Das Wort »Schran­ne« begeg­ne­te mir zum ersten Mal vor über 60 Jahren. Ein attrak­ti­ves Mädchen, das bei der gleichen Lehre­rin Violin­un­ter­richt hatte, wie ich, und mit dem ich, von der Lehre­rin verord­net, ein Violin­du­ett einüben sollte, wohnte, wie ich schnell heraus­ge­fun­den hatte, in Stutt­gart-Vaihin­gen in einer Straße, die »In der Schran­ne« hieß. – Als ich sie nach der Bedeu­tung des Wortes »Schran­ne« fragte, erklär­te sie mir, dass das Wort etwas mit »Freimau­rern« zu tun habe – was sicher nicht leicht zu belegen ist: ich habe es nicht versucht. Ihr Vater war Freimau­rer. Und meiner war das nicht. Und meiner wollte außer­dem auch nichts von den Freimau­rern wissen – Freimau­rer seien nicht seine Schuh­grö­ße, – und auch das Mädchen nicht… Das war’s dann. Aus dem Duett wurde kein Duo – und die schöne Helga habe ich aus den Augen und dem Sinn verloren.

Ungefähr 10 Jahre später, ich war inzwi­schen Student auf der Staat­li­chen Akade­mie der Bilden­den Künste in Stutt­gart, begeg­ne­te mir das Wort »Schran­ne« in einer Vorle­sung im Zusam­men­hang mit alten Markt­plät­zen und Getrei­de­spei­cher­häu­sern wieder. Ich suchte das Wort in Vaters »Knaur« und fand: »Schran­ne« = Kornspei­cher. Im Duden »Die deutsche Recht­schrei­bung« von 1996 steht heute: Schran­ne = veral­tend für »Fleischer‑, Bäcker­la­den; Getrei­de­markt­hal­le; auch Markt oder Markt­hal­le«. – Laut Günter Grass also »Ein weites Feld«. – Auch im Zusam­men­hang mit »Gerichts­ge­bäu­de« begeg­ne­te mir das Wort. Laut dem Großen Duden, 1969, war eine »Schran­nen­ge­richt« ursprüng­lich dem altger­ma­ni­schen »Thing« ähnlich und wandel­te sich später in die Bezeich­nung für ein auf öffent­li­cher Straße statt­fin­den­des Gericht.

Vor ungefähr 25 Jahren kam ich mit einem älteren Bekann­ten meiner heuti­gen Heimat Oberko­chen ins Gespräch. Er wusste viel, vor allem zum Bereich »Holz«; und hatte deshalb den Beina­men »Holzwurm«. Der »Holzwurm« hieß Eugen Gentner und hatte einen Oberko­che­ner, der regel­mä­ßig zu Gast in den gemein­de­rät­li­chen sogenann­ten »Bürger­fra­ge­stun­den« war, um dort Fragen von mittle­rer Bedeu­tung zu stellen, »Schranna­fat­zer« genannt. – Derlei häufig eher wichtig­tue­ri­sche, gelegent­lich durch­aus auch richti­ge, wichti­ge und bissi­ge Anfra­gen wurden von den Presse­be­richt­erstat­tern stets begie­rig aufno­tiert, und die Frage­stel­ler durften andern­tags dann sicher sein, dass sie befrie­digt ihren Namen in der Zeitung lesen konnten. Weil Bürger­meis­ter Gentsch auf solche Anfra­gen stets ein aller­dings in der Regel wirkungs­los bleiben­des »Da guggat mr drnach« parat hielt, nannte ich diese Fragen »Da-guggat-mr-drnach-Fragen«.

Ich war Schul­meis­ter und damals noch wissbe­gie­ri­ges Mitglied im Gemein­de­rat. Auf meine bezüg­lich »Schranna­fat­zer« gestell­te Frage an den »Holzwurm« erklär­te mir dieser, dass man ziemlich früher dieje­ni­gen Bürger, die bei öffent­li­chen Gemein­de­rats­sit­zun­gen in einer Mischung aus Neugier und Inter­es­se als Zaungäs­te hinten im Sitzungs­saal saßen, um das Neues­te direkt von der Quelle weg zu erfah­ren, tatsäch­lich »Schran­nen­fat­zer«, oder genau­er »Schranna­fat­zer« genannt habe. Wenig später gab mir der »Holzwurm«, nachdem er Erkun­di­gun­gen einge­holt hatte, eine weite­re gute Infor­ma­ti­on zu diesem Wort, die bereits in Richtung dessen ging, was sich im Verlauf dieses Berichts als das heraus­kris­tal­li­sier­te, was wir später als »Bürger­aus­schuss« erken­nen werden.

Nun war es an der Zeit, diesem neuen Wort, in dem wieder mein alt-mitge­schlepp­tes und irgend­wie geheim­nis­vol­les Wort »Schran­ne« vorkam, das ich in diesem neuen Zusam­men­hang noch nie gehört hatte, ernst­haft nachzu­ge­hen. Auch stand die hübsche Helga mit ihrer Violi­ne wieder vor mir.

Inzwi­schen hatte ich natür­lich in Oberko­chen, das ja bis 1968 Dorf gewesen war, dazuge­lernt, dass man eine »Biertisch­gar­ni­tur«, bestehend aus einem ca. 2 Meter langen Tisch und zwei ebenso­lan­gen schma­len Bänken, jeweils mit einklapp­ba­ren Metall­fü­ßen, auch »Schran­nen­gar­ni­tur« nennt. – Offen­sicht­lich musste da irgend­wo ein Zusam­men­hang bestehen. Ich bohrte also weiter. – Und tatsäch­lich: Ganz früher, so erklär­te mir der Altbür­ger »Holzwurm«, habe man für diese am öffent­li­chen Wohl inter­es­sier­ten Bürger, »hinten« in den Sitzungs­saal hinein ganz einfa­che Bänke aufge­stellt, die aus einem Brett mit vier schräg nach außen gestell­ten Füßen bestan­den. »So wia’n’a’mr halt frihr sodde Benk ghet hot« – Und exakt diese Art von Bänken habe man einst als »Schran­nen« oder »Schran­nen­bän­ke« bezeichnet. –

Heute hat man’s leicht. Man kann das Wort »Schran­ne« einfach bei Google einge­ben und findet tatsäch­lich alle die bereits aufge­führ­ten Begrif­fe. Etymo­lo­gisch inter­es­sant ist, dass sich das Wort laut Google ursprüng­lich von dem italie­ni­schen Wort »scran­na« ablei­tet, – scran­na = Gerichts­bank, aber auch Bank, Fleisch- und Brottisch. Und Lager­hal­le. – Hier schloss sich der Kreis. – Spezi­ell im Schwä­bi­schen, also »bei oos«, wird der Begriff laut Google auch heute noch für eine Bierbank, bzw. Biertisch verwen­det. – Stimmt.

Entschie­den schwie­ri­ger wurden meine Nachfor­schun­gen im Zusam­men­hang mit dem zweiten Wortteil »Fatzer«. Auf die Frage, was ein »Fatzer« sei, bekam ich nämlich keine präzi­se Antwort. Die Befrag­ten Alten waren der glauben­den Meinung, dass das Wort mit »Fetz« zusam­men­hän­ge, und mit den »Schranna­fat­zern« insofern zu tun habe, als die bei den öffent­li­chen Sitzun­gen anwesen­den und mithö­ren­den Bürger von den öffent­li­chen Angele­gen­hei­ten immer ein bisschen mehr und dies vor allem immer ein bisschen früher als die anderen Mitbür­ger wussten, und, dass diese Zuhörer auf den hinters­ten Plätzen deshalb mit der Aura eines schwä­bi­schen »Fetzen« in der Bedeu­tung von »Schlitz­ohr« behaf­tet waren. »Schranna­fetza« also. – Aller­dings habe ich bei meinen Schran­nen-Unter­la­gen auch eine Notiz aus dem Jahr 1989, derzu­fol­ge Franz Wingert sen. mir auf meine Frage erklär­te, dass das Teilwort »fatzer« sich von »furzen« ablei­te (Sessel­fur­zer), was eher zu bezwei­feln ist – jeden­falls konnte ich keinen Beleg für diese Deutung finden.

Schranna­fat­zer = Schlitz­ohr könnte mögli­cher­wei­se ein wenig passen. Aller­dings scheint noch überle­gens­wer­ter, was mir ein Anglis­ten­kol­le­ge namens Gernot Stillen­burg einflüs­ter­te, nämlich, dass bei der bislang vorlie­gen­den Defini­ti­on eine Verbin­dung zu dem Begriff der engli­schen parla­men­ta­ri­schen »Backben­chers«, denkbar sei, was übersetzt etwas bedeu­tet wie »dieje­ni­gen, die auf den »hinte­ren« Bänken sitzen« — was wieder­um nicht unbedingt und direkt mit dem Inhalt des Worts »Hinter­bänk­ler« im Sinne von »Hinter­wäld­ler« zu tun hat.

Bemer­kens­wert ist, dass überra­schen­der­wei­se drei von mir befrag­te Vertre­ter bedeu­ten­der hiesi­ger öffent­li­cher und wissen­der Einrich­tun­gen zum Zeitpunkt meiner Frage, 1999, das Wort »Schranna­fat­zer« nicht kannten, — nämlich Frau Heidrun Heckmann, Museums­be­auf­trag­te vom Landrats­amt Ostalb­kreis, Kreis­ar­chi­var Bernhard Hilde­brand jr. ebenfalls vom Landrats­amt und Stadt­ar­chi­var Roland Schurig von der Stadt Aalen.

Hier mussten wohl »Ältere« weiterhelfen.

Aus dem Jahr 1999 liegt mir auch eine in dieser Richtung gehen­de einleuch­ten­de Akten­no­tiz aus einem Gespräch mit Hilde Wingert vor: Hilde Wingert, die Schwes­ter des genann­ten Franz Wingert sen., lange Jahre im Oberko­che­ner Gemein­de­rat, kennt den Begriff – anders als ihr Bruder – vom einsti­gen »Bürger­aus­schuss« her. Die Vertre­ter dieses Ausschus­ses saßen laut Hilde Wingert nicht am Ratstisch sondern »hinten« auf Bänken, die man »Schran­nen« nannte. Das Wort »Schranna­fat­zer« sei ein »Spott­na­me« gewesen. (Siehe »backben­chers« – »Hinter­bänk­ler«)

Beim Lesen des Tagebuchs meines vor über 100 Jahren verstor­be­nen Urgroß­va­ters bestä­tig­te sich Hilde Wingerts Aussa­ge. Der »Bürger­aus­schuss« ist ein heute, wie auch »Google« bestä­tigt, praktisch ausge­stor­be­ner kommu­na­ler gemein­de­rät­li­cher Beirat, der aus gewähl­ten Bürgern, häufig Sachver­stän­di­gen, bestand, die dem Gemein­de­rat mit beraten­der Stimme unter­stellt waren, gelegent­lich jedoch auch volles Stimm­recht hatten. Dem wäre nachzu­ge­hen. – Diese Form der Bürger­be­tei­li­gung findet man tatsäch­lich auch noch im Oberko­chen des begin­nen­den 20. Jahrhun­derts. Die Bürger­aus­schüss­ler unter­zeich­ne­ten die Gemein­de­rats­pro­to­kol­le links, die Gemein­de­rä­te rechts. – Diese Bürger, die von den Einwoh­nern der Gemein­den und Städte in eine Art kommu­na­len Beirat gewählt wurden, saßen, während der Gemein­de­rats­sit­zun­gen abseits der Gemein­de­rats­mit­glie­der »hinten«. Sie könnten, da sie sich in der Öffent­lich­keit mit Sicher­heit sehr wichtig vorka­men, indes mit ebenso­gro­ßer Sicher­heit hin und wieder entschie­den mehr gewusst haben als die gemei­nen Bürger im Dorf. Aus Gründen, die zwischen Neid und Anerken­nung lagen, mögen sie tatsäch­lich als eine Art »wichtig­tue­ri­sche Hinter­bänk­ler« angese­hen worden sein. In diesem Licht würde die Bezeich­nung »Schranna­fat­zer« eher etwas leicht Necken­des oder leicht Herab­wür­di­gen­des beinhal­ten. Hilde Wingert: »Spott­na­me«. – Davon gehe ich heute aus.

Oberkochen

Gemein­de­rats­pro­to­koll Oberko­chen vom 9.4.1903 – »Bürger­aus­schuss und Gemeinderat«

Hierzu eine nette wahre Geschich­te: Mein Urgroß­va­ter Dietrich Bantel (1831 — 1911) war Maler in Ebingen und Mitglied im Bürger­aus­schuss seiner Stadt. – Von ihm habe ich zur Erträg­lich­ma­chung von langwei­li­gen Schul­kon­ven­ten oder, ehrlich gesagt, gelegent­lich auch sich unnötig lang dahin­zie­hen­den Gemein­de­rats­sit­zun­gen, die Fähig­keit ererbt, diese gelegent­lich leider nicht vermeid­ba­ren Sitzungs-Längen durch das Ferti­gen von aus dem Unter­be­wuß­ten heraus entste­hen­den zeich­ne­ri­schen Gebil­den, die sich wie Telefon­krit­ze­lei­en über die Sitzungs­un­ter­la­gen wuche­ren, zu verkür­zen. Ich könnte ein ganzes Album damit füllen. – Diesel­be Fähig­keit beherrsch­te auch mein Freund Willi­bald Mannes, der wie ich bei den »Freien« im Gemein­de­rat war.

Und nun die Geschich­te: Mein Ebinger Bürger­aus­schuss-Urgroß­va­ter zeich­ne­te einmal wieder. Das war noch im 19. Jahrhun­dert – während der Sitzung. Da überreich­te ihm sein Neben­sit­zer, ein gehobe­ner Apothe­ker und ebenfalls Mitglied im Bürger­aus­schuss, während der Sitzung einen Zettel, auf den er geschrie­ben hatte:

»Wer Zeit für solche Dinge hat, der sorgt nicht gut für’s Wohl der Stadt« –

was meinen Urgroß­va­ter wohl kaum daran hinder­te, seine Kritze­lei­en in aller Ruhe fortzu­set­zen, denn vom Apothe­ker, den er gesund­heits­mä­ßig nicht benötig­te, hielt er nicht viel. – Diesen histo­risch verbrief­ten Vorgang beschrieb ich so ums Jahr 1975 herum in wenigen schrift­li­chen Worten meinem neben mir sitzen­den und ebenfalls gerade zeich­nen­den Freund Willi­bald Mannes und schob ihm meinen Zettel mit der Kurzge­schich­te samt Apothe­ker-Gedicht zu. Nach wenigen Minuten kam der Zettel zurück mit der sich auf das über 100 Jahre alte Gesche­hen bezie­hen­den Ergänzung:

Oberkochen

Zeich­nung meines Urgroß­va­ters »Hund auf Schran­ne« (ca. 1882)

»Der eine malt, der andre dichtet – beiden ist das Wohl nicht wichtig, – richtig?«

Wenn schon – wie im Falle Bantel/Mannes – in die Verant­wor­tung gewähl­te echte Gemein­de­rä­te solche Dinge treiben, – wie mag es erst bei den Mitglie­dern des Bürger­aus­schus­ses zugegan­gen sein. – Deshalb neige ich eindeu­tig zu der zuletzt beschrie­be­nen Inter­pre­ta­ti­on des Worts »Schranna­fat­zer«. Mit »Schranna­fat­zer« können nur mehr oder weniger fähige laus- bis spitz­bü­bi­sche, gelegent­lich wohl aber auch wichtig­tue­ri­sche auf Bänken im hinte­ren Bereich des Sitzungs­saa­les hocken­de Bürger­aus­schuss-Mitglie­der gemeint sein.

Dietrich Bantel

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