Wie ich bei einem kleinen Spazier­gang durch mein Wohnquar­tier feststell­te, hat auf dem Sonnen­berg die Sanie­rung begon­nen. Konkret, es wurden ein paar neue Parkplät­ze und Platz für die Baufir­ma geschaf­fen. Aus diesem Grunde musste die letzte Oberko­che­ner Litfaß­säu­le besei­tigt werden. Oberko­chen hat somit keine Litfaß­säu­le mehr. In meiner Erinne­rung gab es früher in Oberko­chen nachfol­gend aufge­führ­te Standorte:

  • Ecke Turmweg / Sperberstraße
  • Vor dem alten Postamt
  • Heiden­hei­mer Straße vor dem Platz mit dem Brunnen
  • Spiel­platz Sonnen­berg / Ecke Panoramastraße
  • Ecke Katzen­bach­stra­ße / Langertstraße
  • Und mögli­cher­wei­se auch Ecke Sperber­stra­ße / Lerchenstraße
Oberkochen

Letzte Litfaß­säu­le Ecke Lerchen-Sonnenberg-Panorama-Str.

Gab es noch andere Stand­or­te? Wer weiß darüber noch etwas zu berichten?

Die Jungen werden fragen: „Was ist das denn? Litfaß? Haben wir ja noch nie gehört“.

Deshalb will ich kurz die Geschich­te dieser Säule erzäh­len:
Es handelt sich dabei um eine Anschlag­säu­le, an die Plaka­te geklebt werden. Sie wurde vom Berli­ner Drucker Ernst Litfaß (man nennt ihn auch den „Säulen-Heili­gen“) erfun­den und zählt zum Bereich der Außen­wer­bung. Es wird weiter­hin zwischen einer Allge­mein­stel­le (Litfaß­säu­le mit mehre­ren Werbe­trei­ben­den gleich­zei­tig) und einer Ganzsäu­le (oder Ganzstel­le; Litfaß­säu­le mit einem Werbe­trei­ben­den) unterschieden.

Idee und Entwicklung

Die Idee, Plakat­säu­len aufzu­stel­len, entstand, um der damals um sich greifen­den Wildpla­ka­tie­rung entge­gen­zu­wir­ken. Die gab es sicher auch in Oberko­chen. An vielen Scheu­nen­to­ren wurde wild plaka­tiert und das gefiel nicht jedem. Litfaß schlug den Behör­den vor, überall in der Stadt Berlin Säulen aufzu­stel­len, an denen die Menschen ihre Plaka­te anhän­gen konnten. Nach jahre­lan­gen Verhand­lun­gen erteil­te der Berli­ner Polizei­prä­si­dent Karl Ludwig von Hinkel­dey Litfaß am 5. Dezem­ber 1854 die erste Geneh­mi­gung für seine „Annon­cier-Säulen“. Litfaß bekam dann von der Stadt Berlin ein bis 1865 gülti­ges Monopol für die Aufstel­lung seiner Säulen. Die „Feinde der Säule“ waren die wild plaka­tier­ten Zettel. In der Nacht auf den 1. Juli 1855 zogen 400 Männer mit einem seltsa­men Auftrag durch Berlin: Bis zum Morgen­grau­en sollten sie alle wild an Hauswän­de, Torbö­gen und Bäume gehef­te­ten Aushän­ge entfer­nen. Durch diese kleine Kultur­re­vo­lu­ti­on stieg der umtrie­bi­ge Buchdru­cker Ernst Litfaß zum deutschen Rekla­me­kö­nig auf.

Oberkochen

Berli­ner Anschlagsäule

Weite­re Verwen­dung der Säulen

Während der Kriegs­jah­re 1870/71 wurden hier die ersten Kriegs­de­pe­schen veröf­fent­licht. Litfaß­säu­len hatten auch die zusätz­li­che Funkti­on als Telefon­ver­mitt­lung oder Trans­for­ma­to­ren­sta­ti­on durch Nutzung des Innen­rau­mes des Hohlzy­lin­ders. Der vor über 150 Jahren geschaf­fe­ne Werbe­trä­ger erfreut sich auch heute noch großer Beliebt­heit. Ende 2005 gab es nach Angaben des Fachver­ban­des Außen­wer­bung etwa 51.000 Litfaß­säu­len in Deutsch­land. In Wien existie­ren zahlrei­che Litfaß­säu­len im Bereich des gedeckt verlau­fen­den Wienflus­ses, um die dort als Notaus­stieg aus der Tiefe führen­den steiner­nen Wendel­trep­pen zu überda­chen und sie vor unbefug­tem Betre­ten zu schüt­zen. Die Litfaß­säu­len sind mit einer Tür verse­hen, welche sich von außen nur mit einem Schlüs­sel, von innen jedoch auch ohne öffnen lässt. Heute werden zuneh­mend Versio­nen verwen­det, bei denen sich der eigent­li­che Werbe­trä­ger unter einer Plexi­glas­schei­be um die eigene Achse dreht und beleuch­tet ist. Diese werden vor allem an Ampel­kreu­zun­gen verwen­det, um so noch mehr Aufmerk­sam­keit zu ernten. Die berühm­tes­te Litfaß­säu­le die wir alle kennen war aber niemals existent, denn diese stammt vom Buchde­ckel des Bestsel­lers von Erich Kästner „Emil und die Detektive“.

Oberkochen

Sonder­brief­mar­ke zum 100. Geburts­tag Erich Kästners 1974

Schreib­wei­se

Auch nach den neuen Recht­schreib­re­geln wird das Wort Litfaß­säu­le mit ß geschrie­ben, obwohl diesem ein kurzer Vokal voraus­geht, weil es sich beim ersten Wortbe­stand­teil (Litfaß) um einen Eigen­na­men handelt und die Schrei­bung von Namen nicht den Recht­schreib­re­geln unterliegt.

Plaka­tie­rer

Eng verbun­den mit der Säule ist der Plaka­tie­rer. Der fuhr früher mit dem Auto vor. Seine Arbeits­uten­si­li­en waren eine Leiter, ein Besen, Klebstoff und die Plaka­te oder Teilab­schnit­te von Plaka­ten. Er falte­te diese auf, strich den Klebstoff auf die Säule, klebte das Plakat auf und strich mit dem Besen darüber. Und das ganze lief einer unglaub­li­chen Geschwin­dig­keit ab. Eines der letzten Plaka­te an das ich mich bei uns erinne­re war die Schwei­zer Urlaubs­kam­pa­gne „Arosa 4 you“.

Jubilä­en

Anläss­lich der 125. und 150. jähri­gen Jubilä­en der Litfaß­säu­le 1979 und 2005 wurden Sonder­brief­mar­ken mit dem Motiv der Litfaß­säu­le aufgelegt.

Oberkochen

Sonder­brief­mar­ke 125 Jahre Litfaß­säu­le 1979

Oberkochen

Sonder­brief­mar­ke 150 Jahre Litfaß­säu­le 2005

Anmer­kung

Wenn ich heute so die unschö­nen Plaka­tie­run­gen zu Wahlkämp­fen und Konzer­ten anschaue würde mir eine geord­ne­te Plaka­tie­rung auf einer Säule deutlich besser gefal­len. Heute erhält die Säule ausge­rech­net zu Zeiten des Smart­phones eine Wieder­be­le­bung, denn die sog. „Out of home Werbung“ nimmt aufgrund der Mobili­tät der Jünge­ren deutlich zu.

Herzli­che Grüße vom Sanie­rungs­ge­biet Weingar­ten-Panora­ma-Sonnen­berg-Straße
Ihr Wilfried Billie Wichai Müller.

Nachtrag zum Bericht 663

Es gibt sie nicht mehr – Die letzte Litfaß­säu­le
Hier hat die inter­es­sier­te Leser­schaft noch einige Stand­or­te herausgefunden.

  1. In der Aalener Straße auf einem Rasen­strei­fen zwischen Straße und den Parkplät­zen beim Fenster-Brandt
  2. In der Goethe­stra­ße gegen­über Einfahrt Silcherweg
  3. In der Garten­stra­ße auf dem Rasen­stück vor dem damali­gen Kindergarten
  4. In der Brunnen­hal­de­stra­ße (zwischen Haus Nr. 17 und 19 am vorde­ren Spielplatz)
  5. Vor dem Segel­flie­ger­häus­le in der Katzenbachstraße

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