Auf unseren Bericht 632 vom 11. Juli hatten wir erwartungsgemäß eine Reihe von interessanten Rückmeldungen. Die interessanteste ist das Wiederaufleben einer Spur, der ich schon vor langer Zeit ohne Ergebnis nachgegangen war, und sie deshalb bewusst in die Darstellung in Bericht 632 nicht aufgenommen habe, da mir nicht genügend verwertbares Material zur Verfügung stand.
Durch eine telefonische Information kam ich nunmehr durch die Benennung eines ernst zu nehmenden, jedoch leider verstorbenen Zeugen zu der Erkenntnis, dass ich eine vierte Variante, die den geschichtlichen Spuren des Oberkochener Hausnamens »Napeoleon« nachgeht, doch noch zumindest erwähnen sollte: Mir wurde nämlich glaubhaft versichert, dass ein gewisser Dr. Carl Weidmann mehrfach erwähnt habe, dass Napoleon, also der »richtige Napoleon Bonaparte«, auf seinem Zug nach Russland 1812, tatsächlich durch Oberkochen nicht nur »durchgekommen« sei, sondern dort sogar übernachtet habe.
Zunächst zu Dr. Carl Weidmann. Ich hatte Dr. Weidmann im Oktober des Jahres 1971 kennen gelernt, als er der Ausgrabungsstelle »Römerkeller« im Weilfeld einen Besuch abstattete.

Römerkeller 1971 mit dem Spazierstock von Dr. Weidmann – Foto DB
Mein Foto mit Dr. Weidmanns Spazierstock, den er für seine Fotos als »Maßstab« gegen die Wand des Römerkellers gelehnt hatte, erinnert an seinen Besuch: Dr. Weidmann interessierte sich damals für den auf diesem Foto noch sehr gut erkennbaren römischen Verputz mit dem per Fugeisen in den noch feuchten Putz eingebrachten Blendfugenwerk. Sein Name war mir schon 1968 begegnet durch einen Artikel im Amtblatt »Bürger und Gemeinde«, in welchem Dr. Weidmann selbst seinen im Heimatmuseum erwähnten sensationellen Steinbeil-Fund beschreibt. Das wohl mehr als 5000 Jahre alte Steinbeil hatte er am 7. April 1968 auf einem Lesensteinhaufen im Gewann »Strick« zwischen Forsthaus und Aussiedlerhof Schmiedjörgle Richtung Kocherursprung gefunden und es dann in »Bürger und Gemeinde« v. 28. Juni 1968 – Stadterhebungs-Nummer –, auf den Seiten 306 und 307 beschrieben. Das Beil gelangte später in den Besitz von Dr. Dr. Gerhard Kühn von der Firma Carl Zeiss, Ehrenbürger der Stadt Oberkochen, der es schäften ließ. Es befindet sich heute in dessen Sohnes Besitz. Leider ist es mir nicht gelungen, den für Oberkochen wichtigen Fund fürs Heimatmuseum zu bekommen.
Dr. Carl Weidmann war ein vielseitig interessierter Forscher, der zuletzt beim Bäcker Dickenherr gewohnt hat und den Beschreibungen nach massenhaft Fossilien und besondere Steinproben angesammelt hatte. Zuvor hatte er in der Heidenheimer Straße 11 bei der Familie Josef Fischer, Hausname »Bebel«, gewohnt. – »Bebel« ist ein weiterer Oberkochener Hausname, der auf geheimnisvolle Weise mit dem »phantastischen« Oberkochener Napoleon-Besuch zusammenhängt. Frau Fischer, die Witwe des früh verstorbenen alten »Bebel«, erinnert sich noch heute gut an ein wunderschön »stuckiertes« Zimmer, dem Kocher zu, von dem auch Dr. Carl Weidmann, der sich mit der Geschichte des Hauses befasst hatte, belegbar mehrfach berichtet hat. Von ihm stammt die Aussage, der zufolge das Zimmer seinerzeit, das heißt im Jahr 1812, in aller Eile im wahrsten Wortsinn »herausgeputzt« und sogar »stuckiert« worden sei, als ein Zeitfenster für die angebliche Übernachtung Napoleons in Oberkochen bekannt wurde.
Die Phantasie hilft weiter: Vielleicht ist ein verirrter oder gar verwirrter französischer Vorhut-Dragoner von Aalen kommend, und mit entsprechend viel Schnaps oder sonst was in der Krone, im Gasthof »Hirsch« mit einem Urahn des »Bebel« zusammengetroffen und hat diesem in seinem Suff sowie »im Auftrag von Napoleon persönlich« klar gemacht, dass er für Napoleon Quartier machen müsse, und er, der »Bebel«, schleunigst ein Zimmer aufs Feinste herzurichten und herauszuputzen habe, denn übermorgen werde Napoleon, heute noch in Aalen, auf seinem Marsch nach Russland in Oberkochen just bei ihm, dem »Bebel« von Oberkochen, übernachten. Natürlich kam der »Bebel«, selbst gut aufgetankt, dem Wunsch des Dragoners gleich anderntags nach und beauftragte Maurermeister Wingert, der, wie manche Maurermeister vor 200 Jahren auch die Kunst des Stukkatierens beherrschte, (Stukkateure gab es dazumal nämlich noch keine in Oberkochen), das schönste Zimmer zum Kocher hinaus mit einer fein stukkatierten Decke zu versehen. Seit dieser Zeit hatte man aus diesem Grund in der Langgass im Hause »Bebel« jenes wunderschöne »Napoleon-Zimmer« mit dem stukkatierten Plafond.…
Auch diese »sagenhafte« Übernachtung Napoleons in Oberkochen kann allerdings, durch meine Nachforschungen beim Staatsarchiv in Ludwigsburg leider unwiderruflich belegt, erst recht nie stattgefunden haben, denn soviel ist heute klar: Sowohl jener hoch-wohllöbliche französische Vorhut-Dragoner, als sicherlich auch der »Bebel« selbst, hatten zu viel Schnaps oder Streuobstwiesenmost intus gehabt – und Napoleon zog ahnungslos ein gutes Stück weiter nördlich an dem schönen frisch stukkatierten Plafond vom »Bebel von Oberkochen« vorbei gen Russland. Nix war’s mit der Übernachtung vom Napoleon beim »Bebel«. Sowohl die Witwe des Josef Fischer »Bebel«, Elisabeth Fischer, als auch dessen Schwester Hedwig Ebert bestätigen indes, dass es das ominöse Zimmer mit der Stukkatur, so wie von Dr. Carl Weidmann beschrieben, tatsächlich gegeben hat.
Trotz intensiver Nachforschung konnte mir jedoch niemand, bislang auch nicht die nächsten Verwandten des Josef Fischer »Bebel« sagen, wann und aus welchem triftigen Grund dieser einen Raum mit einem für ein Bauernhaus ungewöhnlich üppigen »Plafond« ausgestattet worden war. So bleibt allein die Geschichte mit dem französischen Vorhut-Dragoner. Leider wurde das Gebäude »Bebel« im Zuge der Errichtung des großen modernen Neubaus »Kreissparkasse« an der Stelle der Gebäude »Schmiedjörgle«, Ecke Bahnhof- und Heidenheimer Straße und »Bebel« in der Heidenheimer Straße abgerissen, ohne dass von diesem Napoleon-Raum irgendwelche Fotos gefertigt worden wären.

Plafond-Stukkatur – Foto Google
Eine Querverbindung zwischen Napoleon (1769 — 1821) zum Sozialisten August Bebel (1840 — 1913), dem virtuellen Namenspatron der alteingesessenen Oberkochener Familie Fischer/Bebel zu konstruieren, grenzt an ein absolut utopistisches Unterfangen. Und die Frage zu beantworten, weshalb der Bebel »Bebel« heißt, ist nicht Aufgabe dieses Berichts. Eine Querverbindung über die einstige Langgass (Heidenheimer Straße) hinweg von der einen auf die andere Seite der Straße hinüber herzustellen, zwischen den beiden Oberkochener Fischer-Familien Fischer/Napoleon und Fischer/Bebel, ist absurd, und zumal für einen Stuttgarter eine fast unlösbare Aufgabe, da schon Frau Fischer freimütig einräumte, dass sie, da sie vom »Ellwängischa her nach Obrkocha reigheiricht« habe, nicht so tief in die Oberkochener Familien-Querverbindungen eingedrungen sei, um mir hier weiterhelfen zu können.
Bleibt also nur die etwas spitzbübische Bitte, dass sich alle weiteren Altoberkochener Familien, die glauben, oder denen man glauben machen wollte oder will, dass Napoleon einst auch in ihrem Haus übernachtet hat, sich freundlicherweise beim Heimatverein melden mögen…
Abschließend im Ernst: Wir werden dennoch auch die Spur mit dem Plafond-Zimmer des Napoleon beim »Bebel« weiterverfolgen, – denn schließlich war Dr. Weidmann nicht »Jedweder« und musste Gründe für seine ungewöhnliche und in Oberkochen so gut wie nicht bekannt gewordene These gehabt haben. Welche Bewandtnis hatte es also mit jenem außergewöhnlichen »Zimmer mit Plafond« in der Heidenheimer Straße 11? Nützliche Hinweise nehmen wir gerne entgegen (Tel. 07364–7377).
Dietrich Bantel