Unser Mitglied Wilfried Müller, Jahrgang 1952, ist seit 1969 im Bereich »Organi­sa­ti­on« bei der Firma Leitz GmbH & Co KG tätig — schwer­punkt­mä­ßig: »Weltwei­te Einfüh­rung von kommer­zi­el­len EDV-Syste­men«. Er ist hausge­bo­re­ner Neu-Oberko­che­ner und hat als Urein­woh­ner vom Sonnen­berg unzwei­fel­haft bereits große altober­ko­che­ner Antei­le erwor­ben. Anläss­lich seines 60. Geburts­tags hat er sich selbst als Geburts­tags­ge­schenk, und uns als aus seiner Sicht zunächst Außen­ste­hen­de, zur Freude einen 3‑teiligen Bericht geschrie­ben, der uns in alte Zeiten zurück­ver­setzt, Zeiten, die stell­ver­tre­tend für die Geschich­te vieler Mitbür­ger nicht nur die eigenen Kinder­jah­re des Verfas­sers, sondern auch die Kinder­jah­re Oberko­chens auf dem Weg vom Dorf zur Stadt beleuchten.

Dietrich Bantel

Es war einmal — Kindheit und Jugend auf dem Sonnen­berg (Teil 2)

Oberkochen

Erster Schul­tag April 1959

1959 bis 1963
Die Jahre vergin­gen wie im Flug und es kam das Jahr 1959 in dem ich mit den späten 51ern und den 52ern einge­schult wurde. Es gab eine Mädchen- und eine Jungen­klas­se. Meine erste Klassen­leh­re­rin war Frau Erben, die ich wohl sehr mochte. Aber an diese beiden ersten Jahre erinne­re ich mich nicht sehr. Es muss die Zeit gewesen sein als wir den dicken fetten Pfann­ku­chen in »Peter­chens Mondfahrt« auf der Bühne der Dreißen­tal­hal­le spiel­ten. Ich glaube, dass unsere reizen­de Beate Wöhner der Pfann­ku­chen war. Hier begann meine Theater­kar­rie­re als »Teil einer Mauer« (dunkle Hose und weißes Hemd). Später hatte ich meinen Höhepunkt, unter Hartmut Müllers Führung, im Zeiss-Jugend­club auf den Zeiss-Brettern bei einer Lehrlingslos­spre­chung als feuri­ger ungari­scher Liebha­ber — JOI. Eindrück­lich waren hinge­gen die Jahre der Klassen 3 und 4 mit dem Lehrer Gunzen­hau­ser und dem Pfarrer Forster. Diese Zeit hinter­ließ bei manchen ihre körper­li­chen und seeli­schen Spuren. Es war die Zeit, als die Pädago­gie und Religi­ons­leh­re noch handgreif­lich ausge­übt wurde, um die viel geprie­se­ne Nächs­ten­lie­be auch zu prakti­zie­ren. Gelegent­lich musste Rektor Hagmann einschrei­ten, damit die körper­li­che Erzie­hung nicht über Hand nahm. Aber ich hielt das schon für schlimm genug, auch wenn ich kein gesuch­tes Opfer war. Das trauri­ge daran war, dass Kinder mit Lernschwä­chen nicht geför­dert, sondern bestraft wurden, indem sie jeden Morgen ihre »Tatzen« abholen mussten. Ich glaube, wir waren die letzte Klasse, die sich, auf Beschluss der Oberschul­di­rek­ti­on, noch mit Schrei­ben und Lesen der altdeut­schen Sprache zu beschäf­ti­gen hatte (natür­lich mit Feder­kiel und Tinte). Dadurch konnte ich zum ersten Mal die Post meiner Waldhäu­ser-Oma lesen und ich kann es noch heute.

Sobald ich lesen konnte, wurden Bücher meine Passi­on. Ich holte mir bei Helma Braun in der Ortsbi­blio­thek (heuti­ges Heimat­mu­se­um) den Ausweis mit der Nummer 7 ab und wurde in den Schul­jah­ren ein Stamm­kun­de, der sich für vieles inter­es­sier­te und die Bücher paket­wei­se heimschlepp­te und Fr. Braun oft sagte, dass ich nicht so viele Bücher auf einmal mitneh­men dürfe.

Woche um Woche verging, unter­bro­chen durch das Wochen­en­de und das hatte schon bald Kult-Charak­ter. Samstags war noch Schul- und Arbeits­tag (bevor die Gewerk­schaft zum Kampf aufrief »Samstags gehört Papi mir«). Papi hatte zwar Erfolg, aber ich gehör­te samstags immer noch für länge­re Zeit der Schule (Da hat die Gewerk­schaft wohl einen Fehler gemacht). Nach dem gemein­sa­men Mittag­essen war die Rollen­ver­tei­lung klar: Die Kinder kehrten ums Haus und die Straße, Vater putzte das Auto mit Hinga­be (das wir 1962 erstan­den hatten — einen ocker­far­bi­gen Ford Taunus 12 M mit dem KZ »AA-DD 66«). Ab 15:30 Uhr legte dann 1962 die Fußball-Bundes­li­ga los und überall kommen­tier­ten die Repor­ter aus den Radios hinaus auf die Straßen. Zwischen 17:00 Uhr und 18:00 Uhr wurde gebadet — im Keller in einer sehr großen Zinkba­de­wan­ne. Das Wasser wurde in einem Holzofen so lange befeu­ert, bis es so heiß war, dass alle baden konnten: Vater und wir Kinder nachein­an­der im gleichen Wasser (!) und danach Mutter in frischem Wasser (!). Das musste zügig von statten gehen, denn um 18:00 Uhr versam­mel­te sich die Familie vor dem Fernse­her, um die Fußball-Sport­schau zu sehen. Danach gab es Vesper, während­des­sen der Fernse­her ausge­schal­tet wurde. Unter­hal­tung war aber trotz­dem nicht angesagt, denn »beim Ässa schwätzt m’r net«. Das war einer der Sprüche, mit denen wir groß wurden. Ein anderer belieb­ter Spruch war »so lang Du Deine Füaß unter mein‘ Tisch strecksch, machsch Du was I sag« (Ha noi — das war dann schon die Grund­la­ge für späte­re familiä­re Revolu­tio­nen). Abwasch war bei uns Männer­sa­che und so beeil­ten wir uns, denn ab 20 Uhr war samstags wieder Famili­en-Fernseh-Zeit. Begin­nend mit der Tages­schau, gefolgt von den großen Shows mit Vico Toria­ni, Peter Franken­feld oder Kulen­kampff, bevor uns »Das Wort zum Sonntag« und die Lotto­fee ins Bett schick­ten. Sonntags ging es in die Kirche.

Die Engagier­ten gingen in die 9 Uhr Messe und die Spätauf­ste­her in die 10:30 Uhr-Messe, danach Mittag­essen, gefolgt von unwei­ger­li­chen Besuchen auf dem Härts­feld (entwe­der bei der Familie oder bei irgend­wel­chen Bauern, bei denen Mutter in der Nachkriegs­zeit genäht hatte). Da Vater vom Härts­feld stamm­te, war bei der dorti­gen Verwandt­schaft der Namens­tag (der Gedenk­tag des Namens­pa­trons) wichtig, im Gegen­satz zum Geburts­tag, der ein Schat­ten­da­sein führte. Und so mussten wir an jedem 6. Januar beim »Vatter Müller« mehr oder weniger antre­ten, das wurde erwar­tet, das war Pflicht, denn er hieß Kaspar und war ein Patri­arch, ein Clan-Chef, der seine Familie mit harter Hand auf dem harten Härts­feld führte. Diese Welt war für mich immer ein wenig fremd und trotz­dem anzie­hend. Auch hatte die Fahrt mit dem Auto hinauf nach Ebnat etwas Düste­res. Der Wald zwischen Unter­ko­chen und Ebnat war nicht so schön licht wie heute (das hat der Sturm »Lothar« komplett verändert).

Der ganze düste­re Tannen­wald rückte furcht­erre­gend ganz dicht an die Straße heran und beson­ders in den damali­gen Winter war es nicht ungefähr­lich, bei Schnee und Eis, am Dreikö­nigs­tag heil hinauf und wieder hinun­ter­zu­kom­men. Das Knusper-Knusper-Häuschen aus Hänsel und Gretel hätte gut in einen solch dunklen Tann gepasst.

Daneben gab es auch andere High-Lights: Den Fasching, die Garten­fes­te, das Kinder­fest auf dem Volkmars­berg, das Schüt­zen­fest beim Schüt­zen­haus, die Ausflü­ge mit dem Kegel­club zum Vater­tag und die jährli­chen Reisen nach Fulda.

Oberkochen

Fasching des Kegel-Clubs Sonnen­berg im Gast haus »Grube«

Fasching — das war in erster Linie am Rosen­mon­tag im Fernse­hen die Umzüge in Köln, Mainz und Düssel­dorf anschau­en. Dazu habe ich mich meistens als Tarzan oder Wyatt Earp verklei­det und mich von gefüll­ten Faschings­krap­fen ernährt. Eine Beson­der­heit waren die vielen Hausbäl­le in den Kneipen und in den Famili­en. Da ging es immer hoch her, ob im Café Muh, im Café Gullmann, in der Sonne, in der Grube oder bei Müller’s am Sonnen­berg. Es wurde gefei­ert was das Zeug hielt.

Zum Thema »Baden im Keller« ist noch ein Nachtrag erfor­der­lich. In diesem Raum wurde auch geschlach­tet und gewurs­tet, denn Hausschlach­tun­gen waren damals noch nicht verbo­ten und in dem Kessel, in dem sonst das Badewas­ser kochte, wurde an solchen Tagen die Metzel­supp‘ gekocht, die das Beste an der ganzen Schlach­tung war. Die Nachbar­schaft wurde einge­la­den und es wurde zünftig Metzel­supp‘ und Schlacht­plat­te aufge­tischt. Die Schlach­tung nahm damals der ortsan­säs­si­ge Metzger­meis­ter Engel­fried vor, ein staat­lich bestell­ter Fleisch­be­schau­er haute seinen Stempel auf die Schwei­ne­hälf­ten und dann wurde mit meister­li­cher Tatkraft gewurs­tet, einge­weckt, einge­d­ost und geraucht. Ein Graus ist mir bis heute das Grieben­schmalz geblie­ben, der Rest hat aber gut geschmeckt.

Sehr gerne mochte ich auch die Garten­fes­te. Der Auftakt war immer an Fronleich­nam mit Böllern und der Prozes­si­on zu den verschie­de­nen Blumen-Altären. Bereits Tage zuvor waren fleißi­ge Männer‑, Frauen- und Kinder­hän­de zu Gange, um die Blüten der Feld- und Wiesen­blu­men zu sammeln und zu schönen Bildern zu legen. Des Honik­els »Vinne« Vinzenz hat aufge­passt, dass wir Kinder beim Blumen­zupfen, mangels Begeis­te­rung, nicht ausbüx­ten. Nachmit­tags ging es dann auf die »Bäuerle-Wiese« (heute Wohnhäu­ser der Famili­en Bäuerle und Stelzen­mül­ler). Überhaupt fanden auf dieser Wiese die schöns­ten Feste statt. Ob das der Musik­ver­ein oder der Sänger­bund waren, hier war was los, hier spiel­te die Musik und wenn Fußball-EM-WM war, wurden die Spiele auch später live auf Fernseh­ge­rä­ten der Firma ELEKTRA übertra­gen oder das sensa­tio­nel­le Musiker­fest mit Umzug von 1952, dass von Albert Schlei­cher und Dr. Hans Schmid (Bruder von Josi Kurz) verfilmt und vertont wurde (der Film befin­det sich dank freund­li­cher Unter­stüt­zung der Schlei­cher-Kinder im Besitz des Heimatvereins).

Oberkochen

Kinder­fest 1961 oder 1962

Ein absolu­ter Renner war das Kinder­fest auf dem Volkmars­berg. Das Fest begann morgens mit Böller­schie­ßen und dem durch die Straßen ziehen­den Musik­ver­ein. Es starte­te offizi­ell mit den Gottes­diens­ten und einer anschlie­ßen­den Verlo­sung von kleinen Gaben der örtli­chen Geschäf­te in den Schulen für die Kinder. Nach dem Mittag­essen begann dann der große Umzug auf den Hausberg. Dort stimm­te Rektor Hagmann das Lied »Geh aus mein Herz und suche Freud« an und danach ging das Festen (für die Alten) und das Spielen (für die Jungen) los. Wir beschäf­tig­ten uns mit Eierlauf und Sackhüp­fen, mit Kissen­schlacht und Boxen, Fahrrad­fah­ren und Schwe­be­bal­ken und die Mutigs­ten stürm­ten die Kletter­bäu­me hinauf, um sich ihre Trophä­en zu sichern. Abends versam­mel­ten wir uns wieder am Waldes­rand an der Brunnen­hal­de um das Fest mit dem gemein­sa­men Lied »Kein schöner Land in dieser Zeit« ausklin­gen zu lassen. Heute würden die Eltern »die Krise« bekom­men, wenn sie sehen würden, was damals alles so abging. Ob Kasper­le, aller­lei Verkaufs­stän­de oder die berühm­ten Thürin­ger Bratwürs­te — es war »das Fest« in Oberko­chen. Dazu gibt es auch einen Film, der sich ebenfalls im Besitz des Heimat­ver­eins befin­det, der sehr zu empfeh­len ist.

Auch das Schüt­zen­fest beim Schüt­zen­haus ist mir als Kind sehr ans Herz gewach­sen. Fand es doch in »unserem Herrschafts­be­reich« statt. Es gab dort unter den Tannen eine Schieß­bu­de, die belieb­ten Bratwürs­te und abends spiel­te die Musik unter bunten beleuch­te­ten Girlan­den, wie das in den 50er Jahren so üblich war. Beson­ders mochte ich, wenn die Band die ganzen Hits von Billy Vaughn spiel­te wie das roman­ti­sche »Sail along silvery moon«. Unver­gess­lich dabei das musika­li­sche Spiel unseres Nachbarn Bruno Ditz aus der Weingartenstraße.

Oberkochen

Start eines Ausflugs des Kegel­club Sonnen­berg vor dem Haus Nr. 21

Am Vater­tag gingen die Väter des Kegel­clubs Sonnen­berg mit ihrer besse­ren Hälfte sowie Kind und Kegel auf Wander­schaft. Meistens ging es zur »Theres« nach Niesitz, Essin­gen oder anderen ähnlich attrak­ti­ven Ausflugs­zie­len. Bei einem dieser Ausflü­ge musste mein Bruder aus dem Misthau­fen der Theres geret­tet werden, weil seine ländli­chen Exkur­sio­nen in einem solchen endeten.

Sommers gehör­ten wir zu den Famili­en, die nicht nach Itali­en oder sonst wohin fuhren, denn wir hatten ein Haus und mussten dafür arbei­ten. Uns wurde immer erklärt, dass wir es uns »nicht leisten« könnten, wie die anderen, die zur Miete wohnten, über die Alpen zu fahren. Wenn die Mitschü­ler nach den Ferien erzähl­ten, wo sie überall waren, hatten wir dem wenig entge­gen­zu­set­zen und das war mitun­ter nervend, denn wir wollten doch auch etwas berich­ten. Und so fuhr ich im Sommer immer die ganze Gemein­de ab, um Kinder zu finden, mit denen ich spielen konnte, denn es war wirklich so, dass Oberko­chen im Sommer ausge­stor­ben war. Meine Mutter stammt aus dem Sudeten­land und nach dem Krieg, gab es viele Sudeten­deut­sche, die sich in und um Fulda, Nürnberg und Waldkrai­burg nieder­lie­ßen. Wir fuhren oft nach Fulda zu meiner Cousi­ne, denn dort lebte die Schwes­ter meiner Mutter und an Pfings­ten nach Nürnberg zum Sudeten­deut­schen Treffen. Fulda war meine Sommer­welt. Ich mochte die Stadt und irgend­wie ist sie mir ans Herz gewach­sen und manch­mal mache ich dort heute noch gelegent­lich einen Stopp und bummle durch die Straßen meiner Kindheit.

Noch ein Wort zur Aufklä­rung. Das war natür­lich eine Sache der Straße, denn der erste Teil der Aufklä­rung war die Nachweis­füh­rung zur Nicht-Existenz des Storchs (der eben nicht die Kinder brach­te, wenn wir brav jeden Tag ein Zucker­stück­chen auf den Balkon legten), Oster­ha­se (der auch nicht meinen ersten Roller gebracht hat), Nikolaus und Christ­kind (das nicht mit dem Glöck­chen vor der Tür klingel­te). Diese Arbeit übernahm der ältere Nachbars­jun­ge, Dubiel’s Wolfgang. Mit diesem Wissen wurde die Persön­lich­keit schlag­ar­tig weiter entwi­ckelt. Man war jetzt ein Wissen­der, ein Einge­weih­ter, durch eine Initia­ti­on durch bewun­der­te »Ältere« in deren Kreis aufge­nom­men. Die anderen Teile der Aufklä­rung übernahm später die Schule. Denn wie konnten wir das Leben bewäl­ti­gen ohne zu wissen wie’s die Blumen und die Bienen tun. Für weite­re, pikan­te­re Aufklä­rungs­de­tails war dann doch eher Dr. Sommer von der BRAVO zustän­dig (muss der schon alt sein, denn den gibt es heute immer noch). Der beant­wor­te­te alle Fragen, die wir uns nicht zu stellen getrau­ten und später war im Kino HELGA dafür zustän­dig. Danach waren wir dann für das Leben bereit und mussten vielleicht feststel­len, dass manches doch ganz anders war.

Wolfgang Dubiel war aber auch derje­ni­ge, der mir die wirkli­che Welt näher­brach­te. Er zeigte mir, wie man perfek­te Papier­schwal­ben baute, wie man mit einem ZEISS-Prismen-Brenn­glas Feuer entfach­te, er brach­te mir den ersten »Bubble­gum« von den Ami-Solda­ten auf dem Volkmars­berg, und es war einfach toll, wenn sich der Ältere mit mir beschäf­tig­te. Später sollte ich bei ihm zum ersten Mal auf dem Transis­tor­ra­dio auf AFN einen Sänger namens Elvis Presley hören und war hin und weg. Das war so völlig andere Musik, als die aus dem Gerät mit dem magischen Auge zuhau­se. In späte­ren Jahren durfte ich ihn oft besuchen und er zeigte mir seine Fender-Gitar­re, seinen McIntosh Röhren­ver­stär­ker, seine Platten­samm­lung mit Raritä­ten aus den USA und seine Bücher von Max Frisch. Das war schon spannend mit den GROßEN aus der Straße (dem Jürgen Becker, dem Wolfram Walter und dem Hubert Bergmann) — die waren zwar nur ca. 4 Jahre älter als wir, aber die wussten soooo viel mehr von der Welt als wir.

Beson­ders erinne­re ich mich an einen Tag im Jahr 1962. Wir saßen abends zusam­men in der Küche und hörten die Nachricht, dass J. F. Kenne­dy ermor­det wurde. Die Angst im Raum wurde spürbar und ich hörte meine Eltern sagen, dass sie Angst vor einem Krieg hatten.

In dieser Zeit wurde auch offen­sicht­lich, dass ich eine Brille zu tragen hatte. Da wir finan­zi­ell nicht auf Rosen gebet­tet waren (zwar Hausbe­sit­zer, aber alles wurde den finan­zi­el­len Verpflich­tun­gen zur Kredit­ab­zah­lung unter­ge­ord­net), musste ich mit einem Kranken­kas­sen­ge­stell vorlieb nehmen, was mir häufig die Bezeich­nung »Brillen­schlan­ge« einbrach­te. Ich trug sie dann nicht lange, was aber später zu gravie­ren­den Proble­men führte. In der 4ten Klasse gab es damals Aufnah­me­prü­fun­gen für das Progym­na­si­um. Alles lief planmä­ßig, ich war ein guter Schüler, nicht auf den Kopf gefal­len und die Prüfun­gen gingen gut, bis auf Mathe­ma­tik. Ich wusste, dass ich Proble­me hatte, das Geschrie­be­ne an der Tafel zu lesen; wenn ich nicht in der ersten Reihe saß. Aber das sagte ich natür­lich nieman­dem. Als ich dann zur Prüfung kam, musste ich dann in der letzten Reihe sitzen, was dazu führte, dass ich zwar die Aufga­ben weitge­hend richtig rechne­te, aber mit anderen Zahlen als mit jenen, die an der Tafel standen. So kam heraus, dass ich extrem schlecht sah, die Brille verwei­ger­te und so eine Nachprü­fung in Mathe notwen­dig war, die ich aber bestand, und meiner »Karrie­re« auf dem Gymna­si­um somit nichts mehr im Wege stand. Meine Mutter musste sich dagegen vom Augen­arzt Dr. Röhricht die Leviten lesen lassen. Und so mutier­te ich jetzt in den Kinder­au­gen von der »Brillen­schlan­ge« zum »Profes­sor«. Das machte mir aller­dings wenig aus, denn das war ja eine Beschimp­fung mit der Erhöhung in den Intellektuellenstatus.

Mit diesem Status verse­hen, war es selbst­ver­ständ­lich, sich im Rauchen zu versu­chen. Werner Bernl­öhr und ich beschaff­ten uns Zigaret­ten der Marken Senous­si, Salem, Eckstein, Zuban, Overstolz und wie die ausge­stor­be­nen alten Marken alle hießen. Natür­lich mussten auch »Weiße-Eule-Zigar­ren« aus Königs­bronn verkos­tet werden. Wir saßen in den Büschen unter­halb des Panora­ma­we­ges und pafften was das Zeug hielt, bis uns schlecht wurde, aber wir hatten den »Duft der großen weiten Welt« geatmet. Wir konnten jetzt zwar mitre­den, aber nicht mitrauchen.

Auch das Schleicher’sche Kino (siehe Bericht 538) war ein wichti­ger Mittel­punkt unseres jungen Lebens. Wir drück­ten unsere Nasen an den Schau­käs­ten platt, ob der Plaka­te die da hingen, — beson­ders jener, die wegen der Alters­gren­ze unerreich­bar für uns blieben. Wie mir Kurt Linert berich­te­te, verklei­de­ten sich die Jungs sogar mit Mantel und Hut, um älter zu wirken, aber Albert Schlei­cher kannte seine Pappen­hei­mer und enttarn­te und sortier­te gnaden­los aus, um keine Schwie­rig­kei­ten mit dem Jugend­schutz zu bekom­men. So blieb uns also nur der Weg über Privat­vor­stel­lun­gen, welche die Brüder Hans und Alfred Schlei­cher für ihre jewei­li­gen Klassen­ka­me­ra­den organisierten.

Wilfried Müller

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