„D’Senza“ (Crescen­tia) wohnte in dem kleinen Häuschen neben dem alten evange­li­schen Schul­haus, seiner­zeit Ortsbi­blio­thek, heute „Schil­ler­haus und Heimat­mu­se­um“. Also wohnte sie in der Aalener Straße 21. Als wenige Monate zuvor, im Jahre 1962 frisch „Herein­ge­schmeck­ter“, konnte ich damals natür­lich beim besten Willen noch nicht wissen, dass jene diese Geschich­te bestim­men­de Dame, die es mir optisch angetan hatte, eine Crescen­tia, auf Oberkoch­isch: die ortsbe­kann­te „Senza“, – und etwas schwie­rig war.

Oberkochen

Gebäu­de Aalener Str. 21, in dem die „Senza“ gewohnt hat. Sie hat immer aus dem Fenster links des von dem Baum fast verdeck­ten Hausein­gang herausgekuckt.

Jeden Morgen, wenn ich, auf meinem Schul­weg vom Turmweg her kommend, an dem kleinen Häuschen in der Aalener Straße vorbei zum noch 1962 frisch eröff­ne­ten nagel­neu­en Progym­na­si­um ging, schau­te, von Kakteen einge­rahmt, jene alte dürfti­ge Frau aus einem mit Spinn­we­ben fast zugewach­se­nen Fenster heraus, eine schwar­ze Katze auf dem Buckel. Der restli­che freie Raum der Fenster­öff­nung war mit zwei grau gewor­de­nen Vorhangs­zwi­ckeln verhan­gen. Hinter dieser Szene herrsch­te Finster­nis. Es war ein Bild wie aus Hänsel und Gretel, und schnell kam ich, als neuer Zeichen­leh­rer am PGO (Progym­na­si­um Oberko­chen) auf die Idee, dass das ein hervor­ra­gen­des Thema für meine Zweit­kläss­ler – damals Elf-Zwölf­jäh­ri­ge – sei – zum bunten Zeich­nen mit Wachs­stif­ten auf schwar­zen Plakat­kar­ton. Ich beschrieb meinen Schülern die Szene liebe­voll, wobei ich nichts auszu­schmü­cken notwen­dig hatte, indem die von mir beschrie­be­ne Situa­ti­on auch ohne Hinzu­ge­füg­tes absolu­te und wahre Wirklich­keit war.

Schon während meiner Darstel­lung began­nen einige Schüler der Klasse mit zwar hämischem aber angemes­sen verhal­te­nem Grinsen in den Gesich­tern ein für mich nicht erklär­li­ches Getuschel. Und immer lauter wurde das Getuschel, bis ich verstand: „d’Senza, d’Senza, – ha dees isch d’Senza“. – Ich hatte keine Ahnung, aber ich wusste nun, dass mein einfalls­rei­ches neuge­fun­de­nes Thema für die ortskun­di­gen Schüler ein durch­aus geläu­fi­ges war. Ich bestä­tig­te ihnen auf Anfra­ge, dass es sich bei der darzu­stel­len­den Person um diesel­be Person handle, die da immer aus dem kleinen Häuschen in der Aalener Straße heraus­kuckt, – und ich hatte natür­lich ab diesem Zeitpunkt kein so grausig gutes Gefühl. Die Aufga­be zurück­zu­zie­hen, war es natür­lich viel zu spät, zumal die Schüler, wie sich im Verlauf der Stunde alsbald zeigte, einen Heiden­spaß an dieser Aufga­be hatten, die unter dem Titel „Alte Frau mit Katze“ lief. Natür­lich wurden die Schüler nicht in einer Doppel­stun­de fertig mit dem anspruchs­vol­len Bild. Ich sammel­te die Arbei­ten ein, und sagte, dass wir in einer Woche das Bild fertigmalen.

Oberkochen

Die Senza wohnte in der Aalener Straße 21 neben dem Schil­ler­haus, Aalener Straße 19 (damals noch Ortbi­blio­thek). Sie schau­te immer aus dem Fester, das im EG neben der von dem Baum fast verdeck­ten Haustür befin­det. – Ein „ganz böses Mädle“ aus der damali­gen Zeit gestand, dass sie, heute 80, und ihre Freun­din­nen gerne ans andere Fenster geklopft und damit die Senze geärgert hätten. Auch haben sich die kleinen Ragal­len später einen Spaß daraus gemacht, die Senza damit zu ärgern, dass sie vor dem Fenster extra­l­aut mit den stahl­be­wehr­ten Absatz­en­den der Stöckel­schu­he klapperten.

Womit ich nicht gerech­net hatte, was aber hinter­her betrach­tet eigent­lich selbst­re­dend war: Die Schüler schau­ten sich über die Woche das Subjekt und die Objek­te der Aufga­be sehr genau an und sparten vor Ort offen­sicht­lich auch nicht mit entspre­chen­den Bemer­kun­gen. Offen­bar sagten sie der „Senza“, die sich über die vermehr­te Aufmerk­sam­keit verständ­li­cher­wei­se ärger­te, dass sie eben sie, also „die alte Frau mit Katze“, im Zeichen­un­ter­richt für ihren neuen Zeichen­leh­rer am Progym­na­si­um, gemalt werden müsse.

Es kam, wie es fast kommen musste – denn es herrsch­ten Zucht und Ordnung:
Jeden­falls zitier­te mich nach ein paar Tagen der Schul­lei­ter, Herr Studi­en­di­rek­tor Schrenk, aufs Rekto­rat, und berich­te­te mir, dass er Besuch von der „Alten Frau mit Katze“ gehabt habe, die, wie ich erst jetzt erfuhr, eine ortsbe­kann­te Person war, die man „d’Senza“ nannte. Die Dame habe ziemlich „gehaust“ und sich beschwert, dass man sie am Progym­na­si­um zum Kinder­ge­spött mache. Herr Schrenk, der ein paar Jahre Infor­ma­ti­ons­vor­sprung vor mir hatte, war natür­lich klar, dass ich als örtli­cher Neuzu­gang nicht wissen konnte, dass ich da voll in ein Fettnäpf­le hinein­gedappt war, weil eben diese Person aus aller­lei Gründen, die schrift­lich nieder­zu­le­gen es sich nur bedingt ziemt, sich sowie­so schon im Ortsge­re­de befin­de. Ich hätte diesen Zustand durch meine ahnungs­lo­se Themen­stel­lung ungewollt aber gravie­rend verstärkt, indem ich mich, nach Aussa­ge der „Senza“, vorsätz­lich über sie lustig mache, weil ich ihr gleich eine ganze Schul­klas­se auf den Hals, bezie­hungs­wei­se vor ihr Schau­fens­ter hetze.

Herr Schrenk hat mich, so gut er vermoch­te, gegen­über den Anschul­di­gun­gen dieser Dame, alias „Senza“ oder „alte Frau mit Katze“ vertei­digt, und hat mir – das rechne ich ihm heute noch hoch an, – ein persön­li­ches Zusam­men­tref­fen mit der Dame erspart. Er hat den Fall für mich und in meinem Sinne in seiner souve­rä­nen Weise abgewi­ckelt: Die Schüler durften ihre Bilder fertig­ma­len, aber ich sollte ihnen, auf Einra­ten meines Schul­lei­ters, das Verspre­chen abneh­men, dass sie sich das „Senzen-Szena­ri­um“ nicht mehr so auffäl­lig in Augen­schein nehmen, und vor allem, dass sie sich vor Ort jegli­cher Kommen­ta­re enthalten.

Beanstan­dun­gen sind keine mehr gekom­men – aber ich stell­te fest, dass man die „Senza“ eine Zeitlang nicht mehr aus ihrem Schau­fens­ter heraus zur Haupt­stra­ße gucken gesehen hat.

Wenig später war die „Senza“ dann fast unbemerkt verschwun­den. Aber sicher ist sie nicht am Schock darüber, dass sie in die Kunst­sze­ne einge­gan­gen ist, verstor­ben, denn sie lebte nachge­wie­se­ner­ma­ßen noch 25 Jahre bis 1989 bei Verwand­ten an einem anderen Orte. Jedoch ist sie durch die künst­le­ri­sche Verewi­gung zweifels­oh­ne mehrfach unsterb­lich gewor­den, – denn am Schluss des Schul­jahrs wurden in der Regel alle Arbei­ten des Jahrs an ihre Schöp­fer zurück­ge­ge­ben. Wenn also die Kunst­wer­ke zum Thema „alte Frau mit Katze“ im Lauf von einem halben Jahrhun­dert nicht allesamt „entsorgt“ wurden – und davon braucht nicht ausge­gan­gen zu werden – dann lebt sie gewiss noch heute: Es ist eine alte Weisheit, dass edle Kunst­wer­ke die Menschen überdauern…

Eine beson­ders schöne „Alte Frau mit Katze“, würde auf alle Fälle bis auf den heuti­gen Tag fortbe­stehen: Sie ist nämlich, zusam­men mit 12 weite­ren Kunst­wer­ken, in den riesi­gen Schul-Kalen­der aufge­nom­men, und dem Schul­lei­ter alljähr­lich wie fortan stets am letzten Schul­tag vor den Weihnachts­fe­ri­en, das ganze Jahr über als Dank für seine Arbeit überreicht, und als Folge davon ein Jahr lang im Rekto­rat aufge­hängt worden. – Alle Kalen­der­blät­ter wurden über 33 Jahre in einer riesi­gen auf Maß gezim­mer­ten Kiste aufbe­wahrt. Somit hätte eine „Alte Frau mit Katze“ automa­tisch Eingang gefun­den in die riesi­ge unsterb­li­che Schatz­kis­te der zweidi­men­sio­na­len Kunst am PGO, – hätte nicht, – ja, – hätte nicht der Nachfol­ger von Herrn Schrenk diese Kiste aus Platz­grün­den zum Müll gegeben – ein echter „Bilder­sturm“.

Von Insidern, die sich auch nach über 50 Jahren noch gut an „d’Senza“ erinnern, erfuhr ich, das die „Alte Frau mit Katze“ Crescen­tia Gold gehei­ßen und vom 1908 bis 1987 gelebt hat. Von Oberko­che­nern ist sie aller­dings und wie gesagt schon bald nach dem beschrie­be­nen Ereig­nis wegge­zo­gen. Sie war unver­hei­ra­tet, und, wie die Befrag­ten überein­stim­mend zu berich­ten wussten, eine wahrhaft „a weng a schwie­ri­ge Person“ gewesen. Mir wurde unver­blümt berich­tet, dass bei der Senza (Zitat eines Zeitzeu­gen): „d’Bollezischda on d‘Förschdr, on au sodde von dr Hoddwol­leh – de oine vorna nei sen, on de andre henda naus…“ Oberko­chen war bis 1968 ein absolut heißes Dorf.

Die „Senza“ soll sich auch auf Überna­tür­li­ches verstan­den haben. Eine bemer­kens­wer­te Episo­de ereig­ne­te sich, wie mir ein ehema­li­ger alter Landwirt erzähl­te, an einem 15. August (Zeitzeu­ge: „Des woiß i no wie heit“) in den Fünfzi­ger­jah­ren, – einem Feier­tag, an dem man eigent­lich nicht arbei­tet. Der Oberko­che­ner Bauer jedoch hatte, um das schöne Wetter auszu­nüt­zen, eben doch auf dem Feld gearbei­tet. Und die „Senza“ hat’s gesehen. Eines Tages danach hat sie sich, wie schon so oft von anderen, sozusa­gen gewohn­heits­mä­ßig, eben von jenem Bauern auf dem Wagen seines Kuhge­spanns Richtung „Lang Deich“ mitneh­men lassen. Da hielt sie ihm, dem Bauern, vor, dass es ihm doch, bei Gott, „doch d’ganz Ernt‘ vrhag­la soll“ zur Strafe, weil er sich so gottes­läs­ter­lich verhal­ten habe. Da hielt der Bauer, der weder vor Gott noch vor dem Teufel Angst hatte, sein Gespann an, sagt kurz und bündig „jetz gascht abr ra vo meim Waga“, und ließ die „Senza“ ungefähr beim heuti­gen „Römer­kel­ler“ mitten in der unbewohn­ten Welt stehen. – Die Ernte hat es ihm nicht verha­gelt, und, weil „d’Senza“, wie man sagte, es »mit Gott und dem Teufel gleich­zei­tig« hielt, ist nicht überlie­fert, wohin sie nach ihrem Tod gekom­men ist.

Der Vater von der „Senza“ hieß Karl Gold und war Werkzeug­ma­cher. Ihre Mutter eine Holzwarts­beck geb. Bezler (ohne „t“ – »Grazer« mit „G“, weil einst von „Graz“, Steier­mark gekom­men, sagen die einen, – Kratzer mit „K“ und „tz“ sagen die andern, die’s nicht so mit den Öster­rei­chern haben). Die Mutter der „Senza“ jeden­falls, die habe auch schon immer aus dem Fenster heraus­ge­kuckt, und vorbei­kom­men­de Kinder aufge­for­dert, ihr vom Geißin­ger dies oder jenes oder äbbes Anderes mitzubringen.

Dietrich Bantel

05.04.2016 – Anmer­kun­gen zu Bericht 654, „d’Senze“

„Senze“ hinten mit „e“ oder mit „a“, – das war mehrfach die Frage. Man schrei­be das Wort hinten mit einem „e“, – mit einem „e“ jedoch, das a Wengle Richtung „a“ ausge­spro­chen wird. Also schrei­ben wir’s hinten auch mit „e“ und sprechen wir’s aus, wir wir’s gewohnt sind. – Eine Leserin übersand­te dem Heimat­ver­ein ein Foto von der „Senze“, wie sie mit einer ihrer Katzen aus ihrem Fenster zur Haupt­stra­ße „rausguckt“. Das Foto hat sicher Selten­heits­wert. Herzli­chen Dank.

Oberkochen

Dem Echo nach ist „d’Senze“ noch sehr gegen­wär­tig in Oberko­chen. Mehrfach wurde bestä­tigt, dass man „d’Senze“ schon ganz gern geärgert hat, worüber sie sich dann oft auch bei der Polizei beschwer­te, die zu Zeiten im Gebäu­de neben dran residier­te (alte ev. Schule – Schil­ler­haus). Die Gendar­men haben sie aber in der Regel schnell wieder aus der Wache hinaus­kom­pli­men­tiert. Anderes, was über sie gesagt wird, sehen die einen so, die andern so. Fest steht, dass sie, wenn man hin und wieder auch einen anderen Eindruck bekom­men konnte, absolut nicht bösar­tig, sondern halt etwas „oiga“ war. – Wollen wir sie mit diesem Foto, das sie mit einem gewin­nen­den Lächeln zeigt, als ausge­fal­le­ne und würzi­ge Person in Erinne­rung behal­ten, die an die Zeiten erinnert, da Oberko­chen noch Dorf war.

DB

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