Mit Wirkung vom 2. Mai 1962 — also genau vor 50 Jahren — wurde ich per Erlass vom Oberschul­amt Stutt­gart dem Progym­na­si­um Oberko­chen »zugewie­sen«. — Bürger­meis­ter Bosch und Schul­lei­ter Schrenk sorgten dafür, dass ich gleich von allem Anfang an — wie das damals für Schul­meis­ter üblich war — mit verschie­de­nen Beiträ­gen in »Bürger und Gemein­de« in die Öffent­lich­keits­ar­beit meiner neuen Heimat einbe­zo­gen wurde. So wurde der Grund­stein für nunmehr 50 Jahre perma­nen­te Mitar­beit im Amtblatt »Bürger und Gemein­de« gelegt.

2. Mai 1962
Mit Erlass des Oberschul­amts Nordwürt­tem­berg vom 17. April 1962 wurde ich als 27 Jahre alter Referen­dar dem Progym­na­si­um Besig­heim am Neckar zugeteilt — oder »zugewie­sen«, wie das richti­ge Amtsdeutsch lautet. — Als ich am 1. Mai mit meiner Verlob­ten braun­ge­brannt und unrasiert und vor allem pünkt­lich vom Skifah­ren aus Südti­rol nach Hause kam,- »nach Hause« war für mich noch Stutt­gart,- erfuhr ich jedoch, dass ich den Dienst bereits am nächs­ten Tag, dem 2. Mai 1962, nicht in Besig­heim, sondern am Progym­na­si­um in Oberko­chen auf der Ostalb antre­ten solle. — So schnell wurde man damals noch »beför­dert«. -

Ich wollte zuerst an einen Scherz glauben. Auf der einen Seite war mir nämlich dieser Ort theore­tisch gar wohl vertraut, weil mein Bruder dort seit 2 Jahren bei Carl Zeiss arbei­te­te, auf der anderen aber wähnte ich das Dorf, da nie dort gewesen, an der Grenze der Kultur halbwegs in Russland gelegen, denn noch im Zweiten Weltkrieg lag Aalen aus Stutt­gar­ter Sicht genau genom­men im mittle­ren Osten, und hinter Aalen begann Sibiri­en. Auf meiner kleinen Karte, auf der ich den Ort suchte, war in dieser Gegend um Aalen tatsäch­lich nur Gebüsch eingezeichnet.

Meinen Bruder bemit­lei­de­te ich jeden Sonntag­abend, wenn er mit dem Zug so gegen ½ 9 h in Stutt­gart Richtung Ferner Osten wegfah­ren musste, um so gegen 10 h, mitten in der Nacht, in Aalen zu sein — Aalen, wie entsetz­lich das in einem Stutt­gar­ter Ohr damals klang — um wie gesagt in Aalen den letzten Zug oder Bus nach Oberko­chen zu errei­chen. — Böse Zungen behaup­ten, dass das heute, 50 Jahre danach, noch immer so sei.

Mein alter verehr­ter Stutt­gar­ter Geogra­fie-Lehrer vom Dillmann-Realgym­na­si­um, der damals umgehend hatte wissen wollen, wohin ich käme, wenn es dann soweit sei, und dem ich den Ort »Oberko­chen« bei nächs­ter Gelegen­heit mit neutra­ler Stimme am Telefon genannt hatte, sagte nach einer Pause, während der er nach Luft schnapp­te, bedeu­tungs­voll, zunächst: »Oh Bua«, und nach einer weite­ren vielsa­gen­den Pause sagte er : »aber wenigs­tens« — Nur mein Vater, lebens­lang ein Vereh­rer der Schwä­bi­schen Alb, kommen­tier­te begeis­tert »Hockt der Sauker­le doch mitta en mein Urlaub nei«.

Im Dampf­zug reiste ich also nach Aalen — da gab’s noch keine Oberlei­tun­gen mit Strom darin­nen. Umstei­gen in Aalen — und weiter Richtung Heiden­heim in eine unbekann­te Einsam­keit…. Aber hinter Aalen geschah ein Wunder: Ein rumpe­li­ger Bummel­zug dampf­te mich in ein immer schöner werden­des frühlings­grü­nes, von bewal­de­ten Bergen einge­säum­tes weites Tal. Sonne. Blauer Himmel. Wahrlich — ich empfand, just, wie mein Vater angekün­digt hatte, dass ich in die Ferien fahre. Die Ferien…. genau damit hatten mich meine Klassen­ka­me­ra­den und Freun­de, meine Berufs­wahl kommen­tie­rend, auf die Schip­pe genom­men: »Dr Bantl hat sich für die Ferien-Branche entschie­den«, hieß es … »haahaa«. — Jahrzehn­te später dann sagte ich ihnen. »Wärscht halt au was Rechts gworda«, und rechne­te ihnen, sie nun meiner­seits foppend, vor, dass bekannt­lich ein Lehrer-Gehalt viel zu klein sei, um die vielen Ferien auch standes­ge­mäß verbrin­gen zu können. –

Bald kam ich im Ferien­dorf Oberko­chen an.

Vom Bahnhof Oberko­chen musste ich zuerst Richtung Dorf wandern mit meiner großen Tasche. Linker­hand in der Nähe einer Brücke klebte eine halb auf dem Gehweg stehen­de Holzbu­de an einem Haus. Das war — aber das wusste ich damals natür­lich noch nicht — die »Enepez« — Dort kaufte ich mir eine Zeitung. Eine Dorfmit­te war zwar nicht erkenn­bar, wenngleich es offen­bar notwen­dig war, dass ein riesen­lan­ger dürrer in der Haupt­stra­ße stehen­der Polizist den Verkehr im Dorfe regel­te. Das war aber bloß wegen dem Zeiss; und bei dem Polizis­ten, der den Zeiss­ver­kehr zweimal am Tag regel­te, handel­te es sich um den »Nickel«, wie ich später erfuhr.

Ein paar Bauern zogen kleine einach­si­ge Karren mit großen offen­sicht­lich leeren Milch­kan­nen drauf durch den Ort, — wahrschein­lich von der Molke kommend. Von irgend­wo­her muhte es aus einem Stall heraus. Das Rathaus erkann­te ich nur, weil das Wort in golde­nen gotischen Buchsta­ben auf dem dunkel­rot gestri­che­nen unschein­ba­ren Gebäu­de stand. — Von dieser gedach­ten Ortsmit­te ging‘s am »Rössle« — heute Kocher­tal­apo­the­ke — vorbei rechts ab das sogenann­te Dreißen­tal hinauf Richtung Progym­na­si­um zum »Bergheim«. »HJ-Heim« hieß es noch Jahre später bei den Alten. Vom Zeiss habe ich fast nichts gesehen an diesem ersten Tag. Dafür ahnte ich ferien­ak­ti­ve schöne dampfen­de und wohlig duften­de mächti­ge Misthau­fen. Und schöne Gärten.

Zwei Buben kamen mir entge­gen; der eine war, wie ich schon am nächs­ten Tag erfuhr, der Fried­helm Brach­mann aus meiner mir ab dem nächs­ten Tage zugeteil­ten 2b, 6b in heuti­ger Zählung. Diese Jungen fragte ich, wie ich zum »Bergheim« komme, was ich perfekt erklärt erhielt. — »Des war beschdemmt der Nuije«, hörte ich’s hinter mir im Weiter­ge­hen tuscheln.

Das »Bergheim« war ein Gedicht von Schule — echt voll nach meinem Geschmack. Das richtig gemüt­lich wirken­de Gebäu­de erinner­te mich an eine Jugend­her­ber­ge. Dunkel geölte und danach riechen­de Bretter­die­len­bö­den. Im unteren Gang stand ein großer grauer Schrank, und links führte eine knarren­de Holztrep­pe in den 1. Stock. Auf dieser kam gerade ein in meinen Augen ältli­ches Fräulein, herun­ter — es musste einfach ein Fräulein sein, — und es war auch eines, wie ich bald erfuhr, — nämlich das Fräulein Ulrich. Das Fräulein Ulrich wies mich trepp­auf­wärts und zeigte mir das Rekto­rat, an dessen Tür ich klopfte.

Eine Stimme, die mich die nächs­ten Jahrzehn­te beglei­ten und gelei­ten sollte, hieß mich einzu­tre­ten — und vor mir stand ein riesi­ger freund­lich wirken­der Mann namens Schrenk, der fast das gesam­te winzig kleine Rekto­rat ausfüll­te. Akten‑, Hefte- und Bücher­sta­pel füllten den kleinen Rest des stuben­ähn­li­chen Direk­tor­zim­mers. Herr Schrenk war wirklich sehr nett. Er hatte von allem Anfang an einer­seits etwas Väter­li­ches und absolut Hilfrei­ches an sich — auf der anderen etwas durch­aus Bestim­men­des. Nach einigen offizi­el­len und persön­li­chen hin- und herge­wech­sel­ten Details führte mich der Schul­lei­ter ins Lehrer­zim­mer, — ein eher weiter aber niedri­ger von Holz bestimm­ter Raum, und stell­te mich den Kolle­gen vor, auf deren Tischen ein fröhli­ches Chaos herrsch­te. Das Lehrer­zim­mer selbst war von ein paar richti­gen Schul­meis­tern besie­delt, die sich durch nichts von meinen Kolle­gen an den Stutt­gar­ter Schulen unter­schie­den, — meist mit einst weißen Mänteln angetan, — dem Papa Hils, den Herren Krug, Thiem, Riegel, Schwab und dem Fräulein Ehmann. Es gab gleich an diesem ersten Tag auch einen ganz schwarz geklei­de­ten Mann, dessen schnei­di­ge Stimme kurz zu hören war. Das war der katho­li­sche Pfarrer Forster.

Oberkochen

Das Kolle­gi­um (Aufnah­me Foto Kristen vom Juni 1962) bestand vor 50 Jahren aus 8 Lehrkräf­ten und 4 Geist­li­chen.
Auf dem Foto sind vor dem Eingang zum Bergheim zu sehen, von links nach rechts, vorne, sitzend:
Pfarrer Forster, Haupt­leh­re­rin (HHT) Kunrath, Studi­en­rä­tin Ulrich, Studi­en­di­rek­tor Schrenk, Studi­en­as­ses­so­rin Ehmann, Vikarin Gradner, Pfarrer Geiger.
Von links nach rechts, hinten, stehend:
Studi­en­as­ses­sor Thiem, Studi­en­rat Hils, Studi­en­rat Krug, Studi­en­re­fe­ren­dar Bantel, Studi­en­as­se­sor Schwab, Studi­en­as­ses­sor Riegel, Vikar Grassel.

Abschlie­ßend wurde mir vom Schul­lei­ter noch erklärt, wo ich wohne. Das war gleich unten rechts an einem steilen Sträß­chen, das fast senkrecht hinab Richtung Dorf führte, und Turmweg hieß. Ich wohnte bei Willi­bald und Martha Schaupp. Das Fräulein Schaupp hieß Antonia sie lebt noch heute. Gegen­über war das kleine Café Weidl, in welches sich — wie ich schnell feststell­te, häufig nach ihren Sitzun­gen die Dame und die Herren des Gemein­de­rats begaben, zur sogenann­ten Nachsit­zung. Wenn die letzten von ihnen dann frühmor­gens mit heite­rem Gesang — der schon nächtens zu mir herüber­drang — beschwingt das Café Weidl verlie­ßen, war es dann Zeit für mich und die Schule. Spätes­tens wurde ich immer dann wach und musste aus dem Bett, wenn sich die Königs­bron­ner Schüler, deren Zug recht zeitig kam, angeführt von einem gewis­sen unüber­hör­ba­ren Bernd Weiler, den steilen Turmweg hinauf­kra­kehl­ten. Dann aller­dings musste es schnell gehen. — Aber in 3 Minuten war ich ja den Berg oben in der Schule. Häufig erleb­te ich, wie Schul­lei­ter Schrenk in den Schul­hof töffte und dann seinen dunkel­ro­ten Lambret­t­a­rol­ler, damit ihm nichts Unfug­mä­ßi­ges zusto­ße, ins Innere des »Bergheims« schob. (Foto)

Oberkochen

Wer die frühen Sechzi­ger als Progym­na­si­ums-Lehrkraft im »Bergheim« erlebt hat, kann sich mit Fug und Recht als zum Ursch­leim des späte­ren Gymna­si­ums Oberko­chen und des noch späte­ren EAGs gehörend betrach­ten. — Mit dieser Schule ist mir bald auch das Dorf und später die Stadt zur Heimat gewor­den — und bis heute geblieben.

Dietrich Bantel

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