Unser Mitglied Wilfried Müller, Jahrgang 1952, ist seit 1969 im Bereich »Organi­sa­ti­on« bei der Firma Leitz GmbH & Co KG tätig — schwer­punkt­mä­ßig: »Weltwei­te Einfüh­rung von kommer­zi­el­len EDV-Syste­men«. Er ist hausge­bo­re­ner Neu-Oberko­che­ner und hat als Urein­woh­ner vom Sonnen­berg unzwei­fel­haft bereits große altober­ko­che­ner Antei­le erwor­ben. Anläss­lich seines 60. Geburts­tags hat er sich selbst als Geburts­tags­ge­schenk, und uns als aus seiner Sicht zunächst Außen­ste­hen­de, zur Freude einen 3‑teiligen Bericht geschrie­ben, der uns in alte Zeiten zurück­ver­setzt, Zeiten, die stell­ver­tre­tend für die Geschich­te vieler Mitbür­ger nicht nur die eigenen Kinder­jah­re des Verfas­sers, sondern auch die Kinder­jah­re Oberko­chens auf dem Weg vom Dorf zur Stadt beleuchten.

Es war einmal — Kindheit und Jugend auf dem Sonnen­berg (Teil 1)

Oberkochen

Dieser Bericht soll auf der einen Seite einen Einblick in die frühen Jahre eines Oberko­che­ner Jungen des Jahrgan­ges 52 geben und zum anderen die Erinne­rungs­kraft des/der Lesers/Leserin zum Erinnern an die eigene Kindheit und Jugend anregen. Viel Spaß beim Reisen in eine Zeit, die unver­gleich­lich war, weil es eine Aufbruchs­zeit war, mit wenigen Einschrän­kun­gen und vielen Möglich­kei­ten für uns.

Wir schrei­ben das Jahr 1952, das erste Fertig­haus in Oberko­chen wurde fertig­ge­stellt (siehe Bericht 500), Georg »Hebam­men-Schorsch« Müller aus Brastel­burg (Härts­feld) und Hilde geb. Pavlat (seine Frau) aus Mährisch-Aussee (Sudeten­land) zogen ein und waren bei der Famili­en­pla­nung erfolg­reich, so dass ich am 1. März frühmor­gens als Hausge­burt, unter Beglei­tung meiner Oma Barba­ra »Babet­te« Müller geb. Gröber (die seiner­zeit weithin bekann­te Härts­fel­der Hebam­me aus Waldhau­sen) das Licht des Sonnen­ber­ges erblick­te. Es ging wieder aufwärts in Deutsch­land und ganz beson­ders in Oberko­chen. Wachs­tum war das Stich­wort und alles wuchs — Firmen, Häuser, Geldbeu­tel, Konten, Umsät­ze, Gewin­ne und der Nachwuchs.

Um dem Bericht eine kleine Struk­tur zu geben, teile ich ihn in 4 Berei­che ein:
1952 bis 1959 ohne Schule; 1959 bis 1963 Volks­schu­le, 1963 bis 1969 Gymna­si­um Oberko­chen und 1969 bis 1973 Lehrzeit und Aufbruch in neue Welten.

1952 bis 1959
Im Haus Nr. 34 gab es damals folgen­de Bewoh­ner: Georg und Hilde Müller, meine Wenig­keit, später mein Bruder Harald, Hermann und Irmgard Schim­mel, sowie die beiden Logier­fräu­leins Chris­ta Geis und Helga Rockstroh. Wir lebten auf engem Raum mit vielen Menschen, da Geld benötigt wurde, um das Haus zu finanzieren.

Logier­fräu­leins waren junge Frauen, die in der Gegend arbei­te­ten und ein möblier­tes Zimmer bewohn­ten, in dem, soweit ich mich erinne­re, ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett und ein Schrank standen. Mit Toilet­te und Waschen hat man sich wohl irgend­wie arran­giert. Ich erinne­re mich noch an ein Frl. Krause (bei der ich später das Schreib­ma­schi­nen­schrei­ben lernte, während sie tagsüber heim Arbei­ten war) und an einen Hr. Wild (der Weihnach­ten immer ein trauri­ger, wirklich allein­ste­hen­der Mann war). Herren­be­such war strengs­tens verbo­ten, denn die Vermie­ter wollten auf keinen Fall Proble­me wegen Kuppe­lei bekom­men. Dieser Paragraph (§ 180 StGB) war übrigens bis 1969 wirksam.

Die ersten 7 Jahre waren geprägt vom Spielen auf der Straße, im »Kessel« (das Gebiet unter­halb des Schüt­zen­hau­ses und den umlie­gen­den Wäldern). Das war unsere Gegend — wir waren Straßen- und Waldkin­der. Jetzt will ich Euch aber erst die Famili­en im Sonnen­berg in unserer Umgebung vorstel­len, die für mich wichtig waren: Die Hubers, Bauers, Müllers, Hermanns (Lehrer), Ruoffs (Lehrer), Hölldampfs (Lehrer), Fuchs (Polizist), Heite­les, Kohns und Krämlings, Vaters, Dubiels, Beckers, Hopps, Walters, Schim­mels, Süss, Schrö­ders, Werners, Floss, Maiklers, Schmids, Stillers und Farys. Das war die familiä­re Welt, in der ich mich beweg­te. Eine kleine Welt zwischen den Hausnum­mern 40 und 24 auf der einen und zwischen 17 und 27 auf der anderen Seite.

Oberkochen

Bei gutem Wetter waren wir immer draußen. Es gab wenig, was uns im Haus festge­hal­ten hätte. Die Straße war unser Spiel­platz und langwei­lig war es nie. Wir vertrie­ben uns die Zeit mit Hüpfspie­len, Seilsprin­gen, Gummi­twist und Hula-Hoop, wir spiel­ten Fußball auf Garagen­to­re (zur Freude aller Erwach­se­nen), Räuber und Gendarm, Cowboy und India­ner­les, Fanger­les und Verste­cker­les, Mutter­les und Vatter­les (dabei war gut zu sehen, wer wie erzogen wurde), Doktor­les (zum Schre­cken unserer Eltern), fuhren Roller und Fahrrad, badeten in Müllers Mini-Pool, spiel­ten Pfennig­fuch­sen, Murmeln und Stink­ei und waren stinkig, wenn abends der Ruf der Eltern über die Straße scholl: »HEIMKOMMEN — ESSEN !!!«. War das Wetter schlecht, besuch­ten wir einan­der und spiel­ten in den Wohnun­gen mit Lego, Autoquar­tett, mit Figuren (meistens Ritter, Cowboys und India­ner), mit Autos (Wiking, Match­h­ox, Corgy Toys), Monopo­ly und Stadt-Land-Fluss. Lange­wei­le? Das war ein Fremd­wort. »Mama — mir ist langwei­lig, was soll ich tun«? Das gab es nicht. Im Winter war der »Kessel« unser Domizil. Wir sausten die Hänge und die »Schlucht« mit Schlit­ten und Skiern hinun­ter, jeder so gut wie er konnte. Und es gab einige, die konnten damals schon super Ski-Fahren. Die besten waren Reinhold Steck­hau­er und Peter Harpeng. Niemand wollte ständig wissen wo wir waren und was wir taten. Wir gingen heim, wenn es dunkel war, wenn wir froren oder wenn wir Hunger hatten. Kleidung und Lables waren damals noch kein Thema. Im Sommer trugen wir eine kurze Leder­ho­se, im Frühling und Herbst eine Strumpf­ho­se darun­ter. Lange Hosen gab es nur im Winter.

Den Versuch, mich im katho­li­schen Kinder­gar­ten im Wiesen­weg unter­zu­brin­gen, erwies sich als Misserfolg. Der Garten war schön, mit Spiel­ge­rä­ten und sogar einem Plansch­be­cken, aber ich konnte das ständi­ge »Dees wird d’r Schwes­ter gsait« nicht ertra­gen und auch fremd­be­stimm­tes Spielen war schwie­rig für mich (heute würde man mir wohl sozia­le Defizi­te attes­tie­ren). Ich wollte mein eigener Herr sein (das ist wohl heute noch so) und so ging ich lieber in den Wald, als in den Wiesen­weg. Es dauer­te eine Zeitlang, bis das bemerkt wurde und dann nahm mich Mutter nach Hause auf den Sonnen­berg. Mein Bruder, sechs Jahre jünger, konnte dann später darauf verwei­sen, dass Kinder­gar­ten für ihn, wegen meines leuch­ten­den Vorbilds, ebenfalls nicht in Frage käme und so erfuh­ren wir unsere pädago­gi­sche Grund­schu­lung auf der Straße. Kein Nachteil, denn »Buaba ond Mädla« in allen Alters­klas­sen sorgten dafür, dass auch wir sozia­les Verhal­ten lernten.

Natür­lich zog auch der Fernseh­ap­pa­rat im Sonnen­berg ein. Zu den ersten stolzen Besit­zern gehör­ten die Famili­en Vater und Hopp, bei denen wir Kinder uns oft versam­mel­ten. Bei Vaters sahen wir oft »NERVEN WIE DRAHTSEILE« mit Armin Dahl und »FURY«, und hei Hopps sahen wir (zumin­dest den Anfang) von »STAHLNETZ«, das uns Kindern streng verbo­ten war — aber mords­span­nend und mit einer nerven­zer­fet­zen­den Eingangs­mu­sik. (heute wirkt so ein Krimi auf die meisten totlang­wei­lig). Ich muss aller­dings geste­hen, dass schwar­z/­weiß-Krimis noch heute auf mich spannend wirken.

Eine tolle Sache waren auch die Milch­shakes, die Frau Hölldampf für uns auf einer ungeheu­er großen Küchen­ma­schi­ne herstell­te und unver­gleich­lich gut schmeck­ten. Ihr Mann war ein gefürch­te­ter Lehrer (kein Wunder bei dem Namen und er war groß, weißhaa­rig und beindru­ckend, und ihr Hund Adrian war auch groß und weißhaa­rig, aber sehr zutrau­lich. Überhaupt gab es damals reich­lich Haustie­re in der Nachbar­schaft: Katzen, Hunde, Hühner, Papagei­en und anderes Getier.

Oberkochen

Die Winter waren natür­lich, nicht nur in der Erinne­rung, schnee­rei­cher, kälter und härter als heute, und in der Erinne­rung war jedes Weihnach­ten weiß. Überhaupt Weihnach­ten, das hatte seine festen Regula­ri­en und die waren nicht in jeder Familie gleich. Bei uns lief das so ab: Baden wie immer in präch­ti­gem »Zink«, wir wurden heraus­ge­putzt, zum Abend­essen gab es Bratwürste/Würstchen und schwä­bi­schen (!) Kartof­fel­sa­lat, danach läute­te das Christ­kind (komischer­wei­se war Mutter nie im Raum, wenn es klingel­te ?) und dann wurden wir in ein dunkles Wohnzim­mer geführt, in dem ein Christ­baum brann­te, nein natür­lich nicht, sondern die Kerzen auf demsel­ben (erst mit richti­gen Kerzen und beigestell­tem gefüll­ten Wasser­ei­mer, später mit elektri­schen Kerzen ohne Wasser­ei­mer). Die Kinder­au­gen wurden groß und größer ob des Lichts und der liebe­voll verpack­ten Geschen­ke. Es wurde »Stille Nacht« gesun­gen — natür­lich mit Background, denn man besaß einen DUAL-Platten­spie­ler. Dann wurde freudig ausge­packt, die Kinder bekamen tolle Geschen­ke, Vater bekam das SKO-Paket (Socken, Krawat­ten, Oberhemd), Mutter etwas »Sinnvol­les für die Küche« und alle waren happy. Danach wurde per Selbst­aus­lö­ser das Foto des Jahres geschos­sen. Bei Sekt und selbst gebacke­nem Spritz­ge­bäck (das bis Ostern reich­te) wurde gespielt, bis wir müde waren und mit den Geschen­ken ins Bett gingen.

Wilfried Müller

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