Während der letzten Wochen konnte man ihn endlich wieder sehen, den Schäfer, der mit seiner riesi­gen Herde über Oberko­che­ner Gemar­kung zieht und sich in seinen langen dunklen Mantel gehüllt wie eine bewegungs­lo­se Statue offen­sicht­lich im Frieden mit sich selbst und der Welt auf seinen Schäfer­stab mit der Schip­pe dran stützt.

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Schäfer Paulus mit seinen beiden Assistenten

Nur noch selten zitiert man verein­zelt den Aberglau­ben unserer Vorfah­ren »Schäf­lein zur Linken, wird Glück uns noch winken. Schäf­lein zur Rechten, gibt’s noch was auszu­fech­ten«. – Mit dem Aberglau­ben sind uns auch viele andere Überlie­fe­run­gen, Sitten und Gegeben­hei­ten, die uns mit dem, was vor uns war und uns im Grunde genom­men damit verbin­den sollte, aus dem Bewusst­sein genom­men, vor allem auch der gewach­se­ne heiße Draht zur Natur und den Tieren. Es ist die Zeit der »lilafar­be­nen Kuh« und des digita­len Erlebnisses.

Unser Schäfer heißt Jürgen Paulus, kommt aus Mittel­fran­ken und ist als Schäfer verant­wort­lich für die 400 Schafe von Ulrich Feil aus Leinro­den. Unser Foto zeigt einen Teil der riesi­gen Herde über dem Balle-Kreuz auf den anstei­gen­den Wiesen unweit der Kneipp­an­la­ge unter dem Langert­stein im vorde­ren Wolfert­s­tal. Man sieht über die Kneipp­an­la­ge hinüber zu den Punkt­häu­sern in der ersten Spitz­keh­re der Heide­stra­ße und den Ort dahinter.

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Teil der 400 Schafe zählen­den Herde auf der Langert­hal­de überm Balle­kreuz im Wolfertstal

Ab April zieht er mit dieser großen Herde übers Land, bis plusmi­nus Novem­ber, besser: solang es die Witte­rung eben zulässt, also bis spätes­tens wenn der erste richti­ge Schnee fällt, hin und wieder also auch erst im Dezem­ber. – Den Winter über werden die Schafe im Stall gefüttert.

Schon sein Großva­ter war Schäfer. Schäfer ist einer der Berufe der immer rarer wird, wobei ihn, wenn auch selten, neuer­dings auch Frauen ausüben – ein Beruf, der härter ist als er auf Unwis­sen­de wirkt, denn die Schip­pe ist nicht nur dafür da, dass man sich auf sie gestützt ins Grüne träumt, – mit dem Haken muss auch eine Schäfe­rin die Tiere gegebe­nen­falls einfan­gen und umlegen können, – das sind schnell mal 100 Kilo, die bewegt werden müssen.

In der Regel hat Jürgen Paulus zwei von insge­samt vier vom ihm selbst abgerich­te­te Hunde, altdeut­sche Hütehun­de, bei der Herde. Diese reagie­ren auf kurze präzi­se Komman­dos und halten die Herde mit den richti­gen Befeh­len über weite Strecken hin und her rasend mühelos zusam­men. Das Erleb­nis, die Herde dorthin zu bekom­men, wo sie der Schäfer haben möchte, scheint ihnen richtig Freude zu machen. Nachts sind die 400 Schafe ohne Hunde im Pferch, der Schäfer übernach­tet in Leinro­den. – Die Wildschwei­ne, die derzeit unseren Fluren in übler Weise zuset­zen, machen den Schafen nichts. Dagegen ist dem Schäfer gar nicht wohl bei dem Gedan­ken, dass der Wolf wieder im Vormarsch auf unsere Breiten ist, und dass daran gedacht ist, auch den Luchs wieder auszu­set­zen und allmäh­lich heimisch zu machen.

Die über Genera­tio­nen erfolg­te Bewei­dung unserer Landschaft auf der Ostalb hat in vielen Landstri­chen zu einem Landschafts­cha­rak­ter geführt, der immer mehr Selten­heits­wert hat, und der, wenn er durch Nicht­be­wei­dung oder durch falsche Pflege vernach­läs­sigt wird, in relativ kurzer Zeit durch Waldüber­wuchs verschwin­det oder verschwin­den würde. – So sind unsere berühm­ten Wachol­der­hei­den, beispiels­wei­se auf dem Volkmars­berg, keine natür­li­chen Landschaf­ten, sondern solche, die durch die Bewei­dung durch Schafe so gewor­den sind – im Grunde genom­men also »künst­li­che Landschaften«.

Das heimat­kund­lich sehr aktive Mitglied des Schwä­bi­schen Albver­eins, Oberpost­in­spek­tor Joseph Mahler, Mitin­itia­tor des nach seinem Tod gegrün­de­ten Schnee­lauf­ver­eins, setzte durch, dass über die Natur­schutz­ab­tei­lung des Landes­denk­mal­amts Teile des Volkmars­bergs 1925 als »Wachol­der­bann­ge­biet« ausge­wie­sen und bald darauf unter Natur­schutz­ge­biet gestellt wurden. 1927 folgte der Kocher­ur­sprung. Im nächs­ten Jahr werden es 75 Jahre, dass spezi­ell »der Berg« und seine Wachol­der­hei­den unter Natur­schutz stehen.

Der Besit­zer »Stadt« muss für die Erhal­tung der altge­wach­se­nen Wachol­der­hei­den auf dem »Berg« zeich­nen. Würde er nicht, wie über Jahrzehn­te, vor allem ab der Sechzi­ger­jah­re gesche­hen, laufend von der Holzma­cher­grup­pe des Schwä­bi­schen Albver­eins, dem Staat­li­chen Forst, dem NABU, einige Jahre auch von inter­na­tio­na­len Jugend­grup­pen (IJGD) und neuer­dings, da die SAV-Holzma­cher alt gewor­den sind, erfreu­li­cher­wei­se von den Auszu­bil­den­den der Firma Carl Zeiss in einer Art Paten­schaft unter fachmän­ni­scher Anlei­tung gepflegt und der Waldwuchs zurück­ge­schnit­ten, so wären die Heide­flä­chen schnell vom Waldwuchs »aufge­fres­sen«. Dieses Jahr fand der Pflege-Einsatz Anfang Novem­ber statt. Die Stadt »revan­chiert« sich bei den ehren­amt­li­chen Helfern mit einem zünfti­gen Kalorienersatz.

Es muss klar gesagt werden, dass auch die 400 Schafe des Schäfers Paulus ihren angestamm­ten über Jahrhun­der­te getätig­ten Beitrag einer natür­li­chen Pflege dieser unnatür­li­chen Landschaft beitra­gen, vor allem, nachdem man in Oberko­chen zu Beginn des 19. Jahrhun­derts von der Viehwei­de auf Stall­hal­tung und bezüg­lich »Berg« auf Schaf­be­wei­dung umgestellt hatte.

Auch die für »den Berg« so typischen sich bereits in Boden­nä­he in zehn und mehr kräfti­ge Stämme sich verzwei­gen­den Buchen, die sogenann­ten »Hutebäu­me«, (Hut = Weide) häufig solitär oder am Waldrand wachsend, sind Ergeb­nis­se der Bewei­dung. Das junge Buchen­laub wurde von den Schafen immer wieder abgefres­sen, sodass nicht der Regel­baum mit einem Stamm entstand, sondern der nachschie­ben­de Wuchs, weil der Haupt­trieb abgefres­sen wurde, ständig neue Neben­trie­be schob, die sich dann irgend­wann zwar behaup­ten und weiter­wach­sen konnten – aber eben in der uns vertrau­ten Form der bis zu zehn- und mehrstäm­mi­gen wunder­schö­nen mächti­gen und imponie­ren­den Wachol­der­hei­de­hu­te­bu­chen, wie sie unser altes Foto von Hans Liersch vom »Berg« aus den Achtzi­ger­jah­ren zeigt.

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Durch Schaf­ver­biss veräs­telt gewach­se­ne Buche (sogenann­te »Hutbu­che«) auf dem »Berg«

Das Entste­hen von »Hutebäu­men« kann auch durch das Ausschla­gen präzi­ser durch Austrei­ben von Stöcken bedingt sein.

Im Falle »Berg« ist wie gesagt die Stadt für die Pflege der Wachol­der­hei­de verant­wort­lich. Die Landwir­te, denen das übrige auf unserer Gemar­kung bewei­de­te Land gehört, – Trocken­ra­sen, Wachol­der­hei­de, Schief­la­gen, und landwirt­schaft­lich nicht nutzba­re Steil­hän­ge, – erhal­ten, so der Schäfer, Pacht­aus­gleich. – Die Frage, ob es heute noch den früher üblichen Hammel fürs weihnacht­li­che »Hamme­l­es­sen« der Gemein­de­rä­te gibt, konnte vom Schäfer nicht klar beant­wor­tet werden. Schon zu Zeiten von Bürger­meis­ter Gustav Bosch, der diesen verbin­den­den Brauch in Oberko­chen einge­führt hatte, gab es einen symbo­li­sche »Gemein­de-Hammel« anstel­le der Bezah­lung einer Pacht. – Bürger­meis­ter Peter Traub bestä­tig­te auf Anfra­ge: (Zitat) »Sowohl die Stadt als auch die Landwir­te bekom­men jeweils einen Hammel als symbo­li­sche Pacht. Der Gemein­de­rat verspeist seine »Pacht« alljähr­lich im Dezem­ber nach der Haushalts­ein­brin­gung und die Landwir­te im Januar, also zu Beginn des Neuen Jahrs.« – So kann wie in alten Zeiten gesagt werden: »Jetzt gangat die Hammel wieder zom Hammelessa«.

Der Schaf­hal­ter ist beim gemein­de­rät­li­chen Hamme­l­es­sen, das im »Pflug« statt­fin­det, immer mit dabei. Dort wird der Hammel anerkann­ter­ma­ßen hervor­ra­gend zuberei­tet – er »hammelt« nicht. Der Schäfer hält stets ein paar überle­ge­ne leise Weishei­ten wohlfeil – wie jener Schäfer auf dem Härts­feld, der einst einer Gruppe von HVO’lern auf die Frage, wie das Wetter bei den soeben aufzie­hen­den Wolken sich entwick­le, antwor­te­te: »Wenn’s so bleibt, wie’s jetz grad isch, nao reagnats heit nemme«. – Antwor­ten dieser Art machen einen schwä­bi­schen Schäfer aus. Auch Herr Paulus hielt, wie man sehen wird, für mich zum Abschied eine knizze Weisheit bereit.

Für den Schäfer gibt es 14 bis 15 Stunden dauern­den Tage, (60 bis 70 Stunden-Wochen) wobei dann, umgerech­net ein Stunden­lohn heraus­schaut, der – aller­dings bei freier Kost und Logie – deutlich unter dem heute heiß disku­tier­ten »Mindest­lohn« liegt. Klartext: Unter 5,– Euro in der Stunde.

Die Antwort auf meine Frage, ob sich das Scheren heute noch lohnt, war nüchtern: »Was für die Schur bezahlt wird, reicht gerade dafür aus, um den, der schert, den Scherer, zu bezahlen«. –

Zu materi­el­lem Reich­tum kann’s also der beste Schäfer nicht bringen, denn der Lohn bewegt sich, Zitat, in einem Bereich, der »zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig ist«. – Eine Schäfer­s­chip­pe kostet heute 250,– Euro. Die unseres Schäfers wurde von W. Balle, Pommerts­wei­ler handge­schmie­det. Die Prägung in der Schip­pe lässt sich in der Vergrö­ße­rung des Fotos gut lesen. Als Jürgen Paulus als Schäfer anfing, zahlte er noch 50,– DM dafür.

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Schäfer­s­chip­pe des Schäfers Paulus

Der Lohn des Schäfers lässt sich anderer­seits schwer in Geldmen­gen messen. Zu seinem nicht bezahl­ba­ren Gewinn gehört nämlich, dass er viel Zeit hat, an wichti­ge, ihn und seine Mitmen­schen prägen­de überge­ord­ne­te Dinge und Fragen zu denken, die Zeitge­nos­sen, die lukra­ti­ve­re Berufe ausüben, nicht im Traum kommen. Das Schäfer­sein muss einem im Blut liegen, – man muss dafür geboren sein. – Welcher Nicht­schä­fer weiß beispiels­wei­se, weshalb ein Moslem nur Schaf- und kein Schwei­ne­fleisch isst? Fragen Sie Herr Paulus, – er weiß es und hat es mir erzählt. Auch den Trick, wie man die vielen sich ständig in Bewegung befind­li­chen Schafe zählt, beherrscht nur ein geübter Schäfer: Er zählt, nach Jacques Inaudi, die Füße und teilt durch vier.

Die Fotos und die ersten Auskünf­te für diesen Bericht stammen vom 31. Oktober, einem herrlich warmen blaube­him­mel­ten sonnig­bun­ten Herbst­tag. Weite­re Fragen beant­wor­te­te mir der Schäfer am 15. Novem­ber, einem gries­grä­mig grauen nasskal­ten und nebel­ver­han­ge­nen Trübherbsttag.

Am Schluss des Gesprächs bedank­te ich mich beim Schäfer für seine präzi­sen aber nicht gerade heraus­ge­spru­del­ten Auskünf­te, und versprach, ihm ein Amtsblatt zu schicken, für den Fall dass mein geplan­ter Bericht abgedruckt werde. »Aber bitte gleich den Rotstift mitschi­cken«, rief er mir nach.

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Schäfer Paulus mit Schäferstab

Dietrich Bantel

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