Im September des Jahres 1961 erhielt Oberkochen den Gipfel seines „Bergs“ zurück. Die meisten Oberkochener wissen heute nicht mehr, dass unser Hausberg im 3. Reich von der Wehrmacht und nach dem Krieg noch 6 Jahre lang, von 1945 bis 1961, von den Amerikanern „besetzt“ war. – Die frühen Sechziger waren auch für Oberkochen die Jahre, in denen die Erinnerungen an den Krieg durch aktuelles Geschehen der Gegenwart allmählich in den Hintergrund zu treten begannen.

In diesem Sinne will auch die Titelseite von „Bürger und Gemeinde“ vom 8. September 1961 verstanden sein. Noch ein Jahr zuvor hatten mein Bruder und ich die alte Holzhütte und den Volkmarsberg-Turm mit ihrem verwilderten Nahbereich anlässlich einer 14-tägigen Wanderung, die von Spaichingen bis Aalen längs und quer über die Schwäbische Alb führte, von einem hohen Maschenzaun umgeben vorgefunden. Abgesperrt. Dieser Zaun und das Zutrittsverbot („off limits“) erinnerten uns entfernt an den Krieg und hatten in uns auf unserer Herbstwanderung kurzzeitig ein seltsam beklemmendes Gefühl erzeugt und böse Erinnerungen wachgerufen. – Der Amtsblatt-Titelseiten-Text, der aus der Feder von Hermann Illg stammt, dem damaligen Obmann des Schwäbischen Albvereins Oberkochen, zeugt schwarz auf weiß vom Ende der amerikanischen Besetzung. –
Ich wusste damals noch nicht, dass Oberkochen schon 1962 meine neue Heimat werden würde.
1961 verschwand jenes letzte unpässliche immer noch für jeden sichtbare „Kriegs-Zustands-Souvenir“, das einst ausgerechnet auf dem Gipfel unseres Hausbergs eingerichtet worden war. Was unsichtbar verblieb, das sind die Wunden in den Herzen der vielen Oberkochener, die Ehegatten, Söhne, Verwandte oder Freunde verloren hatten im Krieg. Leben und Welt drehten sich weiter.
Bürgermeister Bosch, die Stadtverwaltung, der Gemeinderat und weitere Verantwortungsträger beschäftigten sich schon damals ganz insgeheim mit dem Gedanken der Entwicklung des Dorfs Richtung Stadt. Ganz offiziell wurden die ersten Besichtigungsfahrten unternommen, mit dem Ziel, Informationen zusammenzutragen, wie andere nach dem Krieg schnell gewachsene und weiterwachsende Gemeinden mit den Problemen des Wachstums umgingen: Immerhin war Oberkochen lange Zeit die am schnellsten wachsende Kommune der gesamten Bundesrepublik. – Schon damals gab es auch die Lästerer, die der Verwaltung und dem Gemeinderat vorhielten, sie seien auf Besichtigungsfahrten auf Kosten des Steuerzahlers zu ihrem puren Vergnügen unterwegs.
Nun erhielt ich Ende letzten Monats einen spannenden Brief eines nach Aalen ausgewanderten Alt-Oberkocheners namens Bruno Brandstetter (Hausname Jer(e)mis) und dessen Ehefrau Maria, geb. Sing. Seinem Schreiben lag ein Gedicht bei, das seine Gattin, die einige Jahre – eine längere Zeitlang auch zusammen mit Bürgermeister Boschs Chefsekretärin Fräulein Martha Gold – auf dem Oberkochener Rathaus im Vorzimmer des Bürgermeisters, ebenfalls als Chefsekretärin, tätig gewesen war. Welche der beiden Damen das Gedicht für Bürgermeister Bosch getippt hat, lassen wir offen.… Sein Kommando – auch im Falle „Pegasus“ – lautete stets: „Schreibat Se…“.
Fest steht, dass das Frau Bosch das Gedicht Frau Brandstetter irgendwann nach dem Tod ihres Gatten in die Hand gedrückt hat, als Erinnerung an ihre Zeit auf dem Rathaus. Wann das Gedicht nun genau entstanden ist, das ließe sich sicher per Studium der alten BuG-Jahrgangsbände exakt herausfinden. Ich könnte mir sogar durchaus vorstellen, dass der eine oder andere Teilnehmer dieser Fahrt noch unter uns lebt, und auf Anhieb sagt: „Des woiß i no wie heit: Des war exakt am Soundsovielten des Monats Soundso im Jahre Sonundsoviel“. So genau kommt’s uns aber ja gar nicht drauf an. Wir wollen diese Frage vorerst bewusst offen lassen.
Hilfreich bei einer Bestimmung sind allerdings die insgesamt fast 20 Namen von Gemeinderäten, Mitarbeitern der Verwaltung, des öffentlichen Lebens, und der Bürgermeister selbst, der von sich als „Chef“ spricht – und in seinem Gedicht, das am Abend einer 2‑tägigen Informationsfahrt als Einstimmung zu einem gemütlichen anregenden Abend (gemütlich kommt von „Gemüt“) vorgetragen wurde – und das mit wenigen trefflichen Worten ganze Welten entstehen lässt – meisterhaft. – Man hört förmlich den Herrn Marschalek „ …ich hätte da noch eine Frage…“ – Man sieht den rasenden SP-Reporter Robert Wolff auf seinem aspach-uralt Moped um die Ecken schnarren. – Man hört am Telefon – im Gegensatz zu der zackig-scharfkurzen Namensmeldung des Herrn Bahmann, das gemütliche „Feil“ des späteren Oberamtmanns Feil – hier noch unbeweibt. – Im Progymnasium, bereits im Bergheim untergebracht, das damals trotz alledem noch allgemein „s’Ha-Jot-Heim“ genannt wurde, sieht man Herrn Schrenk die schulischen Probleme ventilieren… – Auch sieht man (oder hört man) den Bürgermeister zusammen mit dem Gubi-Fischer, von der Grube oder vom Weidl kommend, auf dem frühmorgendlichen Nachhauseweg beim Storchenbäck die ersten Brezeln holen. Manchmal, so heißt es, haben sie in der „Schwäbischen Post“ am nächsten Morgen, noch nächtens, schon gelesen, was der Presse-Wolff noch spät am Abend zuvor, in die Redaktion nach Aalen gegeben hatte. -– Sapper ist bekannt durch des Geißingers im Halbschlaf geäußerte, vor der Abstimmung durch Aufwecken erzeugte Bemerkung „Stimme wie Sapper“. – Den Julius Metzger hab ich, weil er mich gerne mit „Herr Oberstudienrat“ neckte, mit „Herr Obermetzger“ selbst einmal drangekriegt. Er und der Chef zitierten griechische Verse, wenn es gegen später wurde. – Und „dr Haubr“ verließ einmal wütend die Sitzung, nachdem Arthur Fischer erfolgreich den Antrag auf Schluss der Debatte gestellt hatte, und der Bürgermeister ihm, dem Hauber, auf Nachfrage erklärt hatte, dass er nun tatsächlich keine Frage mehr stellen darf, mit den Worten: „Nao ka i ja etz ganga“. – (Siehe auf unserer Homepage www.heimatverein-oberkochen.de Startseite Punkt 11, – Oberkochener Witze und Anekdoten). – Eine ganze Reihe von den im Folgenden erwähnten Stadträten gab es noch, als ich 1968 in den Gemeinderat kam. Fast alle der genannten Personen kenne oder kannte ich, – auch den Totengräber mit seinem paradoxen Namen Fröhlich.
Überzeugen sie sich selbst davon: Wir leben inzwischen, nur ein gutes halbes Jahrhundert später, in einer total veränderten Welt.
Hier nun das köstliche Gedicht des „Chefs“ des alten Rathauses, das kurze Zeit später – sicher auch mit der Stimme des Bürgermeisters, – rot angestrichen wurde, sodass die Alten zu Recht vom „Raothaus“ sprechen konnten.
Dietrich Bantel
„Meine Damen und Herren“
Von Bürgermeister Gustav Bosch (+- 1961)
Meine Damen und Herren im fröhlichen Kreise
zur Halbzeit der schönen Besichtigungsreise,
die nach langem Zaudern der hohe Rat
aus den besten Gründen beschlossen hat,
seine kommunale Bildung zu mehren,
durch fremde Erfahrungen sich zu belehren,
zu neuen Einsichten sich zu bekehren
und die Spesen mit Nutzen zu verzehren.
Rathäuser, Bauhöfe, Bäder und Hallen
Haben uns mehr oder minder gefallen.
In den nächsten Jahren sind es die Brocken,
die wir beraten, die wir behocken.
Meine Damen ! Sie wissen, was ich damit meine:
Eintracht und Weisheit liegen im Weine
und bei fröhlicher Erhitzung;
bei gelösten wahren Zungen
ist schon manches wohl gelungen,
was man vorher nicht bezwungen.
Doch bevor die Becher klingen
Und den Umtrunk wir beginnen,
richten Herz und frohen Sinn
wir gen Oberkochen hin:
Daß die Kirch‘ im Dorfe bleibt,
daß der Sport uns nicht zerreibt,
daß der Wolff und nicht zerschreibt,
daß der Feil sich bald beweibt.
Daß an Sappers Düngerhaufen
sicher wir vorüberlaufen,
daß an Schwarzens Wochenmarkt
unsere Steuerkraft erstarkt,
daß der Gubi und der Chef
sich nicht noch ein Wirtshaus pachten,
um beim Wein zu übernachten.
Daß der Hauber uns nicht normt,
nicht der Günther uniformt,
daß der Hagmann mild regiert,
und der Fuchs nicht kontrolliert,
nicht der Schmid analysiert,
nicht der Weber uns skontiert
und der Kümmel dann kassiert.
Daß mit seiner Aufsichtspflicht
Schrenk besteht beim Weltgericht.
Daß vom linken untern Eck
der Kollege Marschalek
uns mit Fragen nicht erschlägt,
nicht der Fröhlich uns vergräbt,
eh der Kolb erstritten hat
die soziale Gräberstadt,
und weil wir uns schlecht rentieren,
Krok und Wick nicht liquidieren.
Daß auch niemals sich ereignet
daß der Metzger uns enteignet.
Daß bei Lied und Scherz und Weine
uns noch lang die Sonne scheine.
Darauf trinkt zum guten Schluß
Euer Servus Publikus.