Wenn die Eltern gestorben sind, folgt eine Zeit der Trauer und des Erinnerns. Begleitet wird dieser Prozess durch das Herumstöbern in ihren Hinterlassenschaften. Mitunter finden sich da interessante Bilder, Briefe und Utensilien. Diese Dinge wurden aufgehoben, weil sie einmal Bedeutung hatten. Meine Aufgabe war es die letzten Monate diese Hinterlassenschaften zu sortieren und zu entscheiden, was bleibt und was geht. Was bleibt sind Dinge, die für mich wiederum heute eine Bedeutung oder einen Erinnerungswert haben.

Eines dieser Utensilien, die heute längst aus der Zeit gefallen sind, ist meines Vaters Spazierstock. In meiner Kindheit, den 50er und 60er Jahren, hatte der Sonntag (da die Anschaffung eines Autos in dieser Zeit noch über unseren Möglichkeiten lag) einen steten Ablauf. Die Eltern standen frühmorgens vor uns auf und besuchten die Frühmess‘ in der katholischen Kirche St. Peter und Paul. Wir Kinder durften wählen, ob wir ins Hochamt um 9 Uhr oder in die Langschläfer-Mess‘ (ich glaube um halbelf) gehen wollten. Natürlich gingen wir in die letzte Mess‘, denn da konnten wir länger schlafen und die Messe war kürzer und weniger lateinisch-weihrauch-bombastisch als das Hochamt. Mutter kochte in dieser Zeit unser Mittagessen: „Schnitzel Wiener Art mit Petersiliekartoffeln“ Jahrein Jahraus – mitunter unterbrochen durch andere Gerichte, aber „Schnitzel Wiener Art“ dominierte eindeutig. „Schnitzel“ war für meine Mutter bis zu ihrem Tod ein Eckpfeiler ihres Lebens. Sie setzte dann gegenüber dem Roten Kreuz, bei dem sie die letzten Jahre ihr Essen bezog, durch, dass am Sonntag IMMER Schnitzel geliefert wurde – egal was offiziell auf dem Speiseplan stand. Warum? Ganz einfach. Sie sagte: „Ohne Schnitzel ist der Sonntag kein Sonntag und wenn es kein Schnitzel gibt, kann kein Sonntag sein“. Zurück zu unserem Sonntag in den 50ern. Vater ging vormittags mit unserer Schäferhündin (mit echtem Stammbaum „Frida vom Bussecker Schloss aus der Zucht von Hans Ruhroth in der Dreißentalstraße) in den Wäldern rund um den Volkmarsberg spazieren. Punkt 12, wenn das Angusläuten erklang hatten wir alle zuhause zu sein um gemeinsam Mittag zu essen. Während des Essens hatten Kinder nach „Härtsfelder-Ess-Richtlinien“ zu schweigen. Das Credo hieß: „Beim Ässa schwätzt m’r net“ Nach dem Essen wurde gespült und abgetrocknet (das war Männer- und Bubensache) und sich für den sonntäglichen Ausgang gerichtet. Mutter trug eines ihrer bunten selbstgenähten Kleider und Vater zog den sog “Sonntagsstaat“ an: Flotte Schuhe, Socken (na ja), Sommeranzug, Hut und Stock. So zog Man(n) los: Links die Frau am Arm, rechts den Stock in der Hand, der Hund voraus (den Weg absichernd) und wir Kinder hintennach oder mit dem Hund voraus. Unsere Hoffnung: Hoffentlich begegnen wir nicht so vielen Bekannten, denn dann musste immer der Hut gelupft werden um zu grüßen und ggfs. entwickelte sich ein längeres Gespräch, das uns Kinder immer nervte weil es uns nicht interessierte und wir eh nicht mitreden konnten oder durften. Es gab sog. „Grüss-Gott-Wege“ wo man Gift drauf nehmen konnten, dass da alle laufen und es ein furchtbarer Spaziergang werden würde. Am besten waren die Spaziergänge zu den Rasensportaufführungen unseres viel gerühmten und „ooooohts-“erfolgreichen FCO.


Ein Hut war damals Pflicht – winters wie sommers nach dem Motto: „Mann mit Hut kommt immer gut“ und so halten wir Müller-Buben es heute auch noch, wobei mich mein Bruder vor einigen Jahren überzeugte es ihm nachzutun mit der Begründung: „Da brauchst Du keinen Regenschirm mehr“. Das hat mich schwer überzeugt und seitdem pflegen wir den Hut-Usus unseres Vaters. Das andere markante gute Stück der damaligen Zeit war der Spazierstock. Das war kein Stock, der als Gehhilfe benutzt wurde, sondern er gehörte einfach zur Grundausstattung eines Manns von Welt. Der Spaziergänger schwang den Stock im Rhythmus des Gehens. Dabei fasste er den Griff locker mit der Hand und ließ den Stock dann gekonnt nach oben und nach unten schwenken und dann wieder vom Boden abstoßen. Das Ganze hatte eine fließende Bewegung und Könner waren sofort erkennbar. Ich glaub, dass der Vater von Schorsch Brunnhuber in diese Kategorie gehörte. Die Besten konnten so schwingen, dass sie den Boden gar nicht berühren mussten. Heute sieht man das nicht mehr, würde vielleicht sogar als schräg angesehen werden. Ich wage die Behauptung, dass es heute nur noch wenige Männer gibt, die diese Art der Fortbewegung formvollendet ausführen könnten. Der berühmteste Stockträger war mit Sicherheit Charlie Chaplin, der diesen auch zu allen möglichen und unmöglichen Aktionen benutzte. Berühmt ist auch das Bild von Spitzweg mit dem Titel „Der Sonntagsspaziergang“ zum Thema Sonntag mit Hut, Stock und Familie.

Der Stock hatte allerdings noch eine andere Aufgabe. Heute wird auf Facebook gepostet wo man gerade ist oder war, früher hat man am Auto Aufkleber angebracht um zu zeigen wo man oder das Auto schon überall herumgekommen ist und in der autolosen Zeit kaufte man für den Spazierstock Stocknägel um zu zeigen wo man schon mit ihm herumstolziert ist. Diese Stocknägel konnten früher an jedem Kiosk, uns solche gab es gar viele, gekauft werden.

Auf dem Stock meines Vaters finden sich Stocknägel folgender Orte: Blaubeuren, Wasserkuppe, Burg Hohenzollern, Bad Wildbad, Bad Nauheim, Langeland, Laboe, Bayrisch Gmain, Passau, Altötting, Edertalsperre, Arbersee, Bad Wildungen, Rimbach, Chiemsee und Maria Eck. Sein Stock hat ihn wohl auch zu jeder Kur begleitet. In den folgenden Jahrzehnten verschwanden Hut und Stock immer mehr aus unserem Leben (wir erinnern uns an unsere Hans-und-Lotte-Fibel: Mit zu den ersten Worten die wir lernten gehörten HUT-STOCK-WECK-WURST). Später benutzte man Hut und Stock noch zu den Mai-Ausflügen oder den Vatertags-Wanderungen. Wobei die Stöcke dann schon getunt wurden (mit Klingel und Trinkgefäß). Solcherlei kann man heute wohl auch noch gelegentlich erspähen. Abschließend noch eine Bemerkung an uns Übriggebliebene: Wir sollten mit den Hinterlassenschaften unserer Vorfahren respektvoll umgehen, denn sie haben ihnen etwas bedeutet und erst nach sorgfältiger Sichtung diese Dinge entsorgen oder doch aufheben, damit uns außer den Erinnerungen etwas bleibt. In diesem Sinne lupfe ich meinen Hut und wünsche ein schönes Wochenende und ein schönes Stadtfest.

Wilfried Wichai Billie Müller