Eine Reihe von Neuzugängen, die bald als Exponate im Heimatmuseum in Augenschein genommen werden können, geben uns Anlass zu einer etwas ausgefallenen heimatkundlichen Weihnachts-Betrachtung:
Die Weihnachtstage geraten zunehmend in ein verwahrlostes geistiges Abseits. Immer früher machen sich die Werbefuzzis auf die Beine, um verirrten Menschen den Weg zur vermeintlich wahren, von materiellen Werten beherrschten Weihnachts-Freude zu weisen. Tatsächlich: Wer etwas auf sich hält, beginnt zur Entlastung seines Gewissens bereits in den ersten Novembertagen den verlockenden Werbeanweisungen bezüglich der rechtzeitigen Erledigung des Kaufs von Weihnachtsgeschenken Folge zu leisten. – Mit »Sie haben gut gewählt« loben die Werbefachleute schnelles Handeln. – Wie schön, dass geschulte Werbefritzen für uns einfache und ahnungslose Menschen so weitblickend und liebevoll mitfühlend vorausdenken. Dennoch sei die vielleicht naïve Frage erlaubt: Wann endlich können und dürfen weihnächtlich mit Dschingklbällsgedudel eingelullte und freundlich gemolkene Festaspiranten erleben, dass gassenhauerisches Werbegeschrei und hampelhafte Vermarktung für ein lukratives Ostergeschäft gleich in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr anlaufen? Weshalb kommt denn niemand auf die Idee, dafür zu werben, dass der Santaclaus bunte Ostereier und Bunnyosterhäschen für einen zeitgeistgemäßen und gleichzeitig zukunftsträchtigen Christbaum mitbringt? Man hätte auf diese Weise doch klar zwei Fliegen mit einem Schlag.
Doch nun im Ernst:
Die beiden Oberkochener Brüder Josef und Rupert Prosser, einst vom Böhmerwald gekommen, seit vielen Jahrzehnten im Nelkenweg in Oberkochen zuhause, haben durch äußerst ausgefallene Spenden fürs Heimatmuseum dazu beigetragen, dass wir in die ihrem Ursprung nach besinnlichen Tage vor Weihnachten, die auch zu den letzten des alten Jahrs gehören, nicht kitschige Scheinheiligkeit sondern den herben Hauch vergangener echter Wirklichkeit in die Erinnerung zurückrufen können, sofern wir uns dafür zu öffnen bereit sind. Am Rande ahnen wir gleichwie, dass Millionen von Mitmenschen nicht danach gefragt werden, ob sie sich für die Wirklichkeit öffnen wollen oder können, — - — die Wirklichkeit bricht über sie herein und rollt gnadenlos über sie hinweg.
Das »Sich-Erinnern« kommt, wie kürzlich auch Pfarrer Marstaller in seinen Worten zum Volkstrauertag auf dem Gemeindefriedhof ausführte, immer mehr aus der Mode. Als Jahrgang 1935 erinnere mich sehr wohl, dass unserer Familie 1946 oder 1947 in Stuttgart auf fast unerklärliche Weise aus irgendeinem Himmel von irgendwoher in der Welt ein sogenanntes »CARE«-Paket von uns unbekannten aber offensichtlich wohl gesonnenen Menschen ins Haus kam. Ich sehe noch heute wie aus dem Paket eine wie von Zauberhand dorthin gekommene Schokoladetafel in etwas ungewöhnlicher Größe herauskam. »Hersheys« stand drauf. Sowohl die CARE-Paket-Schachtel (»Liebesgabe«) als auch die Firma Hersheys gibt es noch heute. Aber diese unbeschreibliche Freude über eine einfache Tafel Schokolade, – ob es die heute noch gibt? Und dabei käme es doch gerade auf diese unbeschreibliche aber unkäufliche Freude an.
Im Heimatbuch auf Seite 202 und unseren BuG-Berichten 502 und 529 (Suchmaschine) haben wir über das »Kaffeewunder« von 1945 berichtet. In unserem heutigen Bericht geht es zunächst um »Trockenmilch«. –
Von Josef Prosser, der uns weit ausholend von seinen packenden Kriegserlebnissen berichtete (…wen interessiert das heute noch?…) erhielten wir u.a. ein Erinnerungsstück aus diesen unmittelbaren Nachkriegs-Jahren: Eine hervorragend erhaltene ziemlich große Blechdose (Höhe 17 cm, Durchmesser 15 cm) mit folgenden Aufschriften:
NONFAT DRY MILK – DONATED BY THE PEOPLE OF THE UNITED STATES OF AMERICA – NOT TO BE SOLD OR EXCHANGED – NET WEIGHT 4 ½ POUNDS
Übersetzt: Nichtfette Trockenmilch – geschenkt vom Volk der Vereinigten Staaten von Amerika – darf weder verkauft noch vertauscht werden – Nettogewicht: 4 ½ Pfund.

USA-Nachkriegshilfe für Deutschland: Amerikanische Trockenmilch-Büchse (4 ½ Pfund)
Herr Prosser erinnert sich daran, dass er diese Büchse, natürlich voll und geschlossen, von Josef Marschalek erhalten hat. Herr Marschalek, später lange Zeit SPD-Gemeinderatsmitglied in Oberkochen, hatte bald nach Kriegsende Zugang zu derlei »Mangelwaren«, die von den USA zur Weiterverteilung an Deutsche Firmen gegeben worden waren. 4 ½ Pfund Trockenmilch waren damals kostbares Nahrungsmittel für lange Zeit. Das können (oder wollen) wir uns heute kaum noch vorstellen. Und dies genauso wenig, wie die Tatsache, dass ich noch Ende der Vierzigerjahre als wertvolle am Mund abgesparte opfergabenähnliche Geschenke zu meiner Konfirmation erhalten habe: Mehl, Eier und Zucker von Freunden, damit Mutter Kuchen backen konnte. – 4 Jahre nach dem 2. Weltkrieg. Heute darf’s fast schon ein Auto sein. – Aber das macht erst Sinn, wenn man den Führerschein mit 15 oder besser gleich ich den Kinderwagen geliefert kriegt…
Josef Prossers Bruder Rupert, der über das Architekturbüro Kenntner als Bauleiter sowohl bei Umbauten der Katholischen als auch der Evangelischen Kirche tätig war, stiftete dem Heimatverein den Teil des Werks einer Vorgängeruhr der Katholischen Kirche, das wir hier abbilden. Das Werk lag obenauf auf einem für die Abfuhr bereitgerichteten Bauschutthaufen und wurde von Herrn Prosser »gerettet«.

In die 4 Himmelsrichtungen weisendes Uhrzeigerwerk einer alten Oberkochener Kirchturmuhr
An den alten Dachreitern oder dem erst 1953 gebauten Turm der Evangelische Kirche gab es übrigens nie eine Uhr, mit der Begründung, man habe ja die große Uhr vom höheren Turm der Katholischen Kirche. –
Was hat die Uhr mit Weihnachten und dem zu Ende gehenden Jahr zu tun? Wir sehen diesen technischen Teil einer alten Oberkochener Kirchturmuhr, der die in die vier Himmelsrichtungen weisenden Zeiger bewegte, symbolisch für die zerrinnende Zeit, die Erinnerungen einerseits festhält und andererseits vergessen lässt. Es liegt an uns, was wir aus diesen Möglichkeiten machen.
Auch die Übungs-Handgranate aus dem 2. Weltkrieg, im Oberkochen der ersten Hälfte der Vierzigerjahre gefertigt bei der Firma Bäuerle, erhielten wir von Hubert Prosser fürs Heimatmuseum als wertvolles örtliches Dokument für den weiteren Museumsausbau, in dessen Rahmen wir – wie bekannt – endlich auch die Dokumentation der beiden Weltkriege, Oberkochen betreffend, planen.

Übungshandgranate, gefertigt in der Oberkochener Holzbearbeitungswerkzeugmaschinenfabrik Bäuerle. Original-Blech-Etikett. 2.Weltkrieg (1939 – 1945)
Picasso hat 1937 das Bild einer in Schmerz zerrissenen Mutter gemalt, die, aus Anlass einer Hochtzeit festlich geschmückt, die Nachricht erhält, dass ihr Sohn im Spanischen Bürgerkrieg gefallen ist. – Nur wenige können bis heute verstehen, weshalb Picasso das Gesicht dieser Frau so fürchterlich zertrümmert hat. Auch Ephraim Kishon nicht. Er wollte das Bild, das ich ihm, weil er es in einem seiner Bücher angriff, vor 25 Jahren zu erklären versucht hatte, einfach nicht verstehen. Er meinte nur, Kunst müsse schön sein. – Wieviele Mütter haben im Zweiten Weltkrieg erfahren, – dass der Sohn am Heiligen Abend oder an Weihnachten gefallen ist. Oder sie erfahren es heute oder morgen… und zerbrechen daran.
Ein Zeitungsausschnitt von der Kocherzeitung vom 31. Juli 1914, den wir wiederum von Josef Prosser erhielten, erinnert uns daran, dass weniger als 30 Jahre vor dem 2. Weltkrieg bereits der 1. Weltkrieg unermessliches Leid gebracht hat – trotz des heute wie höhnisch wirkenden Fettdrucks:
Die Herren Ortsvorsteher werden beauftragt, die Erklärung in dem angeschlagenen Wortlaut sofort und soweit dies geschehen kann, unter Trommelschlag und Trompetenschall ausrufen zu lassen.
Aalen, den 31. Juli 1914 – Oberamtmann: Richter

Zeitungsausschnitt –Kocher-Zeitung“ vom 31. Juli 1914 – –Erklärung des Kriegszustands“ und –Mobilmachung“
1. Weltkrieg (1914 – 1918)
Die Mitglieder des Heimatvereins sehen eine wichtige Aufgabe darin, derlei Dokumente nicht, wie es heute fast üblich geworden ist, wegzuwerfen, zu vergessen, oder, was noch viel fataler ist, hinwegzuwissen, – sondern vielmehr dafür zu sorgen, dass uns bewusst bleibt, dass unsere Vergangenheit Teil unserer Gegenwart ist, und vor allem, dass wir es uns nicht leisten können, vor lauter leise gehaltenem Wohlstandsgrunzen zu vergessen, dass auch unsere Zukunft in der Vergangenheit wurzelt. Andererseits ist lautes Jammern modern, auf dass niemand merkt, dass, und wie gut es uns geht.
Weihnachten und der Beginn des Neuen Jahrs sind allen Modernitäten zum Trotz besonders dafür geeignet, sich zu diesen Gegebenheiten nicht nur Gedanken zu machen, sondern diese auch in unser Denken und Handeln einwirken zu lassen.
Das ist ein Weihnachtswunsch des Heimatvereins Oberkochen.
Dietrich Bantel