanal-Lichtorgel zogen wir 1974 in die Aula des Gymnasiums Oberkochen. Die Schulfete war die Geburtsstunde von Music-Live-Express (MLE).
Nach kurzer Zeit hauchte die Endstufe des Tieftöners ihr Leben aus, das Mikro pfiff mit seinen ständigen Rückkoppelungen den Takt zur Musik. Uns ließ das unbeeindruckt. Für Gregor (Roland Seitz), Günter (Stiele), Leo (Richard Leopold), Thomas (Vogel), Michael (Zellner), Holger (Leipold) und mich war klar – wir bereichern die Kulturszene Oberkochen mit unserem Music-Live-Express. Die Discoveranstaltungen des „Crash“ im Untergeschoss im Rupert-Mayer-Haus waren uns egal. Wir wollten die Disco-Macher in Oberkochen werden.
Die Einschätzung meines damaligen Musiklehrers, Otto Fischer, in punkto musikalischem Feingespür lautete: „Wolfgang, du bist vollkommen unmusikalisch. Überlege dir doch, ob du nicht aus dem Schulchor austreten willst.“
Unmusikalisch – von wegen. Ich fühlte mich als Vierzehnjähriger berufen, mich der Musik meiner Zeit voll und ganz zu widmen. Und außerdem: Ich musste ja nicht selbst singen oder Noten lesen, sondern nur die Scheiben auflegen und die Lautstärke auf volle Pulle drehen. Ich tat ihm den Gefallen und trat aus dem Schulchor aus. Ein Gedankenaustausch über „T‑Rex“, „Slade“ und „Sweet“ habe ich ihm erspart. Da muss der Wilfried aus eigener Erfahrung hinzufügen, dass Otto Fischer diese Art von Musik als Lärm und einen Anschlag auf sein auch in hohem Alter noch einwandfreies Gehör wertete und ein Schultreffen unverzüglich verließ als Friedemann Blum und Karl Starz ihre Gitarren auf Betriebsmodus schalteten. Auch ich hatte den Schulchor mangels Musikalität zu verlassen. Otto Fischer hat jeden, aber auch wirklich jeden schrägen Ton sofort gehört und konnte ihn personell eindeutig zuordnen.
Die MLE-Crew ging nun voll motiviert an die weiteren Planungen. Leider auch auf Kosten meiner schulischen Leistungen. Außer in Physik bei Herrn Schwab. Der Elektrotechnik sei Dank. Mein Vater drohte mir, dass er diesen Discozauber beenden werde, sollte ich sitzen bleiben. Rückblickend glaube ich, meine Lehrer am Gymi spürten, dass ich andere wichtige Missionen zu erfüllen hatte und waren die nächsten Jahre sehr nachsichtig mit mir – auch wenn es bei den Versetzungen gelegentlich verdammt knapp wurde.
Um den MLE auf Fahrt zu halten, mussten wir technisch aufrüsten. Sonntagmittags trafen wir uns immer zum Löten (u.a. auch das gute Königsbronner Klosterbräu), basteln, verdrahten und experimentieren bei Gregor im „Brunkel“ gegenüber vom VW-Wagenblast.
Der Sonntagnachmittag war einfach Pflicht und letztlich auch Kult. In Gregors Kellergewölbe war die Denk- und Bastelfabrik der nächsten vier Jahre. Von Vorteil war, dass Gregor und Thomas aus der Elektrobranche kamen und wir auf Fachwissen, dringend benötigtes Elektromaterial und passendes Werkzeug zurückgreifen konnten. Nach und nach entstanden Lichtkästen mit Zuleitungskabeln so dick wie Wasserrohre und Profiboxen mit Tieftönern deren Durchmesser es mit dem Zifferblatt der Sonnenuhr beim Rathaus aufnehmen konnte. Für den Verstärker mit Endstufen, hätten wir eigentlich eine Wasserkühlung benötigt. Mit der Wärmeentwicklung der Lichtkästen und des Verstärkers während einer Discoveranstaltung könnte man heute locker das Einfamilienhaus einer bauökologisch orientierten vierköpfigen Familie ein halbes Jahr mit Energie versorgen. Auf der Heide vermutlich nur ein viertel Jahr – da ist es ja bekanntlich kälter.

Wir investierten weiter. Zwei Plattenspieler und Schallplatten mussten her. Unter einem DUAL 1214 mit Magnettonabnehmersystem lief gar nichts. Schallplatten waren mit fünf Mark pro Single sündhaft teuer. Half aber nichts. Wir mussten topaktuell sein. Ohne „Daddy Cool“ von Boney M., „Dancing Queen“ von Abba, „Glass of Champagne“ von Sailor brauchten wir gar nicht antreten. Vergiss „Can the Can“ nicht‘, rief mir Suzi Quatro im Lederlook vom Bravo-Starschnitt in meinem Zimmer zu. Sonst ist alles „Poison“ meinte Alice Cooper, der daneben hing. Unsere Veranstaltungen liefen natürlich nicht im Kellergeschoss des Rupert-Mayer-Haus, sondern oben im Saal – wir brauchten schließlich „Bühne“. Die Wochen und Tage vor den MLE-Discos waren aufregend. Plakate malen, Technik-Check, halten die Boxen und der Verstärker und bleibt die Stromzufuhr gewährleistet. Wenn es ständig die Sicherungen raushaut, hätten wir unser „Waterloo“.
Die Nervosität stieg am Veranstaltungstag. Kommen genügend Leute, kommen wir „cool“ rüber, treffen wir die richtige Musikauswahl und quatschen wir keinen „Sch….“ ins Mikrofon. Setzen wir die verdammte Plattenspielernadel bei LP’s so punktgenau auf, dass der Abspann des vorherigen Liedes nicht noch läuft. Der absolute GAU. Alles musste perfekt sein. Wir wollten imponieren – vor allem den Mädels. Der Hausmeister des Rupert-Mayer-Haus, Herr Froschauer, sorgte sich zu recht um Sauberkeit, Saalordnung und Sperrstunde. Was konnte alles passieren, wenn der MCU (Motorradclub Unterkochen) vorbei schaute und alles demolierte. In der Regel ging aber alles gut. Die Gäste kamen, die Technik hielt, die Stimmung war bombig. Leo (unser Mann fürs Grobe) hielt sich am Eingang an der Kasse auf und erstickte (fast) jeden Streit im Keim. Günter, Michael und Holger sorgten abwechselnd für die Lichteffekte. Vier große Lichtkästen, musikgesteuert oder als Lauflicht, Drehspiegelleuchten und natürlich zwei bis drei Stroboskope, sogenannte „Blitzer“. Die kamen besonders gut zu „Nutbush City Limits“ von Ike und Tina Turner. Alles gut mit der Musik abgestimmt war handwerkliche Höchstleistung. Multitasking, ehe es überhaupt erfunden war.

Gregor und ich waren am Mischpult, legten Platten auf und versuchten den Nerv der Gäste zu treffen, damit sich die Tanzfläche füllte. Was für ein erhebendes Gefühl, wenn man als „Mann am Plattenteller“ von den Schönsten der Schönen gebeten wird einen Plattenwusch zu erfüllen. Gerne taten wir das. Als wir die Schönen allerdings beim TTTT (Tea-Time-Talk-Treff) trafen und fragten, ob wir uns mal treffen könnten, wir sind nämlich die von MLE, wurden unsere (platten) Wünsche eher nicht erfüllt. Das war hart!
Gelegentlich kam dann doch was kommen musste – nämlich der MCU. Dieser Programmpunkt stand dann meist um zwei Uhr morgens an – die Saalschlägerei. Wenn dann die Größen der Oberkochener Gastronomieszene – Namen tun nichts zur Sache – mit geschätzten 3,2 Promille Alkohol im Blut auch noch mitmischten, war alles zu spät. Da galt es unsere Technik zu schützen. Die Streithähne über Mikro zu beruhigen war vergebens. Der arme Herr Froschauer brach fast in Tränen aus, wer putzt das Blut auf und räumt die Scherben weg? Der Vorteil war damals, dass nur Fäuste zum Einsatz kamen und keine Messer, Eisenstangen und sonstige Waffen, wie heutzutage. Die Verletzungen hielten sich somit in Grenzen und die Nerven beruhigten sich auch schnell wieder. Gregor und ich legten umgehend „leichte Kost“ auf und spätestens bei „Angie“ von den Rolling Stones lagen sich alle wieder in den Armen. Apropos Angie: schon 1975 prägten wir den Satz: „Wir schaffen das“. Nach dem Aufräumen und dem Abbau der Technik im Rupert-Mayer-Haus ging es dann am Sonntagnachmittag ins Kaffee Seeblick am Itzelberger See oder in die Ziegelhütte. Rückblick und Kassensturz standen an. In der Regel blieb nicht viel übrig, denn es wurde sofort investiert. Neue Endstufe, bessere Bassboxen, 100-Watt-Strahler in den Farben grün, blau rot und gelb (mehr Farben waren zu der Zeit noch nicht im Handel) ersetzen und die neuesten Platten kaufen.

Durch unsere Berühmtheit kamen wir in den nächsten vier Jahren auch zu Auftritten in Unterkochen und Königsbronn. Gastspiele fanden auch im Hirsch in Oberkochen statt. Meist gastierte der ML-Express jedoch im Rupert-Mayer-Haus. Auch in der Freizeit waren wir unzertrennlich. Am Sonntag in Leo’s gelben Manta auf der B 19 mit 150 Sachen nach Itzelberg „heizen“ – für mich als Mofafahrer war das schon erhebend. Meine Puch Maxi schaffte ja nicht mal den Heideweg ohne mitzutreten. 1978 kam dann der Zeitpunkt sich von Gasthaus- und Saaldiscos zu verabschieden. Unsere Pionierarbeit war beendet. Discotheken schossen jetzt wie Pilze aus dem Boden. Der „Safe“ in Aalen, das „Dolce Vita“ in Ebnat, um nur einige zu nennen. Die „Tenne“ in Wasseralfingen und den „Bottich“ gab es ja schon länger.
Heutzutage ist DJ sein keine hohe Kunst mehr. Es kann nichts mehr schief gehen. Die Technik ist idiotensicher. Die Musik kommt aus dem PC, die Reihenfolge der Titel programmiert und das passende Lichtprogramm ebenfalls PC-gesteuert. Und kultige Schlägereien gibt es auch nicht mehr. Dafür sorgen angsteinflößende Securities in Uniform mit Pfefferspray und Elektroschocker. Abenteurer ade!

Wir sind stolz Oberkochen in den 70ern kulturell etwas bereichert zu haben. Um dies nicht zu vergessen macht der ML-Express, dank des unermüdlichen Gregors, ein- bis zweimal jährlich Station in Oberkochen. 2015 feierten wir im Naturfreundehaus unser 40jähriges MLE-Jubiläum. Übrigens ohne Schlägerei. Kein Wunder. Das geschätzte Durchschnittsalter unserer Gäste lag jenseits der 50. Ach, es war fast wie damals. Nur auf den Plakaten steht mittlerweile Oldie-Disco.

Es grüßt euch Wolfgang Jäger, vom Forsthaus im Heideweg, besser bekannt als Jagger. 1979 verließ ich Oberkochen, im Herzen bin ich immer noch dort. Gelegentlich komme ich vorbei, um auf alten Pfaden zu wandeln. Meinen Weggefährten von MLE werde ich für die tolle Zeit immer dankbar sein.
Das goldene Jubiläum des MLE ist im Kalender eingetragen. Und bis dahin vergesst nicht „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe (zu MLE) nicht“.
Euer Wolfgang Jäger
Das war wieder ein Beitrag direkt aus der Leserschaft. Gut gemacht, und vielleicht gibt es ja für den einen oder die andere Auftrieb es einmal selbst zu versuchen.
Wie immer grüßt vom Sonnenberg – Wilfried Billie Wichai Müller