Teil 1

Die Musik brauch­te Orte, an denen sie gehört und erlebt werden konnte. Da war das kleine Zimmer im Hause der Eltern nicht genug. Wir wollten Musik hören, rauchen, trinken, disku­tie­ren – kurz, die ganze Welt verän­dern. Da mussten beson­de­re Orte gefun­den und erfun­den werden.

Wir schrei­ben das Jahr 1964 und mein Nachbar, eine Art großer Bruder für mich, Wolfgang »Wolff« Dubiel begann eine Feinme­cha­ni­ker­leh­re bei Carl Zeiss in Oberko­chen. Dort traf er 1965 die Mitlehr­lin­ge Hartmann, Korn und Schellenberg.

Hartmann und Korn waren unter Lebens­ge­fahr über die inner­deut­sche Grenze in den Westen geflüch­tet. Da sie beide aus dem Raum Jena waren, haben die Behör­den die beiden vermut­lich bei Carl Zeiss abgege­ben. Da die beiden keine Angehö­ri­gen im Westen hatten, wurden sie im Jugend­heim in der Jenaer Straße 2 untergebracht.

(Bild 1 aus Bericht 195 — Carl Zeiss Jugendwohnheim)

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Das war nun ihr neues Zuhau­se. Und wie man das so zuhau­se macht, macht man das erst recht in einem neuen Zuhau­se: Man stöbert in allen Räumen herum und oft wird man fündig und findet spannen­de Dinge.

So auch dieses Mal. Die beiden fanden einen Raum voller Musik­in­stru­men­te wie Vibra­pho­ne, Schlag­zeug und anderes mehr. Wie zu erfah­ren war, wurde zur damali­gen Zeit von jungen Leuten, die ein Volon­ta­ri­at bei ZEISS machten, Jazz im Keller gespielt – und das anschei­nend gar nicht übel. Sogar Klaus Doldin­ger soll hier mal mit von der Partie gewesen sein.

Aber die neue Zeit und der Geist der 60er brach auch über Oberko­chen herein und die Jugend fühlte sich in dem Nachkriegs­mief dieser Zeit nicht wohl und begann aufzu­be­geh­ren und hier boten sich beson­ders Musik, Kleidung, Sprache und Haare als Ausdrucks­mit­tel des Anders-Sein-Wollens an. Unsere Musik wurde zuhau­se als Neger­mu­sik abgetan, Haaren und Kleidung wurde mit dem bekann­ten Spruch »Solan­ge Du Deine Füße unter meinen Tisch strecksch.…« begegnet.

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Musik, moder­ne Musik mit stamp­fen­dem Beat, nach der wir gierten, konnten wir nur über das Radio (zeitlich sehr einge­schränkt) oder aus den Musik­bo­xen im CAFE MUH, im HIRSCH und im ITALIA hören. Ich erinne­re mich noch an eine wunder­vol­le WURLITZER-MUSIKBOX im HIRSCH, die so manchen Groschen aus meinem Geldbeu­tel verschlang. Aber es war einfach ein tolles Gefühl, den gelieb­ten Song so oft zu hören, wie ich wollte. Es war die Zeit der BEATLES, der ROLLING STONES, und der BYRDS, deren Musik uns in ihren Bann zog. Und da es in Oberko­chen für ein Jugend­haus oder eine ähnli­che Einrich­tung nicht den Hauch einer Chance gab, packten die Jungs von ZEISS an. Frei nach dem Motto der damali­gen Jahre: »Nicht viel fragen — machen«, zumal es von der Firma auch kein Geld dafür gab.

Hartmann, Korn und Dubiel nahmen die Dinge in die Hand und gestal­te­ten den Keller um (vermut­lich mit den Erlösen aus dem Verkauf der Instru­men­te, sicher ist das aber nicht). Wolfgang Dubiel und sein Schwa­ger Ulrich Rassel hatten die Aufga­be eine Musik­an­la­ge mit Boxen zu bauen, die sie mit viel Herzblut zusam­men­bau­ten (Ulrich war aller­dings nie im Beat Club, ihm ging es nur ums techni­sche Machen). Der Name BEAT CLUB entstand nach dem Vorbild der gleich­na­mi­gen legen­dä­ren Musik­sen­dung von RADIO BREMEN, die seiner­zeit von Manfred Sexau­er und Uschi Nerke moderiert wurde.

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Im BEAT CLUB v. li. n. re. Wolfgang Dubiel, Rolf Frank, Frank-Heiner Hillje

Die ZEISS-Führung hatte anfangs nichts dagegen, da der Jazz-Keller ja auch keine Proble­me mit sich gebracht hatte. Wäre das alles auf kleiner Flamme geblie­ben, es hätte sich niemand ereifert oder aufge­regt, aber es kam anders. Der BEAT CLUB machte sich in der Szene einen Namen (was sicher etwas mit der Musik zu tun hatte, die dort aufge­legt wurde) und so dauer­te es nicht lange, bis die Jungs und Mädels aus Aalen, Heiden­heim, Giengen, Schwä­bisch Gmünd und sogar aus Stutt­gart nach Oberko­chen kamen, um im BEAT CLUB Spaß zu haben. Mit dem Erfolg stieg das Verlan­gen und Hartmann konnte bei ZEISS durch­set­zen, dass einmal im Monat am Samstag der ZEISS-Speise­saal für den BEAT CLUB öffne­te und ganz wie beim Origi­nal im Fernse­hen spiel­ten auch hier teilwei­se Live-Bands auf.

Die Begleit­um­stän­de führten aber dazu, dass es in der Oberko­che­ner Bevöl­ke­rung zu gären begann. Es kamen junge Leute in ungewohn­tem Outfit, die auf dem Weg vom Bahnhof zum ZEISS zu bewun­dern waren oder mit ihren Mopeds einen ordent­li­chen Krach veran­stal­te­ten. Auch wandel­te er sich von einer gemein­nüt­zi­gen Veran­stal­tung zu einem priva­ten BEAT CLUB. Über die Geldströ­me, die seiner­zeit irgend­wo­hin flossen, gibt es heute nur Vermu­tun­gen – aber sie versan­de­ten offen­sicht­lich in Taschen außer­halb von ZEISS.

Da traf nun die damali­ge Gemenge­la­ge auf die konser­va­ti­ve Geistes­hal­tung eines Großteils der Gemein­de. Die politi­sche CDU-Strömung und der enorm starke Einfluss der Kirche (beson­ders der katho­li­schen unter Pfarrer Forster) taten das übrige und so war es nicht verwun­der­lich, dass auf Druck der Bevöl­ke­rung, der Gemein­de­rat sich mit dem Thema beschäf­tig­te (Auch die alte »Senza« aus der Aalener Straße 2 zeigte den Jungs mal, dass man einen Putzlap­pen auch anders einset­zen konnte, um ihr Missfal­len gegen­über den Krach­ma­chern zu verdeutlichen).

Bevor es aller­dings zu einer Entschei­dung kam, wurde eine Sitzung mit Gemein­de­rats­mit­glie­dern, den beiden Pfarrern der Gemein­de und ausge­wähl­ten Jugend­li­chen aus Alt-Oberko­che­ner Famili­en abgehal­ten (wie das halt so war, so hatten diese Jugend­li­chen als Angehör­te mit dem Beat Club sicher nichts zu tun und dienten wohl nur als Alibi, um eine moder­ne Haltung vorzu­gau­keln). Der Gemein­de­rat übte wohl Druck auf die Firma ZEISS aus, dass sie ihre Jugend­li­chen nicht im Griff hätte und so wurde noch ein Grund benötigt und gefun­den, um das Projekt zu beerdi­gen – »Es ginge im Club unzüch­tig zu, die Putzfrau habe ein Präser­va­tiv gefun­den«. Sodom und Gomor­ra waren nicht in Nahost, sondern mitten unter uns.

Im Grunde ist es wie so oft gelau­fen. Projek­te mit Selbst­ver­wal­tung laufen aus verschie­de­nen Gründen oft schief, da sie den Entschei­dern manch­mal ein Dorn im Auge sind und Gründe und Bewei­se lassen sich dann schon finden. Danach entste­hen dann weich­ge­spül­te Projek­te, die man gerne vorzeigt, die den Inter­es­sen der Gründer aber oft nicht mehr entspre­chen. Das war sicher auch ein Grund, warum einige damals von Oberko­chen wegge­gan­gen sind – das Tal war in dieser Zeit einfach zu eng und das nicht nur geographisch.

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Von li nach re: NN, Wolfgang Kießlich (verst.), Hartmut Müller, NN, Jürgen Becker (verst.), NN, Sigurd Bank

ZEISS musste jetzt handeln, wollte das Projekt aber nicht gänzlich beerdi­gen und so wurde Hartmut Müller seitens ZEISS beauf­tragt, einen Jugend­club zu errich­ten. Einen Jugend­club, der mehr sein sollte als ein Treff­punkt zum Musik­hö­ren und zum Tanzen. Hartmut war sich wohl bewusst, dass der Club seine Ziele nur errei­chen konnte, wenn er sich öffne­te, denn das Inter­es­se und die Mitar­beit bei den BEAT CLUB-Jugend­li­chen war direkt nach Schlie­ßung des BEAT CLUBS an der neuen Art nicht so sehr ausge­prägt und es bedurf­te reich­lich Engage­ment seitens Hartmut Müller und so war der Jugend­club dann doch zeitwei­se sehr Gymmi-lastig (so bin auch ich letzt­end­lich im Club gelandet).

Ich zitie­re jetzt Origi­nal­tex­te aus der damali­gen Zeit. (Wolfgang Braun schrieb seiner­zeit in einem Rückblick 1969).

»Im Oktober 1967 fand sich die ZEISS-Jugend zum ersten Mal im Jugend­club zusam­men. Mit diesem Schritt sollte der Weg zu einer neuen Tradi­ti­on und Aufga­be getan werden. Im raschen Laufe der Zeit erreich­te die Mitglie­der­zahl des Jugend­clubs bald ihre obere Grenze. Immer mehr junge Leute bewar­ben sich um die Mitglied­schaft und nahmen an den Veran­stal­tun­gen teil. Schon bald wurde die erste Bilanz gezogen: die Haben­sei­te war »ausge­bucht«. Mit der Gründung des Jugend­clubs wurde eine neuar­ti­ge Entwick­lung mit harmo­ni­scher Verbin­dung geschaf­fen: Der Gemein­schafts-Abend und der Kultur-Nachmit­tag. Beides fein aufein­an­der abgestimmt. Referen­ten und Diskus­si­ons­part­ner ebenso wie Mitglie­der konnten bald das Gelin­gen des Experi­ments bestä­ti­gen. Ab März 1968 erschien monat­lich ein fest umris­se­nes Programm. Die Club-Abende und Kultur­ver­an­stal­tun­gen erhiel­ten immer deutli­cher einen gewis­sen Glanz, umrahmt von Wande­run­gen, Fahrten, Fest- und Spielveranstaltungen.

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Auch verdien­ten sich einige von uns ihre ersten Meriten an der Gitar­re wie z.B. unser Huga-Paule sowie Porzig’s Tine und Straube’s Regina

Zurück­bli­ckend mag der Jugend­club sogar als Wegbe­rei­ter erschei­nen, denn bald folgte ihm die Gründung eines anderen Clubs in Oberko­chen und dem von der Jugend­ver­tre­tung beschlos­se­nen außer­or­dent­li­chen Garten­fest (in Verbin­dung mit den Natur­freun­den) von anderer Seite ebenfalls ein außer­or­dent­li­ches Gartenfest.

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Gleich­zei­tig ebnete die Jugend­ver­tre­tung den Weg zu überkon­ven­tio­nel­len Gesprächs­run­den. Erinnert sei zum Beispiel an die Diskus­si­on mit Vertre­tern der beiden Konfes­sio­nen. Unsere objek­ti­ve Bilanz betrifft den Zeitraum von 1967 bis 1969, in welchem eine äußerst hohe Zahl von Veran­stal­tun­gen verzeich­net werden konnte. Dieser Erfolg beschei­nigt nachträg­lich die Berech­ti­gung eines laut gewor­de­nen und in die Tat umgesetz­ten Gedan­kens: Auf diesem Weg sei dem Gedan­ken­trä­ger und Gründer ein Dank ausge­spro­chen. Die Bilanz zeigt ein gelun­ge­nes Werk und gleich­zei­tig den Segen einer Autori­tät auf, die mit Idealis­mus und Realis­mus gepaart war. Möge das Erreich­te erhal­ten bleiben. Mit Zustim­mung des Jugendclubs.«

(Hartmut Müller schrieb seiner­zeit in einem Rückblick 1969).

»Sinn und Zweck eines Jugend­clubs. Wenn sich in einem Kreis junge Menschen treffen, so muss es doch dafür einen guten Grund geben. Dieser Grund heißt bei uns: Gemein­schaft. Dank unserer Firma Carl Zeiss können junge Werks­an­ge­hö­ri­ge in einem aufge­schlos­se­nen, fröhlich freien Kreis ihre Gedan­ken austau­schen, den anderen näher kennen­ler­nen und sich selbst entde­cken! In diesem Kreis kann jeder seine Talen­te entwi­ckeln und vervoll­komm­nen. Ist es nicht eine frucht­ba­re und erfül­len­de Aufga­be, Abende und Nachmit­ta­ge mitzu­ge­stal­ten, die eigene persön­li­che Note hinzu­zu­fü­gen und an dem Erfolg mitbe­tei­ligt zu sein? Da wo das Vergnü­gen mit dem geisti­gen Arran­ge­ment harmo­ni­siert, ist eine glück­li­che Verbin­dung geschaf­fen. Mag »unser« Jugend­club auch zur durch­dach­ten und frucht­ba­ren(!) Kritik anrei­zen, dann ist der Sinn eines Jugend­clubs erfüllt.

In diesen 3 beweg­ten Jahren waren folgen­de Perso­nen beson­ders aktiv (in alpha­be­ti­scher Reihenfolge):

S. Bank, J. Becker (verstor­ben), W. Braun, D. Dorn, W. Kieslich (verstor­ben), M. Minsch, H. Müller, R. Kruse, J. Tuente, R. Zinser

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Von li nach re: NN, Jürgen Becker, Hubert „Hubsy“ Bergmann, Wilfried Müller, NN; Edeltraut Schüler

(Fortset­zung folgt)

Wilfried Müller

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