Heute ist eine massi­ve Reizüber­flu­tung von Bildern, Tönen und Buchsta­ben festzu­stel­len. Wir können auf alles zu jeder Zeit in jegli­cher Form zugrei­fen: auf Tausen­de von Radio­sen­dern, auf Hunder­te von Fernseh­sen­dern, auf Abertau­sen­de Bücher und Zeitschrif­ten für jede Lebens­la­ge und jedes Lebens­ge­fühl. Zufrie­de­ner und glück­li­cher sind wir deshalb nicht – eher plagt uns das Gefühl trotz­dem irgend­et­was zu verpas­sen. Und wenn wir uns ruhig hinset­zen und nachden­ken, stellen wir vielleicht fest, dass im Mangel der wahre Gewinn liegt. „Verrückt?“ Vielleicht. Aber mir scheint etwas Wahres dran zu sein.

Die Töne

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Rechnung „Lumophon“ Max Walter Aalen

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Das erste Radio meiner Eltern „Lumophon WD527“ 1949

Eine der ersten Anschaf­fun­gen meiner Eltern nach der Währungs­re­form war ein Radio der Marke „Lumophon WD527“ für sage und schrei­be 855 DM, das mich stark prägen sollte. Ich bin ein Kind des „grünen magischen Auges“, des Zauber­kas­tens aus dem Worte und Töne durch eine Stoff­be­span­nung auf meine Ohren trafen und dabei zuckte das „grüne Auge“ auf magische Art und Weise dazu. Ich saß davor, legte meine Finger auf die kleine Tasta­tur und begann zur Musik zu spielen wie auf einem kleinen Klavier – meine Phanta­sie ging mit mir durch. Die Glasschei­be mit den

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Mein Regie­pult am Radio 2

Radio­sta­tio­nen, das war wie eine Reise durch die Welt mit Namen, die das Fernweh aufkom­men ließen (Bis heute kann ich keine Noten lesen, geschwei­ge denn ein Instru­ment spielen, aber Musik belegt bis heute einen wichti­gen Teil in meinem Leben und hat ein ordent­li­ches Gewicht in meinem Budget.) Die erste Musik, die mich als Kind beein­druck­te, war natür­lich die Musik meiner Eltern und das war die Musik der 20er bis 50er Jahre. Ich kenne sie heute noch alle, die Lieder und die Stars von früher: Marle­ne Dietrich, Comedi­an Harmo­nists, Marika Röck, Hans Albers, Zarah Leander, Heinz Rühmann, Lale Ander­sen, Peter Alexan­der, Cathe­ri­na Valen­te, Hazy Oster­wald, Margot Eskens, Nana Mousku­ri, Freddy, Mireil­le Mathieu und viele andere mehr. Meine Freun­din wendet sich heute mit Grausen ab, wenn es mich überkommt und ich die alten Schei­ben der 20er und 30er aufle­ge. Wir pfleg­ten zuhau­se keine klassi­sche Hausmu­sik, aber wir hatten immer Musik im Haus und das war bei uns Chef-Sache, also Mutti’s Ding. Das Summen der elektri­schen Nähma­schi­ne gehör­te auch zu unserem Haus. Mutter benutz­te sie fleißig für die Heimar­beit. Anfangs arbei­te­te sie selbstän­dig zu Hause als Neben­bei-Schnei­de­rin für die Oberko­che­ner Damen­welt (mein Bruder Harald musste immer als „Anpro­be-Dummy“ herhal­ten und fand das äußerst ätzend). Später arbei­te­te sie als Heimar­bei­te­rin für „Krok Oberko­chen“, „Attica Aalen“ und „Taschen­tuch Winkler Aalen“. Damit ihr die Tages‑, Abend- und Nacht­ar­beit leich­ter von der Hand ging, leiste­te das Radio beste Diens­te. Es wurde morgens einge­schal­tet und wenn Mutti nach Beendi­gung ihrer Heimar­beit an der Nähmaschine

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Mutti an ihrem Arbeits­platz in der Küche

(oft nach Mitter­nacht) zu Bett ging wieder ausge­schal­tet. Dabei war klar: Nur der Süddeut­sche Rundfunk lief da im Radio. Morgens irgend­ein „musika­li­scher Wecker“, dann die „Hausfrau­en­sen­dung“, nachmit­tags der „Platten­tel­ler“ und abends das Wunsch­kon­zert „Von Haus zu Haus“ oder die „Schla­ger-Skala“. Das war schwä­bisch- patrio­ti­sche Ehren­sa­che. Wenn ich von der Schule heim kam lief um die Mittags­zeit eine politi­sche Sendung, die wohl meistens von dem näseln­den Herrn Lueg moderiert wurde, der später im Fernse­hen Karrie­re machte. Danach gab es immer klassi­sche Musik, ob man sie mochte oder nicht. Auf diese Art und Weise bekam ich auch zu dieser Musik einen Zugang und lernte auf diese Weise auch alle Kompo­nis­ten kennen. Es wurde nicht nur gespielt was das geschätz­te Publi­kum hören wollte, sondern auch was die Redak­teu­re im Rahmen der volks­bil­den­den Maßnah­men für wichtig erach­te­ten. Nicht die schlech­tes­te Lösung – es wäre Zeit sich dessen heute vielleicht mal wieder zu erinnern. Denn nur dem Zeitgeist nachzu­ren­nen senkt m.E. das allge­mei­ne Bildungs­ni­veau. Dann gab es einen techni­schen Umbruch in unserer Familie,

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Unser erstes Tonband­ge­rät „Grundig“

ein Tonband­ge­rät der Marke Grundig wurde angeschafft und Mutti hat viele Bänder mit den Liedern aufge­nom­men welche sie gerne hörte. Das war konzen­trier­te Arbeit, die neben den beruf­li­chen Anfor­de­run­gen gemeis­tert werden musste. Meistens wurde die Musik von Wunsch­kon­zer­ten aufge­nom­men. Dabei bestand die Kunst darin den Anfang perfekt zu erwischen und die Stop-Taste zu drücken bevor der Modera­tor das Lied abmode­rier­te. Und wehe der sprach in die laufen­den Aufnah­me hinein, da bekam er aber reich­lich Ärger mit seiner Zuhörer­schaft. Diese wünsch­te sich alles Mögli­che und Unmög­li­che – immer verbun­den mit „liiiee­eben Griiii­ie­ßen an das Schall­ar­chiv“. Wer immer das war und wo immer die saßen (wohl meistens im Keller der Sende­an­stal­ten). Und bei entspre­chen­den Gelegen­hei­ten wurde diese Musik vom Band dann abgespielt, bei Geburtstagen,

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Meine Eltern, die Logier­fräu­leins mit ihren Verlob­ten und ich zu Fasching 2. Hälfte 50er Jahre

Hausbäl­len zur Faschings­zeit, Silvester

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Silves­ter 1960 mit Schrö­ders, Hubers und Geisens

oder bei anderen Festen, denn gefes­tet wurde in den 50er und 60er Jahren reich­lich. Dann kam es mit dem Nachbar­jun­gen Wolfgang Dubiel zu einem Aha-Erleb­nis. Er zeigte mir ein kleines Transis­tor­ra­dio aus dessen kleinem Lautspre­cher Elvis Presley’s „Jailhouse Rock“ erklang. Wow – ein Wunder der Technik und ich war hin und weg. Ich dachte „Auch haben wollen ☺. Das Jahr 1965 brach nun mit musika­li­scher Gewalt, nahezu eine Revolu­ti­on, über unsere Familie herein. Aber auch andere Töne haben mich von Kind auf faszi­niert – die blecher­nen unseres Musik­ver­eins. Egal auf welches Fest ich mit meinen Eltern ging. Wenn sie mich suchten, wussten sie, dass sie nur zur Musik­ka­pel­le gehen mussten. Dort stand ich mit großen Augen und offenen Ohren, staun­te und schau­te zu wie der Dirigent die Truppe antrieb. Bis heute habe ich auch die fantas­ti­sche Musik von Billy Vaughn noch im Ohr und sehe dazu die bunten Glühbir­nen­gir­lan­den, die für mich immer mit dem sommer­li­chen Schüt­zen­fest im Schüt­zen­haus im „Kessel“ in den 50ern verbun­den bleiben „Blue Hawaii“ und „Sail along silv’ry Moon“ gespielt vom Nachbarn Bruno Ditz aus der Weingar­ten­stra­ße. Retro pur. Aber wie gesagt, 1965 war diese Faszi­na­ti­on zu Ende. Die neue engli­sche Pop-Musik rollte über den Äther. Mutti nannte sie nur dem Volks­mund entspre­chend: Neger-Musik. Unglaub­lich. Für mich ist diese Zeit unver­gess­lich, denn sie war geprägt durch Beatles, Rolling Stones, Beach Boys, Bee Gees und viele andere Super­bands einher­ge­hend mit den puber­tä­ren Umbrü­chen in uns selber. Der Süddeut­sche Rundfunk mit seinen Star-Modera­to­ren Heinz Kilian, Günter Freund, Norbert Scheu­mann kam da nicht mehr mit und ich wechsel­te zum Bayri­schen Rundfunk. Hier hörte ich immer am Freitag­abend die Hitpa­ra­de mir Ruth Kappelsber­ger, dazu gab es Abend­brot mit Dreiecks­kä­se von Krafft, Fisch in Senf- oder Tomaten­so­ße aus der Dose oder frischen Bückling vom Otto Kopp in der Heiden­hei­mer Straße 44. Denn es war Freitag und der hatte fleisch- und wurst­los zu sein.

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Kopp’s Werbung 1959

Der beste Tag in der Woche. Später war ich dann Fan von Julia Edenho­fer und Georg Kostya im Club 16. Da meine Musik eben nicht immer verfüg­bar war, musste ich mich darum bemühen und zuhau­se um die Hoheits­rech­te über das Radio kämpfen. Ich muss aller­dings auch geste­hen, dass ich auch für andere Sendun­gen anfäl­lig war: Die Straßen­keh­rer Werner Veidt und Walter Schult­heiß, die Herren Häber­le und Pflei­de­rer, das schwä­bi­sche Hörspiel am Sonntag nach dem Mittag­essen und das Krimi­hör­spiel am Montag­abend sowie die Life-Übertra­gun­gen aus dem Funkhaus der Villa Berg – Highlights meiner Kindheit. Eine beson­de­re Art von Musik waren die Marien­lie­der in den Maian­dach­ten. Wir Kinder wurden in diese Andach­ten geschickt und die Lieder sind bis heute im Kopf präsent. Auch wenn der Kegel­club „Sonnen­berg“ seine Maiwan­de­run­gen durch­führ­te achte­ten die Frauen immer darauf bei einer Marien­ka­pel­le vorbei­zu­kom­men um unter der stimm­li­chen Führung von Tilly Huber ein paar Marien-Lieder zu singen wie z.B. „Meerstern wir Dich grüßen“. 1966 habe ich dann zum ersten Mal in den Sommer­fe­ri­en gearbei­tet. War zwar mit 14 nicht erlaubt, aber unter Männern konnte das schon geregelt werden. In der Alumi­ni­um­gie­ße­rei Egerter in der Aalener Str. 80 bekam ich 2 DM auf die Stunde. Nach 3 Wochen konnte ich meinen Traum erfül­len und kaufte mir einen „Grundig Concert Boy 208“ –

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Mein erstes eigenes Radio „Grundig Concertboy“

ein traum­haf­tes Radio­ge­rät. Kurz vorher, zu meinem 14. Geburts­tag durfte ich als „Erstge­bo­re­ner“ die Zimmer­wahl treffen: Zimmer im oberen Stock ohne Heizung aber getrennt vom Eltern­be­reich oder Zimmer im EG im Eltern­be­reich mit Heizung – na was habe ich wohl gewählt. Klar – die Kälte mit eigenem Radio. Und so kreuz­te ich wie ein alter Seefah­rer durch die Wellen (UKW, MW, LW und KW). Meine Favori­ten waren die AFN-Hitpa­ra­de am Samstag­nach­mit­tag, RTL’s Hitpa­ra­de am Sonntag­nach­mit­tag mit Camil­lo Felgen und die Ö3-Hitpa­ra­de am Sonntag­abend. Und wenn wir sonntags zum Schwim­men in das erste Freibad auf dem Härts­feld, nach Kösin­gen, fuhren – das Radio musste mit. Aber der absolu­te Knüller war auf Mittel­wel­le die engli­sche Hitpa­ra­de auf „Colourful Radio Luxem­burg“ Sonntag­nacht um 23 Uhr. Eines Tages bin ich doch tatsäch­lich dabei einge­schla­fen. Die Eltern waren nicht im Haus, das Fenster war offen, der Radio dudel­te wohl recht laut vor sich hin und ich schlief den Schlaf der Gerech­ten. Da klingel­te mich doch tatsäch­lich ein Nachbar aus der oberen Weingar­ten­stra­ße nachts um 2 Uhr wach, um mir mitzu­tei­len dass er nicht schla­fen könne. Dabei war das ein Mittel­wel­len- und kein Langwel­len-Sender☺. Vater kaufte 1962 dann unser erstes Auto, einen Ford Taunus 12 M mit der coolen Nummer AA-DD 66. Leider hatte das Auto kein Autora­dio. Zu teuer beschied man uns, also mussten wir uns die Zeit damit vertrei­ben, vom Rücksitz aus die Autonum­mern der uns überho­len­den Autos mit Hilfe eines Taschen­ka­len­ders heraus­zu­fin­den. Als ich dann für einen Stutt­gar­ter Verlag und für den Brabandt-Lesezir­kel in Oberko­chen die Zeitschrif­ten mit dem Fahrrad ausfuhr, nahm ich dann sogar den Grundig-Radio in der Sattel­ta­sche mit, damit ich unter­wegs Musik hatte – auch wenn ich dadurch öfters fahren musste. Ganz schön verrückt aber toll. Hier sei anzumer­ken, dass ich die dicks­ten Trink­gel­der von der Lehre­rin Jensen und von der Frau Serfling bekam. Später reich­te der Radio natür­lich nicht und wir zogen in die Discos in der Umgebung: Ins PUB und den BOTTICH nach Aalen, ins TÜRMCHEN nach HEIDENHEIM und ins 1000-UND-EINE-NACHT nach GIENGEN. 1969 gab es im Progym­na­si­um die erste Schul­par­ty, die wir auf die Beine stell­ten und ich gewann den Discjo­ckey-Wettbe­werb. Sicher nicht weil ich besser als Peter Meroth war, aber ich hatte in Willy Ehinger den besse­ren Stimmen­samm­ler. Der erste Preis war ein Gutschein für eine LP. Ich tausch­te ihn gegen eine Platte von Elvis Presley ein, hatte aber keinen Platten­spie­ler. Jetzt wollte ich aber nicht einen Platten­spie­ler kaufen und dann kein Geld mehr haben und immer gezwun­gen sein die gleiche Schall­plat­te abzuspie­len. Also kaufte ich mir erst ca. 30 Schall­plat­ten und dann einen DUAL-Platten­spie­ler und dann war das eine Riesen­sa­che. Musik, in allen Stilrich­tun­gen, die Zimmer­wän­de mit Bildern aller wichtigs­ten Bands aus dem „Muzik-Express“ zugepflas­tert (aber ohne BRAVO-Starschnitt – das war Sache der Mädchen) und den Wohnraum mit moderns­ter Technik ausge­stat­tet. Moder­ne Technik zum Hören und Sehen, das ist auch heute noch mein Anspruch und Teil meiner Lebens­qua­li­tät. Zu den Tönen der Jugend gehört natür­lich auch das Telefon, in unserem Fall mit der Rufnr. 7829 (Je kürzer umso cooler – es gibt heute noch 3- und 4‑stellige Rufnum­mern, die sicher wie Oldies gepflegt werden). In unserem Haus hatten unsere Mieter Hermann und Irmgard Schim­mel als erstes eines und wenn ein Telefo­nat für mich kam, rief mich Frau Schim­mel nach oben und ich stand im Flur und sprach eine gefühl­te Ewigkeit mit der Freun­din aus Ettlin­gen. Mutti rügte mich immer dafür, aber das Verliebt­sein war stärker als die Zurück­hal­tung den Mietern gegen­über und irgend­wann hatten wir auch ein eigenes Telefon. Zu den Tönen gehören aber auch diver­se Spiel­ge­rä­te wie Flipper, Billard und Spiel­au­to­ma­ten. Flipper spiel­ten wir im „Gullmann“ in der Aalener Str. und in der „Neuen Welt“ in Aalen, Billard in Königs­bronn und Kicker und Spiel­au­to­ma­ten im „Café Muh“ in der Dreißen­tal­stra­ße, in der „Grube“ und in der „Sonne“. An den Spiel­au­to­ma­ten mussten wir immer warten bis der Krimi­na­le PX Josef Paul Fischer, mit der obliga­to­ri­schen Zigar­re im Mund, diesen endlich freigab. Auch Musik­bo­xen hatten es mir angetan. Die gab es im „Hirsch“, im „Gullmann“ und im Eisca­fe „Italia“. Da wurde so manche Mark versenkt um die Lieblings­lie­der anzuhören.

1963 wurde die Fußball­bun­des­li­ga einge­führt (Der erste Meister war der FC Köln. Von Bayern war damals noch nicht viel zu sehen). Dadurch kam Leben in die samstäg­li­che Bude. Das Koffer­ra­dio wurde ab 15:30 im Garten aufge­stellt, Vater putzte und polier­te mit Hinga­be sein Auto und wir unsere Fahrrä­der und aus dem Radio wurden über Konfe­renz­schal­tun­gen in die Stadi­en die Tore vermel­det. Wenn die Spiele in den Stadi­en beendet waren mussten wir natür­lich auf der Straße unser Bestes mit dem Ball geben. Dazu brauch­te es ein Tor und nichts war geeig­ne­ter als ein Garagen­tor auf das wir ständig schie­ßen konnten. Jedes Tor, das wir erziel­ten, war laut und gefiel uns, aber dem Eigen­tü­mer (Hr. Eugen Floß) gefiel das gar nicht und er verscheuch­te uns regel­mä­ßig mit dem Hinweis: „Spielt doch auf bei eurer Garage“. Aber unsere hatte ein Stahl­tor und der Platz davor war schon recht knapp. Waren schon geile Jahre – die 60er. „Salut les copains“ – In diesen Jahren gab es auch eine franko­phi­le musika­li­sche Berei­che­rung, die uns heute leider völlig verlo­ren gegan­gen ist. Die Liebe zu dieser Musik begann im Hause „Gärtner“ im Silcher­weg 26, wo meine Schul­freun­din Chris­tia­ne wohnte und deren Eltern­haus ein „offenes Haus“ für uns junge Leute war. Bei ihr wir trafen uns mehrmals wöchent­lich nach dem Unter­richt um gemein­sam Hausauf­ga­ben zu machen und um Musik der franzö­si­schen Popmu­sik mit zu hören: Johnny Hally­day, Sylvie Vartan, Francoise Hardy, Jaques Dutronc, France Gall und der unver­gess­li­che Michel Polnar­eff. Das gemein­sa­me Arbei­ten für die Schule hat nicht viel gefruch­tet aber die Liebe zur franzö­si­schen Musik, die ist bis heute geblie­ben. Und was soll ich Euch sagen – die Chris­tia­ne ist tatsäch­lich nach Frank­reich gegan­gen um ihren franzö­si­schen Traum zu leben und lebt bis heute in Paris. Abschlie­ßend müssen noch ein paar Töne erwähnt werden, die zu Oberko­chen einfach dazuge­hör­ten. Zum einen die Tiefflie­ger, die einen gewal­ti­gen Lärm verur­sach­ten, da wir zu Zeiten des kalten Krieges in einer Tiefflie­ger­zo­ne lagen. Heute geht im Facebook gleich eine wilde obsku­re Diskus­si­on los wenn mal ein Überschall­knall ertönt. Das war damals den ganzen Sommer hindurch gang und gebe. Der andere gnaden­lo­se Ton war die wöchent­li­che Sirenen­pro­be. Soweit ich weiß war damals eine Sirene auf dem Rathaus, die an jedem 1ten Samstag im Monat ertön­te und noch eine auf der heuti­gen Sonnen­berg­schu­le instal­liert. Aber auch die Kirchen­glo­cken, die ab morgens 7 Uhr ihr Spiel begin­nen gehören dazu, sowie die Zeit der Rätschen ab Karfrei­tag bis Oster­sonn­tag. Denn in dieser Zeit flogen die Glocken nach Rom wie man mir als Kind weiß machen wollte. Aber vor den Glocken melde­te der Josef Tritt­ler mit seiner Trompe­te von der Höhe herab, dass Sonntag­mor­gen ist. Damit sind wir natür­lich auch beim Thema „Tagwa­che“ des Musik­ver­eins, denn dann war immer ein beson­de­rer Tag in Oberko­chen. Der weitaus schöne­re Lärm waren natür­lich die Geräu­sche vom Rummel­platz (frühe­re Stand­or­te waren der Eugen-Bolz-Platz, der Parkplatz am Rupert-Mayer-Haus, der Platz vor der Dreißen­tal­schu­le und neben der Sport­hal­le im Schwörz. Hier war für mich das wichtigs­te Geräusch das der Auto-Scooter, die dazuge­hö­ri­gen Ansagen und die moder­ne Musik dazu (hat schon reich­lich Geld gekos­tet). Sich zu zeigen, hat schon immer Geld gekos­tet ☺ Sich zeigen, das war auch in den Disko­the­ken notwen­dig. Ich erinne­re mich noch genau an meinen ersten Besuch im „Pub“ in der Romba­cher Straße in Aalen. Zu Fuß zogen wir in Oberko­chen los und gingen auf der „Alten Straße“ über Unter­ko­chen nach Aalen. Sonntags wurde gegen 17 Uhr geöff­net. Als ich den „Beat-Schup­pen“ betrat war ich hin-und-weg: Status Quo spiel­te gerade „Pictures of Match­stick­men“, das Licht funkel­te und die psycho­de­li­schen Bilder an der Wand wurden in ein faszi­nie­ren­des Licht getaucht. Und in der Menge tanzte unser Klassen­ka­me­rad Micha­el Beppo Bernl­öhr aus Oberko­chen mit den tolls­ten Mädchen. Die ersten Joint-Erfah­run­gen gab es später im „Bottich“ und damit war die Kindheit defini­tiv zu Ende. Die spannen­de und spannungs­rei­che Zeit des Erwach­sen­wer­dens hatte begonnen.

Die Buchsta­ben

Seit ich die Buchsta­ben kennen­ge­lernt habe, mit Hilfe von

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„Hans und Lotte“ aus der Volks­schu­le 1959

„Hans und Lotte“ etwas lesen konnte, faszi­nie­ren mich Bücher und Zeitschriften.

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Die Ortsbü­che­rei von Helma Braun 1959

Als die Ortsbü­che­rei (im heuti­gen Schil­ler­haus) unter der Leitung von Helma Braun öffne­te, war ich mit dem Mitglieds­aus­weis Nr. 7 einer der fleißigs­ten Leser, die sie betreut hat. Die wichtigs­ten Bücher meiner Kindheit habe ich heute noch in meinem Regal stehen: „Meute­rei auf der Bounty“ (ein Kommu­ni­ons­ge­schenk von unserer Miete­rin Irmgard Schim­mel), die „Nibelun­gen“, der „Kaiser von Kalifor­ni­en“ und die „Klassi­schen Sagen des Alter­tums“. Die Bücher haben mich gefes­selt und da das Tages­licht nicht genüg­te, bin ich mit Taschen­lam­pe zu Bett gegan­gen um unter der Bettde­cke weiter­le­sen zu können. Das Lesen unter diesen erschwer­ten Bedin­gun­gen hatte eine Phanta­sie entwi­ckelt, die einfach toll war und meinen Deutsch­leh­rer Rudolf Thiem zur Verzweif­lung brach­te. Ich schrieb Aufsät­ze, die ständig vorge­le­sen wurden. Nicht weil sie preis­wür­dig waren, sondern weil ich in meinen Aufsät­zen meine Leseer­fah­rung aus den Romanen von G.F.Unger und anderen Schrift­stel­lern der legen­dä­ren Western-Litera­tur (sog. Schund­li­te­ra­tur) einflie­ßen ließ. Aus diesem Grund bekam ich auch meinen Spitz­na­men „Billie“ von Studi­en­rat Thiem auf einem Wander­tag verpasst. Dieser Künst­ler­na­me hält sich aller­dings bis heute und ich geste­he – ich mag ihn. Natür­lich waren erste Anlauf­punk­te, als eigenes Taschen­geld zur Verfü­gung stand, die Buchhand­lung HENNE in der Heiden­hei­mer Straße, das Foto- und Zeitschrif­ten­ge­schäft KRISTEN in der Dreißen­tal­stra­ße sowie das Kiosk ENNEPETZ in der Bahnhof­stra­ße. Unver­ges­sen wenn die lispeln­de Frau Kristen FIKSCH UND FOKSCHI verkauf­te. Und ums Ennepetz’sche Kiosk bin ich immer herum­ge­schli­chen um die neues­te Weltli­te­ra­tur zu bestau­nen. Verschlun­gen habe ich die roten Krimis aus Reihe von EDGAR WALLACE sowie eine ganze Anzahl von KARL-MAY-Romanen. Nun kann ich nicht gerade sagen, dass ich gerne zum Friseur ging, aber im Salon HAHN in der Lerchen­stra­ße gab es viele Zeitschrif­ten und da hatte es mir der STERN beson­ders angetan. Da waren tolle Geschich­ten zu lesen. Kaum zu glauben über was da alles berich­tet wurde. Und so ging ich tapfer dort hin, um auf der langen Bank zu sitzen und den STERN zu lesen und auch Kunden vorzu­las­sen, nur damit ich die Zeitschrif­ten länger lesen konnte. Mit Beginn der Puber­tät wurde mir aber ein moder­ner Haarschnitt wichti­ger als die Hahn’schen Zeitschrif­ten. Und so ging ich zum moder­nen Salon SCHNEE nach Aalen und ließ mir von Frau Betzler (Dreißen­tal­str.) einen moder­nen gestuf­ten Messer­schnitt verpas­sen, mitun­ter poppig toupiert. Zeitung lesen konnte ich nun zuhau­se, da ich diese ja selbst austrug. Bis heute kann ich mir eine Wohnung ohne Bücher nicht vorstel­len. Grausig, wenn ich mir vorstel­le, dass alle meine Bücher­re­ga­le in einem E‑Book Platz haben sollen. Auch gab es zu dieser Zeit noch handge­schrie­ben Briefe und Postkar­ten, die zu Ostern, Weihnach­ten, Neujahr und aus dem Urlaub verschickt wurden. Einige, darun­ter alle Liebes­brie­fe aus meiner Jugend, habe ich aufge­ho­ben und vertie­fe mich lächelnd hin und wieder darin. In den 60ern war Bildung GROSS geschrie­ben. Es war selbst­ver­ständ­lich, dass die aufstre­ben­de Mittel­schicht Mitglied im Bertels­mann Leseclub war. Vater zahlte und Sohn bestell­te. Neben der Bibel hatte so ziemlich jeder Haushalt der etwas auf sich hielt, das Bertels­mann Volks­le­xi­kon in modischem bordeaux-rotem Einband im Regal stehen. Lexikon lesen fand ich scharf und man konnte sich bilden und bilden und bilden. Friede­mann Blum hatte die Idee sich mit Kunst­bü­chern zu beschäf­ti­gen. Das war spannend, denn hier war Erotik nicht verbo­ten und leicht zu bekom­men – hier gab es reich­lich Bildma­te­ri­al – wenn auch etwas sehr künst­le­risch ☺. Die übliche eroti­sche Neugier der puber­tie­ren­den Jünglin­ge wurde durch „Prali­ne, Neue Revue und Quick“ abgedeckt. Dr. Sommer aus der „Bravo“ erklär­te uns alles ganz genau – auch Dinge, die wir gar nicht wissen wollten. Nun gab es aber auch erhel­len­de Litera­tur. Das waren einseits die berühm­tem gelben „Reclam-Heftchen“. Die lasen wir aber nicht freiwil­lig sondern als Pflicht­li­te­ra­tur im Deutsch­un­ter­richt, genau­so wie die „Hambur­ger Leseheft­chen“. Ganz spezi­ell waren die „Reader’s Digest“-Ausgaben, die ich im Hause Meinert kennen­ler­nen durfte. Es gab aber auch Unange­neh­mes. Toilet­ten­pa­pier war damals teuer und nicht jeder leiste­te sich mehrla­gi­ges weiches Papier für den Aller­wer­tes­ten. Manche fanden, dass die Zeitung von heute Morgen für etwas anderes nützlich war. Ich hasste es mit den Nachrich­ten von gestern im hinte­ren Bereich für Sauber­keit zu sorgen zumal es dazu verführ­te auch noch am Örtchen zu lesen und diesen wichti­gen Raum zu blockie­ren. Ich war als Kind so froh dass ich das nur bei Famili­en­be­su­chen in Waldhau­sen und Fulda erdul­den musste.

Die Bilder

Zugang zu beweg­ten Bildern hatte ich zuerst in der Nachbar­schaft. Die Familie Vater hatte recht bald einen Fernse­her und dort konnte ich die Serien meiner Kindheit anschau­en, die mich in ihren Bann zogen: „Fury“, „Am Fuß der blauen Berge“ oder Arnim Dahl mit „Nerven wie Draht­sei­le“ – das war spannend. Ein Höhepunkt aber war „Stahl­netz“ – uns Straßen­kin­der vom Sonnen­berg streng verbo­ten, aber der Herr Hopp aus dem Nachbar­haus ließ uns wenigs­tens den Anfang schau­en und der war schon extrem spannend mit der reiße­ri­schen Musik. Ich bin heute noch der Ansicht, dass viele S/W‑Filme von damals drama­tur­gisch extrem spannend gestal­tet wurden und die Filme bis heute noch eine wirkungs­vol­le Ausstrah­lung haben. Eine Beson­der­heit war auch, dass unser Mieter Hermann Schim­mel eine Zusatz-Anten­ne hatte und daher auch Zugang zu einem 3ten bayri­schen Programm hatte, über das „Isar 12“ ausge­strahlt wurde. Auch hatte er eine Folie vor der Mattschei­be angebracht, die so eine Art Pseudo-Farbig­keit simulie­ren sollte. Sehr exotisch fand ich auch japani­sche Kinder­fil­me, die mich sehr in ihren Bann zogen. Ab dem Zeitpunkt als wir selbst einen Fernse­her hatten, der anfangs natür­lich in der kalten guten Stub‘ stand, war das auch ein belieb­tes Mittel zum Straf­voll­zug. (Der Vorteil der guten kalten Stub‘ war, dass es der Christ­baum locker bis Licht­mess ausge­hal­ten hat). Einmal habe ich 7 Wochen Fernseh­ver­bot bekom­men (was ich angestellt habe weiß ich heute nicht mehr), aber dass ich Gott froh war, dass es keinen Hausar­rest gab, das weiß ich noch. Denn es war Sommer und Fernse­hen war mir dann doch nicht so wichtig, als auf der Straße herum­zu­sprin­gen. Das hatte mein Vater pädago­gisch völlig falsch einge­schätzt. Der Fernse­her gab dem Tag eine neue Struk­tur. Man schau­te täglich die Tages­schau, am Samstag nach dem Baden die Sport­schau mit Ernst Huber­ty gefolgt von den großen Shows mit Franken­feld, Kulen­kampff, Torria­ni, Carell und anderen Meistern ihres Fachs. Ich hatte damals auch ein Faible für Sendung wie Roseg­gers Waldbau­ern­bub, Geschich­ten mit Louis Trenker oder der bayri­sche Fenster­gu­cker. Die Ziehung der Lotto­zah­len, damals eine höchst spannen­de Sache ☺, und dann schick­te uns das Wort zum Sonntag ins Bett. Zu dieser Zeit gab es noch abschlie­ßend ein Testbild, denn von einer Rundum­ver­sor­gung waren wir weit entfernt. Damals wurden dem Zuschau­er noch kultu­rel­le Lecker­bis­sen präsen­tiert, an denen er zu knabbern hatte, denn Fernse­hen war auch Bildungs­auf­trag und klassi­sche Konzer­te und klassi­sches Theater zur Haupt­sen­de­zeit waren durch­aus üblich. Damit das aber nicht zu viel wurde gab es auch das Ohnsorg-Theater oder den Theater-Stadl. Absolu­te Straßen­fe­ger waren die Durbridge-Krimis, Fußball­spie­le und Prof Grzymek’s Tierfil­me. Faszi­nie­rend waren noch die Verfil­mun­gen russi­scher Litera­tur wie „Der stille Don“ oder „Die Brüder Karama­sov“. Total in den Bann gezogen hat mich aber die Serie „So weit die Füße tragen“. Für mich verbo­te­ne Filme wie Hitchcock’s „Vögel“ pfleg­te ich nachts am Samstag­abend ohne Ton anzuschau­en während die Eltern schlie­fen. Das war ein doppel­ter Kick – Hitchcock‘s Drama­tik und meine Angst erwischt zu werden – ging aber immer gut. Zu erwäh­nen bleibt noch der Faschings­mon­tag. Es wurden und werden bis heute die Umzüge aus Köln, Mainz und Düssel­dorf übertra­gen. Die schau­ten wir natür­lich auch an und zwar in voller Verklei­dungs­mon­tur. Dazu gab es von Mutti frisch gemach­te Faschings­krap­fen. Tätä Tätä Tätä! Wolle mer se reilas­se? Daneben wurde ich auch ein Fan des Kinos.

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Schleicher’s Kino-Werbung 1959

Im Schleicher’schen Kino groß gewor­den ist es nicht verwun­der­lich, dass ich bis heute ein fleißi­ger Kinogän­ger geblie­ben bin. Und ich kann Euch sagen, am Wochen­en­de war der Teufel los wenn die richti­gen Filme liefen wie z.b. Fuzzy, Karl May, Tarzan, Dr. Fu Man Chu, Dr. Mabuse, Filme mit Fröbe, mit Belmon­do usw. usf. sowie „Das Schwei­gen“, das nicht schwei­gend zur Kennt­nis genom­men wurde. Nicht nur einmal hat die kirch­li­che Instanz in Person von Pfarrer Forster versucht Filmauf­füh­run­gen zu verhin­dern, die nicht in das zeitge­nös­si­sche kirch­li­che Bild passten, denn die „Macht­ha­ben­den des Dorfes“ waren seiner­zeit der Bürger­moisch­ter (Herr über die Polizei­stun­de), d’r Herr Pfarrer (musste von den Mädchen mit „Gelobt sei Jesus Chris­tus“ auf der Straße begrüßt werden) und die Lehrer­schaft (die seiner­zeit mitun­ter noch wert-konser­va­ti­ve körper­li­che Ermun­te­run­gen anwand­te). Wir gingen oft ins Freibad nach Wasser­al­fin­gen und dort lernte ich über meinen Schul­freund Reinhold Kurz den Agenten James Bond und die Minox-Kamera kennen. Reinhold las damals schon die engli­sche Versi­on des Romans „Casino Royal“, der erst kürzlich verfilmt wurde. Er hatte auch eine Geheim­agen­ten­ka­me­ra – die berühm­te Minox. Mutig durch­streif­te ich mit ihr das Freibad­ge­län­de und fotogra­fier­te under­co­ver schwä­bi­sche Bikini­schön­hei­ten. Das Fernse­hen sorgte auch dafür, dass ich bis heute ein Fan von Borus­sia Dortmund bin. Das geht zurück auf den 5.Mai 1966 als Stan Libuda mit seinem legen­dä­ren Fernschuss in s/w das 2:1 für den BVB gegen Liver­pool erziel­te und somit die erste deutsche Fußball­mann­schaft Europa­po­kal­sie­ger wurde. Ich war hin und weg. In meiner Schul­klas­se gab es nur Dortmun­der, 60er und ein paar verspreng­te Clubbe­rer. Der VFB mit dem Torhü­ter Sawitz­ki und seiner Bätsch­kapp war einfach nur uncool. Später war es natür­lich ein Muss das erste, im Jahr 1970 in Farbe übertra­ge­ne Fußball­ball­spiel Deutsch­land gegen Jugosla­wi­en, im Fernse­hen im „Café MUH“, bei den Wirts­leu­ten Norbert und Lissi Richter, anzuschau­en. Wobei noch anzumer­ken sei, dass es dort Oberko­chens beste Hähnchen und Pommes gab. Auch das Sammeln und Tauschen von Fußball-Sammel­bild­chen war ein Muss für die Jungs. Die Karten kauften wir beim „Ficht­ner“ oder beim “Gruppen-Heiner“ und versuch­ten dann zu tauschen (z.B. zwei Wabra für einen Tilkow­ski). Später kam dann noch das ARAL-Sammel-Album dazu und unser ganzer Stolz war es so ein Album ohne Fehlbil­der zu besit­zen. Überhaupt war wohl das Jahr 1966 ein ganz wichti­ges Jahr. Zum einen das Jahr der Fußball­welt­meis­ter­schaft in England mit dem legen­dä­ren Nicht-Tor im Spiel gegen England. Mein kleiner Bruder war damals 8 Jahre alt und konnte vor Enttäu­schung nicht aufhö­ren zu weinen. Immer wenn ich unsere alte Mauer im Garten anschaue denke ich an diesen Tag: Samstag, 30. Juli. Denn an diesem Tag wurde sie mit Unter­stüt­zung der männli­chen Nachbar­schaft und meiner Handlan­ger-Diens­te erbaut. Vati versprach mir hoch und heilig, dass die Arbeit bis 16 Uhr beendet sein wird. Und so war es. Wir saßen ab 16 Uhr vor dem Fernse­her und das Drama nahm seinen Lauf. Und dann war da noch die Mondlan­dung, die ich nachts am Fernse­hen erleben durfte, denn dafür stand Mann und Frau auf. Es gab noch jeman­den für den wir früh morgens aufstan­den: Cassi­us Clay, den besten Boxer mit einer beson­de­ren Ausstrah­lung. Nun hat mich Boxen nicht sehr inter­es­siert, das war mit zu grob und zu brachi­al, aber Cassi­us gab diesem Sport eine Leich­tig­keit, die nach seiner Zeit nicht mehr erreicht wurde. Zu den Bildern gehör­te natür­lich auch das Theater. Mit der Schul­klas­se ging es ins Natur­thea­ter Heiden­heim, das mich auch später immer mal wieder als Besucher willkom­men hieß. Ein absolu­tes Muss für eine schwä­bi­sche Gymna­si­al­klas­se war natür­lich der Besuch in Jagst­hau­sen um den kultu­rell wichtigs­ten Fluch aller Flüche klassisch darge­bo­ten zu bekom­men „Sage er ihm er könne mich im …….“. Auch durften wir im Rahmen einer kultu­rel­len Abend­aus­fahrt in Stutt­gart im „Großen Haus“ den „Fliegen­den Hollän­der“ anschau­en. Aber diese vielen Akte waren gar so schwer zu ertra­gen. Also machten wir uns nach dem 1. Akt auf die Suche nach dem berühm­ten DreiFar­ben­Haus (das Stutt­gar­ter Bordell an dem seiner­zeit am 7ten Tage geruht wurde – eine Selten­heit in ganz Deutsch­land). Noch schnell ein Bier und dann saßen wir wieder pünkt­lich zum 3. Akt vor der Bühne und schwank­ten vielleicht wie dem Hollän­der Michel sein Schiff. Herr Thiem hat von unserem Zwischen­akt nichts mitbe­kom­men, da er zu sehr auf die Vorkomm­nis­se auf der Bühne fokus­siert war. Zu den Bildern gehör­ten natür­lich auch die Comic-Heftchen, für die ich kein Geld hatte und die im elter­li­chen Budget nicht vorge­se­hen waren. Also blieb nur leihen und tauschen. Faszi­niert haben mich beson­ders „Falk, Sigurd, Micky Maus, Fix und Foxi, Super­man und ganz toll die „Digge­dags“ aus der DDR.

Abschlie­ßend sei anzumer­ken, dass heute alles Kultu­rel­le im Überfluss vorhan­den ist, die wenigs­ten von uns müssen dafür kämpfen oder große Aufwän­de betrei­ben. Das ist einer­seits eine komfor­ta­ble Situa­ti­on anderer­seits aber auch infla­tio­när, denn wir bringen dadurch der Kultur nicht mehr den notwen­di­gen Respekt dar und schät­zen das Vorhan­den­sein aller dieser Möglich­kei­ten nicht mehr sehr hoch ein. In diesem Sinne schicke ich Ihnen kultu­rel­le Grüße vom Sonnen­berg. Gehen Sie wieder mal ins Kino, ins Theater, in ein Konzert, hören Radio oder lesen ein gutes Buch.

Anmer­kung: Ich bin immer bestrebt meinen Geschich­ten leben­dig zu gestal­ten. Sie sollen ihr Leben nicht beim Schrei­ben aushau­chen, sondern die Kraft haben auch beim Lesen etwas auszu­lö­sen. Es geht mir natür­lich darum, mich selbst beim Schrei­ben zu erinnern, aber auch bei Leser- und Innen, eigenes Reflek­tie­ren auszu­lö­sen und das Ganze immer in einen zeitge­schicht­li­chen Kontext zu stellen. Das gelingt mal sehr gut bis weniger gut – aber das Bestre­ben, das zu errei­chen, ist immer da.

Herzlichst Ihr Wilfried Billie Wichai Müller vom Sonnenberg.

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