Im Rahmen unserer heimatkundlichen Serie „Oberkochen – Geschichte, Landschaft, Alltag“, haben wir im Amtsblatt „Bürger und Gemeinde“ mehrfach über einen Jabo-Angriff berichtet, der am 1. April 1945 kurz vor Kriegsende (wohl irrtümlich) auf einen KZ-Häftlingstransports beim Durchgang im/beim Bahnhof Oberkochen stattfand.
Die nationalsozialistische Führung hatte angeordnet, dass, da die Alliierten immer weiter Richtung Süddeutschland vordrangen, ca. 2000 KZ-Häftlinge vom KZ Neckarelz nach Dachau verlegt werden mussten.
Oberkochener und ausländische Zeitzeugen berichteten mir damals:
Bericht 177 v. 13.11.1992 – 5 unbekannte Opfer – KZ-Häftlingstransport 1.4.1945
Bericht 178 v. 27.11.1992 – 5 unbekannte Opfer – KZ-Häftlingstransport 1.4.1945
Bericht 181 v. 31.12.1992 – KZ-Häftlingstransport 1945, Zeitzeuge aus Luxemburg
Bericht 280 v. 31.01.1997 – KZ-Häftlingstransport 1945, Zeitzeuge aus Luxemburg
Anfang September 2010 kontaktierte mich Arno Huth aus Mosbach-Diedesheim, der dem Verein KZ-Gedenkstätte Neckarelz angehört. Herr Huth hatte von meinen Nachforschungen zu dem Luft-Angriff vom 1.4.1945 erfahren und bat mich, ihm Fotos vom Gedenkstein für die 5 unbekannten Toten auf dem Ev. Friedhof, ferner Fotos vom Bahnhof und Umgebung, sowie die oben genannten Berichte zu senden. Im Gegenzug erhielt ich von Herrn Hut seine sämtlichen Unterlagen, die er im Rahmen von Vorbereitungen zur Einrichtung einer Gedenkstätte in Neckarelz über den Oberkochener Jabo-Angriff vom 1.4.1945 zusammentragen hatte. Diese stammen von weiteren Zeitzeugen, die den Angriff auf den Häftlingstransport in Oberkochen im Zug erlebt hatten.
Die Berichte sind für viele Oberkochener, die sich noch lebhaft an den Angriff erinnern, aber auch für jüngere Leserinnen und Leser, von so großem Interesse, dass wir uns entschlossen haben, die gesamten Informationen in einer Sonderbeilage zu BuG zu veröffentlichen.
Ungeklärt ist noch immer, wer „ein Militärarzt aus dem Lazarett Heidenheim“ (oder zwei Militärärzte?), sowie wer „eine Diakonisse“ war, die erste Hilfe geleistet haben. Unklar ist auch, was mit den Verletzten geschah, die möglicherweise in ein Krankenhaus eingeliefert wurden (Aalen? Heidenheim?) Hier die Berichte, die wir mit der freundlichen Genehmigung von Arno Huth zum Abdruck erhielten.
Am Morgen des 1. April 1945, Ostersonntag: Abtransport mit dem Zug nach Dachau
Louis Lefrançois berichtet weiter: „Gegen vier Uhr am Morgen [des 1. April] steigen wir in Gruppen zu jeweils siebzig bis achtzig Mann pro Waggon in den Zug. Wie üblich erhalten wir Schläge mit dem Gewehrkolben, um die Bewegung zu beschleunigen.” Marcel Rolin hingegen geht von jeweils vierzig Deportierten pro Viehwaggon aus. Ernest Gillen schätzt etwa 2.000 Häftlinge, eingepfercht in 40 geschlossenen Eisenbahnwaggons. Auch Arthur Jacques gibt an, dass die Häftlinge um vier Uhr einen Zug bestiegen.
Joseph Journet: „Nach langem Warten kam endlich eine Lokomotive mit einigen Viehwaggons in sehr schlechtem Zustand, in welchen wir es uns recht und schlecht einrichteten. Ich war im Waggon hinter dem Tender der Lokomotive, wobei mir klar wurde, dass ich einen schlechten Platz hatte – und zwar angesichts möglichen Beschusses der Lokomotive durch französische Flugzeuge […] Trotzdem waren wir zufrieden, uns erholen zu können, das war besser als zu Fuß unterwegs zu sein. […] Der Zug fuhr ziemlich sanft […] los. […] Wir durchquerten einige kleine bedeutungslose Bahnhöfe, ohne anzuhalten.“ – „Die uns begleitenden Verantwortlichen waren der Oberscharführer Friedrich Lutz sowie Adolf Michel.“ Joseph Journet erinnert sich, „dass bei einem Bahnübergang die Gleittüren unserer Waggons geöffnet waren. Ich sehe noch, wie zwölfjährige Mädchen und Jungen mit ihren Armbinden für die Kommunionsfeier gedrängt an den Bahnschranken standen, uns vorbeifahren sahen und mit einer gleichgültigen Miene betrachteten, sicherlich ohne verstehen zu können, wer wir in unseren Sträflingslumpen waren.“ Journet musste an seine eigenen beiden Kinder denken.
Docteur Pierre Tisseau: „In einer Bahnhofruine wartete ein Zug auf uns. Geordnete Verladung ohne Lärm am frühen Morgen. Als wir uns niedergelassen hatten, nahm einer von uns in der Mitte des Waggons zaghaft eine kleine Schachtel aus seiner Hosentasche, hielt einen Augenblick inne, bekreuzigte sich und nahm eine Hostie, die er herunterschluckte. Dann bot er uns welche an.“
Bernard Villettes Marschgruppe kam als letztes im Bahnhof „in einem größeren Städtchen an. Die anderen Häftlinge waren schon länger da! Großzügig überließen sie uns die beiden Waggons, die sich unmittelbar hinter der Lokomotive befanden… Wir wurden auf Viehwaggons verteilt, aber wir waren nicht zu beengt: ungefähr fünfzig und dazu ungefähr zehn Wachsoldaten. […] Die Türen blieben offen, der Zug fuhr noch nicht los. […] Ich saß entlang der Innenwand nahe bei der Türe […] Aufgrund des Wartens und der Erschöpfung schliefen wir so recht und schlecht ein. Plötzlich gegen acht Uhr fuhr der Zug leise los. Die Posten schlossen die Türen. Wir hatten Ostersonntag, den 1. April. […] Alle begannen vor sich hin zu dösen, man musste jede Minute nachholen, so lautete die Bedingung des Überlebens.“
Pierre Chiffre: „Im Laufe des Morgens setzte sich der Zug in Bewegung. Sitzend, zusammengekrümmt, niedergeschlagen, die Decke über den Rücken fuhren wir in Richtung Dachau.“ Nach den Strapazen befand sich die moralische und körperliche Verfassung der Häftlinge „bereits am Nullpunkt“.
Nach Zacheusz Pawlak waren es geschlossene Güterwaggons: „In jedem Wagen befanden sich drei deutsche Wachposten, meistens waren es Flieger. Sie blieben in der Mitte des Waggons. Uns brachte man zu je 25 an den beiden gegenüberliegenden Waggonenden unter. Wir mussten zu fünfen sitzen. Der Zug fuhr langsam gen Süden. Durch die geöffnete Tür sahen wir mit Freude die zerstörten deutschen Städte. So war insbesondere die Großstadt Ulm so schrecklich bombardiert, dass sie eigentlich gar nicht mehr existierte. Auf den Bahnhöfen, die wir passierten, waren gelbe oder grüne Schilder aufgestellt. Sie bedeuteten Alarm oder Voralarm in dem betreffenden Gebiet. Unser Transport wurde während des Fliegeralarms häufig angehalten.”
Laut Louis Lefrançois hielt der Zug nach Dachau mehrmals, wegen Luftangriffen aber außerhalb von Bahnhöfen.
Unbelegt bleibt die Vermutung, dass in dem Zug nach Dachau die 398 kranken Häftlinge des Transportes vom KZ Kochendorf waren, von dem 44 Häftlinge während der Überstellung verstarben. Dieser Zug mit zum Teil oben offenen Güterwaggons war schon am 28. März in Kochendorf losgefahren und am 2. April 1945 in Dachau eingetroffen, am selben Tag also an welchem die Neckarelzer Häftlinge mit dem Zug eintrafen. Dass dies aber in einem gemeinsamen Transport ab Schwäbisch Hall erfolgte, dafür gibt es aber keine belegende Aussage befreiter Häftlinge. Riexinger/Ernst erwägen jedoch diese Möglichkeit: „Die erste Gruppe der im KZ Dachau registrierten Häftlinge des KZ Kochendorf waren die 354 noch lebenden Häftlinge des Transports am 2.4.45. 44 Häftlinge hatten die Fahrt nicht überlebt. Der Krankentransport führte zudem 75 Häftlinge des KZ Auerbach, 1878 Häftlinge des KZ Neckarelz, 48 Häftlinge des KZ Heppenheim und 6 Häftlinge des KZ Mannheim-Sandhofen bei sich.“

Bahnhof Oberkochen 1949. Blick vom Waldrand über die ansteigenden baumlosen Wiesen.
Mittag des 1. April 1945: 8 Tote beim Luftangriff bei Oberkochen
Die meisten ehemaligen Häftlinge berichten über einen folgenschweren Luftangriff bei Oberkochen. Als einziger berichtet Bernard Villette von einem vorher stattgefundenen Blindalarm, weshalb nicht klar ist, ob dieser tatsächlich so stattfand: „Plötzlich gab es einen abrupten Halt. Die Posten schrien: Fliegeralarm!. Ich sprang aus dem Zug in die Menschenmenge, aber es war sehr hoch. Ich wäre beinahe hingefallen und niedergetrampelt worden. Wir rannten und beobachteten dabei ständig den Himmel. Alle Posten bildeten sofort eine Postenkette, eine Umgrenzung. Sie schrien und gestikulierten, aber wir verstanden sie nicht. Allmählich begann die Gruppe, sich hinzusetzen. Es handelte sich um einen Fehlalarm… wir hatten gute Lust zu lachen, aber wir hatten kaum die Kraft dazu.“ Die Wachsoldaten sammelten die Häftlinge wieder in Fünferreihen, zählten und verluden sich wieder in den Zug. Bei einem weiteren „längeren Zwischenhalt“ ließ „ein Feldwebel in Begleitung einiger Soldaten“ die Häftlinge des vordersten Waggons aussteigen und sie alle Rucksäcke der Soldaten des Zuges in einen Gepäckwagen am Ende des Zuges schleppen. Die abgeordneten Häftlinge in den Holzschuhen quälten sich beim Tragen dieser äußerst schweren Säcke über den Schotter, während „die Soldaten lachten angesichts unserer Anstrengungen“.
Zumindest auch Arthur Jacques berichtet, dass der Zug sehr oft anhielt und die Bombardements sich steigerten.
Pierre Chiffre: „Wie lange fuhren wir schon im Zug? drei oder fünf Stunden oder noch länger. Plötzlich hielt der Zug. Schreie: Flugalarm!“
Auf der Durchfahrt zwischen Aalen und Ulm geriet der Zug bei Oberkochen in einen „Fliegeralarm”. Laut Zacheusz Pawlak „erhielten wir keine Einfahrt in einen kleinen Bahnhof. Wie gewöhnlich beobachteten wir auch diesmal den Himmel. Trotz leichter Bewölkung erblickten wir zwölf ‘Rotschwänze’. Gleich darauf bemerkte ich, wie sie sich zum Angriff schickten. Ein schreckliches Heulen und eine Serie von Schüssen zerschnitten die Stille. Wir waren das Ziel des Angriffs. Die Deutschen sprangen zuerst aus dem Waggon und zerstreuten sich auf einer Wiese, auf der stellenweise hohe Erlen wuchsen. Über unseren Köpfen erschien ein zweites Flugzeug, das die Deutschen auf der Wiese beschoss. Ich sprang aus dem Waggon und versteckte mich hinter dem gemauerten Transformator neben dem Gleis, wobei ich aufmerksam die Flugzeuge beobachtete. Eine gedrängte Masse von Häftlingen in Häftlingskleidung strömte auf die Wiese. Im selben Augenblick flog ein drittes Flugzeug heran, ging noch tiefer als das vorherige, wobei es fast die Baumwipfel berührte, schoss eine rote Rakete ab und flog dann, ohne einen Schuss abzugeben, davon. Das vierte Flugzeug, das zum Angriff bereit war, erhob sich sofort wieder und flog nordwärts ab. Auch die übrigen zum Angriff bereiten Maschinen kehrten um.”
Louis Lefrançois: „Am Nachmittag auf einer Ebene wird der Transport, als er einige Dutzend Meter vom Bahnhof entfernt ist, von Jagdfliegern überrascht. Einen Augenblick herrscht Kopflosigkeit. Die Wachsoldaten verlassen hastig ihren Posten in den Waggons. Die Bewacher wie auch die Gefangenen springen zu Boden, um in den angrenzenden Wiesen sich zu verstreuen. Kugeln kommen aus allen Richtungen hervorgeschossen. Die Flugzeuge wenden und kehren wieder zurück, um uns in niedriger Höhe zu überfliegen. Ohne diesmal zu feuern, entfernen sie sich. Anscheinend haben sie unsere gestreiften Anzüge erkannt.” Es gibt mehrere Tote, darunter auch wenige Wachsoldaten.

Ausschnitt aus der US-Luftaufklärungs-Aufnahme vom 08.04.1945. Die Aufnahme entstand zwischen dem Angriff auf den KZ-Häftlingstransport am 01.04.1945 und einem Angriff auf die Oberkochener Ortsmitte am 11.04.1945, — ebenfalls mit Toten.
Pierre Chiffre: „Die Türen der Waggons wurden aufgeschoben, Flüche fielen und befahlen uns, auszusteigen. Wir befanden uns auf offenem Land, der Zug überragte eine riesige Wiesenlandschaft: unser Waggon hielt fast einen Meter oberhalb einer Böschung. Wer noch in der Lage dazu war, sprang heraus und rannte in Richtung einer Baumgruppe ein paar hundert Meter entfernt. Andere wie ich, die nicht mehr konnten, verharrten im Waggon. Wir waren noch zu siebt oder acht in dem meinigen. Ich lag zusammengekauert […] beim Türrahmen. […] die anderen lagen wahllos im Inneren des Waggons umher. Dieser Stopp und die Räumung des Zuges dauerten nur wenige Minuten. Ich sah in die Luft. Hinter den Hügeln tauchten vier britische Flugzeuge auf. Sie gingen im Sturzflug auf den Zug hinunter und nahmen ihn der Länge nach. Motoren- und Maschinengewehrlärm. Ich sah deutlich die Flammen der Schüsse aus den Laufenden der Maschinengewehre. Zur selben Zeit mit dem Einschlag der Kugeln schossen Holzsplitter durch den Zug. Die drei ersten Flieger beschossen uns, aber der vierte, der zweifellos Zeit gehabt hatte, die gestreiften Kostüme der davoneilenden Häftlinge wahrzunehmen, zielte nicht. Traurigerweise gab es Opfer. In meinem Waggon wurden zwei Kameraden getroffen, ein Italiener am Unterleib, er stöhnte, lag ganz zusammengekrümmt, ein anderer weniger schwer. Im benachbarten Waggon wurde ein großer Russe, den ich gut kannte, auf Höhe des Magens durchschossen. Als die Flugzeuge vorbei waren, ließ ich mich aus Furcht vor ihrer Rückkehr auf die Böschung hinabfallen und rückte so gut ich konnte vom Zug weg.“
Joseph Journet: „Am Nachmittag stoppte unser Zug abrupt. Unsere Bewacher ließen uns eilig herunter steigen, damit wir uns in einem Tannenwäldchen am Rande eines Berges zweihundert Meter südlich des Gleises tarnten. Hier sah ich den präzisen Beschuss aus den Maschinengewehren des ersten der drei französischen Flugzeuge. Die Lokomotive, gegen welche sich der Beschuss gerichtet hatte, war ein richtiges Sieb und untauglich zum Weiterfahren. Sie hatte all ihren Dampf verloren. Da ich mich im vorderen Waggon direkt hinter dem Tender befand, pfiffen uns die Kugeln um die Ohren, als sie problemlos die Wände des Waggons durchschlugen. Eine ging sehr nah an meinem Kopf vorbei, als ich mich gegen die Holzwand lehnte. Die Kugel hinterließ ein faustdickes Loch und ließ Holzsplitter auseinander stieben. Fünf Häftlinge wurden in diesem Waggon getötet. Als wir auf den Bahndamm sprangen, erblickten wir die drei kommenden Flugzeuge […]. Sogleich machten sie kehrt, als sie bemerkten, dass es sich um einen Transport von gestreiften Häftlingen handelte, denn wir waren alle auf der Wiese vor dem Wald verstreut und machten wild auf uns aufmerksam. […] Ich ergänze, dass die Flugzeuge ziemlich niedrig waren und dass dies alles innerhalb von ein paar Minuten geschah. Ich meine, wenn meine Erinnerungen genau sind, dass wir vierzehn unserer Kameraden zurück ließen, die getötet worden waren und vor Ort beerdigt wurden. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen des Ortes mit den ungefähr fünfhundert Einwohnern. Es war der Ostausgang dieses Dorfes in einer ziemlich hügeligen Landschaft, wo wir diesen Beschuss erfahren mussten.“
Bernard Villette berichtet von einem vorherigen Fehlalarm, auf welchen nun „gegen Mittag“ ein tatsächlicher Angriff erfolgte. Als er aus dem Zug sprang, „hörte ich den höllischen Lärm eines Flugzeuges, das im Sturzflug auf uns zuflog. Ich renne nur zehn oder fünfzehn Meter, die Maschinengewehre knattern. Alle hatten sich flach auf dem Gras hingeworfen. Wir hatten nicht die Zeit, um wieder aufzustehen, denn ein zweites Flugzeug flog mit diesem Höllenlärm auf uns zu.“ Bernard Villette hatte Glück, da eine Kugel nur seine Hose streifte. Ein drittes Flugzeug drehte ab; der Pilot hatte wohl verstanden, dass es sich um einen Häftlingszug handelte. „Die Lokomotive verlor ihren ganzen Dampf“, da sie völlig durchlöchert war. „Von überall hörten wir um uns markerschütternde Schreie. Ein Pole mit blutüberströmtem Gesicht schrie [nach einem Sanitäter] und ging mit nach vorne gestreckten Armen nach vorne“.
Sylvain Soucaze heulte um seinen tödlich getroffenen Bruder Firmin Soucaze. Die französischen Häftlinge waren erschüttert und „erstarrt“. Die beiden bekannten und beliebten, stämmigen, fast vierzig Jahre alten Männer stammten aus der Region Gers oder Landes und „erinnerten an die Musketiere“. „Sie besaßen ein kleines Unternehmen zur Herstellung von Holzpfosten für Telefon- oder Elektrizitätsleitungen.“ – „Wie alle, die sie kannten, war ich sehr bekümmert, und umso mehr, da sie viele Kinder hatten. Alle mochten sie sehr. Diese mutigen Kerle erwiesen sich als perfekte Freunde und verhielten sich untadelig. Es gibt keinen gerechten Gott, murmelte man um mich herum.“
Deutsche Soldaten kamen hinzu und stießen herumstehende Häftlinge brutal zur Seite. „Der Boden war übersät mit Kugeln, sie waren […] vielleicht zwölf oder dreizehn Millimeter Durchmesser [groß].“ Deutsche Soldaten kamen hinzu, sie hielten ihr Gewehr, schrien herum, bildeten eine Postenkette um die Überlebenden und drängten einzeln herumstehende oder gehende brutal zur Seite. Sie schoben die Masse der Häftlinge die Höhe einer Wiese. Irgendwann tauchten Zivilisten, Männer und Frauen mit Armbinden vom Roten Kreuz auf und brachten Tragen zum vorderen Teil des Zuges. „Wir blieben lange an diesem Ort, stumm, mit Hunger im Bauch. Eine große Mattigkeit überkam uns. Es gab nichts zu tun. Man durfte sich nur nicht bewegen. Maximal mit seinen Kräften zu haushalten war unsere einzige Verteidigung.“
Ernest Gillen hat nach dem Krieg die Ereignisse bei Oberkochen erforscht (Rappel 2−3÷1986) und konnte sich dabei insbesondere auf Aussagen von dem der Fahrdienstleiter am Bahnhof Oberkochen Anton Feil stützen, der in der Nacht vom 31. März auf den 1. April Nachtdienst hatte. „Die Züge, die nicht der Personenbeförderung dienten, wurden wegen der weithin sichtbaren Rauchentwicklung der Dampfloks bei Nacht abgefertigt. So kam ich am 1. April morgens gegen 7 Uhr nach Hause. Ich wohnte damals noch in der Ortsmitte. Es war gegen 11 Uhr, als ich Flugzeuge hörte und sah auch, wie sie eine Schleife um den Ort flogen, weil sie vermutlich den Zug entdeckt hatten. Der Angriff kam dann von Westen her, und es war mir sofort klar, dass der Beschuss einem Zug galt. Zu dieser Zeit hatten wir ja fast täglich Flugzeugbesuch durch Jabo […]. Man nannte sie Rotschwänzchen.” Der Beschuss des Zuges ging dieses Mal jedoch „von drei etwas stärkeren Flugzeugen” aus.
Bei dem Angriff wurden allein die Lokomotive und die ersten Waggons beschossen.
Entgegen des Befehls von Wicker, die Waggons auf jeden Fall geschlossen zu halten, hatte der SS-Mann Arthur Stahl bei diesem Jaboangriff erlaubt, dass die Häftlinge sich außerhalb des Zuges in Schutz bringen konnten. Wahrscheinlich gelang dabei auch wenigen Häftlingen die Flucht. Angesichts seines Verhaltens wurde Stahl bei den Rastatter Prozessen nach dem Krieg entlastet.
Nach Abflug der Flugzeuge eilte Anton Feil sofort zum Bahnhof und übernahm den Dienst, da sein Vorsteher „völlig fertig und ratlos war […]. Alles war ein völliges Durcheinander […]. Die Lok, die mit dem Zug zwischen Bahnhofsgebäude und Güterschuppen zu stehen kam, war durchsiebt und dampfte aus den Einschüssen. Der Zug war erst zur Hälfte in den Bahnhof eingefahren und stand mit seiner größeren Hälfte noch hinter der Einfahrweiche. Warum dieser Zug am hellen Tag auf die Strecke geschickt wurde, kann ich mir nicht erklären.” Damit weist Anton Feil auch auf die „Veramtwortung hin, die der deutschen Seite, wahrscheinlich dem verantwortlichen Transportleiter, einem SS-Offizier, an diesen traurigen Ereignissen zufällt”, indem „dieser Zug überhaupt am hellen Tag auf die Strecke geschickt wurde.” Anton Feil weiter: „Der Bahnhof Aalen hatte zuvor schon einige Bombenangriffe erlitten und wollte natürlich den Zug loswerden, um ihn mindestens bis zum Tunnel zwischen Oberkochen und Heidenheim zu bringen.”

US-Luftaufklärungsfoto vom 08.04.1945 — aufgenommen aus 20.000 Fuß = ca. 6.500 m Höhe. Das Foto wurde am »Weißen Sonntag«. zwischen den beiden Luftangriffen vom 01.04.1945 und vom 11.04.1945 aufgenommen. Abdruck mit Erlaubnis des Landesvermessungsamts Baden-Württemberg AZ: 2858.8‑LB1-4286 vom 14.11.2003. Ausführlicher Bericht zu dem US-Foto in BuG 394 vom 08.06.2001
Anton Feil berichtet weiter: „Auf dem Bahnsteig war nun alles voller Sträflinge, die teilweise verletzt waren. Andere bargen Schwerverletzte aus den G‑Waggons (es waren lauter gedeckte Wagen-Viehwagen) und legten sie auf Gepäckhandkarren oder auf den Bahnsteig. Zum Glück war auch ein junger Militärarzt bald zur Stelle, der zum Lazarett Heidenheim gehörte und vermutlich zufällig in Oberkochen war. Er nahm sich gleich der Verletzten an und führte auch Amputationen durch. Da er ja nicht viel bei sich hatte, halfen wir mit unserem Rettungskasten, Wasser und Tüchern aus.” Ein Kommentator sah es als erstaunlich an, dass sich ein Militärarzt ausnahmsweise um die Häftlinge kümmerte, und spekulierte, da der Militärarzt einem Lazarett von Heidenheim angehörte, dass dieser vielleicht in Heidenheim Gelegenheit gehabt haben könnte, dort KZ-Häftlinge aus dem aus Obernai bzw. Oberehnheim im Elsass ausgewichenes Außenkommando des KZ Natzweiler näher kennengelernt zu haben, so dass er sich hier in Oberkochen “auf die Seite der Häftlinge schlug”.
Jozef Paluc geht von sechs Toten und drei Schwerverletzten aus. Docteur Tisseau: „Gegen Mittag wurde bei Oberkochen nicht nur die Lokomotive unseres Transports beschossen und getroffen, sondern auch der folgende Waggon bekam Kugeln ab. Sieben Kameraden wurden getötet, etwa zehn schwer verletzt und andere weniger schwer. […] Zwei deutsche Militärärzte, die sich zufälligerweise vor Ort befanden, und eine Diakonisse halfen mir und sparten nicht Mühe. Für sie waren wir keineswegs Banditen, sondern nur Menschen und verletzte Menschen. Sie ließen die am schlimmsten Verletzten auf der Stelle in das nächste Krankenhaus bringen.“ Auch Zacheusz Pawlak bestätigt, dass man Verwundete auch ins Krankenhaus brachte.
Anton Feil: „Es waren aus diesem Zug 8 Tote, die auf dem Gepäckhandkarren mit Unterstützung der Gemeindeverwaltung zum evangelischen Friedhof gebracht und dort bestattet wurden. Nationalität oder Herkunft der Toten konnte nicht festgestellt werden und ist auch hier auf dem Rathaus nicht bekannt. – Vermutlich trugen sie auch keine Erkennungsmarken.” Sieben der Toten waren KZ-Häftlinge, der Status des Achten, ein „unbekannter Deutscher“, bleibt unklar. Nach dem Krieg konnten zwei der Toten identifiziert werden, und zwar die Franzosen Firmin Soucaze des Soucazes und Jean-Jacques Perault. Nach hartem Widerstand der Evangelischen Kirchengemeinde konnten diese beiden Toten schließlich auf Drängen der französischen Besatzungsautoritäten am 10. und 11. Juni 1953 exhumiert und nach Frankreich überführt werden. Bei dieser Gelegenheit wurde auch der „unbekannte Deutsche“ abgetrennt in einem Einzelgrab neu beerdigt. Die restlichen fünf, deren Identität wohl für immer unbekannt bleiben wird, wurden in einem Sammelgrab auf dem Friedhof bestattet. Ein Gedenkstein erinnert an sie: „Hier ruhen fünf unbekannte Opfer eines Fliegerangriffes † 1. April 1945“.
Anton Feil: „Von den Sträflingen türmten viele in den Wald oberhalb des Bahnhofs oder in den Ort. An der Außenwand des Bahnhofs war damals noch ein Brunnen mit der Aufschrift Trinkwasser. Ich weiß noch genau, wie einige der Gefangenen mit ihren Essnäpfen Wasser entnehmen wollten, was aber von dem den Zug begleitenden SS-Offizier sehr scharf verweigert wurde. Dieser Mann, ca. 1,85 Meter groß, hagere Gestalt mit recht ruppigem Gesicht, schwang dauernd seine Reitpeitsche und hatte einen großen Hund (Ulmer Dogge) bei sich. Er patrouillierte dauernd hin und her, so dass auch wir keine Möglichkeit hatten, den Leuten Wasser zukommen zu lassen. Dieses Gesicht habe ich bis heute nicht vergessen!” Angesichts der Beschreibung des SS-Offiziers handelte es sich sehr wahrscheinlich um den Transportführer Heinrich Wicker, der damit mindestens den Konvoi bis Oberkochen, wahrscheinlich auch bis Dachau begleitete.
Anton Feil: „Es sind Bilder, die sich eben doch sehr stark eingeprägt haben. So fanden wir im Gleis einen Essnapf aus diesem Zug, der als Leimtopf (zum Bekleben der Gepäck- und Expressgüter) lange Jahre diente. Auch den Blick ins Innere der Waggons vergesse ich nicht. Einige Gefangene kauerten noch in der Ecke, Essnäpfe lagen herum, und da und dort lagen Stücke von Kohlrüben. Es waren allerlei Menschen und Rassen. Auch Neger sah ich bei diesem Transport.” Ernest Gillen geht davon aus, dass es sich eher um sogenannte „Muselmänner”, erschöpfte KZ-Häftlinge kurz vor dem Tod, handelte.
Laut Michel Daval verstreuten sich die Häftlinge in den umliegenden Feldern und Gärten: „Wir waren in der Nähe von Gärten in der Natur, und die Russen und Polen aßen Blumenzwiebeln und Rhabarberwurzeln. Es gab sonst nichts zu fressen.“ Auch Jozef Paluc berichtet: „Es gab den ganzen Tag nichts zu essen.“
Anton Feil: „In der Zwischenzeit hatte ich sofort eine Ersatzlok angefordert, was natürlich eine geraume Zeit dauerte. Gegen 14.30 Uhr war es dann soweit. Die Ersatzlok war am Zug und nahezu abfahrbereit. Zum gleichen Zeitpunkt war ein Flugzeug zu hören, und alles stürmte wieder aus den Waggons in alle Richtungen. Es war aber ein deutscher Jäger – ja wirklich ein deutscher! – was man ja nicht wissen konnte, aber alles war ja schon durcheinander. Dann gegen 16.00 Uhr hatten die 2 oder 3 Soldaten, die als Zugbegleiter dabei waren, die Leute – ob es alle waren, wissen wir nicht – wieder im Zug, und wir konnten den Zug weiterleiten.”
Pierre Chiffre: „Nach einem Moment des Abwartens – Appell. Die Tauglichen sammelten die Verletzten ein und brachten sie in einen anderen Waggon. Am Abend erreichten wir Dachau.“
Die beim Beschuss des Zuges in Oberkochen Verstorbenen wurden von KZ-Häftlingen selbst beerdigt. Der Luxemburger Emil Schock berichtet, dass er „mit einem Wachmann und einem Jugoslawen in Oberkochen hängen blieb. Wir hatten dort fünf Leute zu begraben. Dann sind wir zu Fuß bis zu einem kleinen Bahnhof gelaufen und irgendwie wieder in den Zug nach Dachau gekommen”.
Louis Lefrançois: „Die Lokomotive ist nicht mehr zu gebrauchen. Wir müssen warten, bis eine andere Lokomotive eintrifft, die uns dann abschleppt. Nach zwei Stunden Wartezeit fahren wir wieder los. Manche haben diesen Halt nützen können, um abzuhauen. Angesichts meiner Müdigkeit und meines Hungers denke ich schon gar nicht mehr an Flucht.“ Bernard Villette: „Am Ende des Nachmittags kam eine andere Lokomotive, um die wie ein Sieb durchlöcherte zu ersetzen. Wir stiegen wieder in unsere Waggons und setzten allmählich unsere Reise fort.“ Joseph Journet: „Einige Stunden später kam eine andere Lokomotive und ersetzte die erste, die nun außer Gebrauch war. Angesichts dieses Einflugs erfuhren wir, dass die Franzosen nicht mehr weit waren, denn die Flugzeuge waren ‘Rotschwänzchen’ – so nannten wir sie unter uns.“
Docteur Pierre Tisseau: „Eine andere Zugmaschine ermöglichte es, bald aufzubrechen – mit der Angst vor einer neuen Katastrophe. Jedoch bekamen wir nur noch ruhige Vorbeikommende und in den Lüften ein paar Flugzeuge zu sehen, die keinerlei Aufmerksamkeit auf uns richteten. Ulm erschien – nur noch seine unversehrte Kathedrale beherrschte die Ruinen. Die Nacht ging zu Ende ohne weitere Unfälle, und am frühen Morgen fuhren wir in den Bahnhof von Dachau ein.“
Louis Lefrançois: „Im Laufe der Nacht brechen im Inneren des Waggons Keilereien aus. Die Wachsoldaten lassen es geschehen. Um vier Uhr am Morgen [des 2. April] Ankunft in Dachau.”
Bernard Villette: „Die Nacht wurde unermüdlich von Halten und Wiederanfahren unterbrochen. Wir schliefen, aber der Hunger wurde zwanghaft. Wir hatten schon lange Zeit gehalten, als wir plötzlich mit Los, los! aus dem Schlaf gerissen wurden. Wir mussten aussteigen. […] Ja wir sind nach Dachau zurückgekehrt. Wir setzten uns wie letzten Juli vor der Krankenstation hin. Wir hatten Ostermontag, den 2. April 1945“.

US-Offiziere nach der Besetzung Oberkochens durch die Allierten im April 1945. Jetzt sitzen sie in der Villa Albert Leitz »friedlich« an einem Tisch, Deutsche und Amerikaner, nachdem noch wenige Tage zuvor Bomben auf Oberkochen geworfen worden waren. Siehe Bericht 263 in BuG vom 15.03.1996
Evakuierungsmarsch oder Todesmarsch?
– Ankunft im KZ Dachau
Von den 1.878 Häftlingen des Neckarelzer Evakuierungsmarsches, die am 2. April 1945 im KZ Dachau ankamen, wurden 1.655 unter den neu vergebenen Häftlingsnummern 147.281 bis 148.935 registriert, die anderen 223 wurden unter den alten Häftlingsnummern eines vorherigen Aufenthalts in Dachau verbucht. Mit dem selben Konvoi trafen die 129 Häftlinge der Natzweiler Außenlager Auerbach, Heppenheim und Mannheim-Sandhofen ein.
Unklar bleibt, warum an den beiden folgenden Tagen nochmals 45 eintreffende Häftlinge immatrikuliert wurden. Es waren am 3. April mindestens 13 Häftlinge unter den Nummern 148.947 bis 148.959 sowie am 4. April mindestens 32 Häftlinge, wobei nur fünf neue Nummern vergeben wurden, nämlich von 148.978 bis 148.982. Trafen sie schon am 2. April ein und wurden aus irgendwelchen Gründen erst später eingetragen? Waren sie Nachzügler auf dem Evakuierungsmarsch, die irgendwo wieder aufgelesen oder aufgegriffen wurden? Oder waren sie in Oberkochen nach dem Luftangriff geflüchtet und wieder aufgegriffen oder nach einer Verletzung behandelt und nachträglich mittels Lastwagen nach Dachau gebracht worden?

Der Grabstein auf dem Evangelischen Friedhof