Ich bin ein Kind der Sonnen­berg­stras­se, d.h. dass meine Kindheit durch das Gebiet rund um das Dreißen­tal und den Volkmars­berg geprägt ist. Beim Gang durch die Stras­sen und beim gelegent­li­chen Gespräch auf den Stras­sen mit den älteren Mitbürgern/innen, dräng­te sich die Idee auf, etwas über die alten Geschäf­te aus meiner Kindheit und Jugend zu schrei­ben. In diesem Hoheits­ge­biet meiner Kindheit gab es eine Reihe von Geschäf­ten, die es möglich machten, dass wir im Viertel fast alles kaufen konnten was wir brauch­ten, und die Geschäfts­leu­te und ihre Famili­en davon leben konnten. Das hat sich leider verän­dert, denn damit verän­der­te sich letzt­end­lich auch das Mitein­an­der, das im Laufe der Jahrzehn­te eher ein Neben­ein­an­der wurde.

In unserem Wohnquar­tier gab es nach meinen Erinne­run­gen nachfol­gend aufge­führ­te Geschäf­te (keine Garan­tie auf Vollständigkeit):

  • Den Schus­ter Walter
  • die Lebens­mit­tel­ge­schäf­te Grupp, Farys, Meroth, Sogas und Engel
  • die Bäcke­rei­en Fleury, Ficht­ner, Betzler
  • die Heißman­gel Grünna­gel und Grupp
  • das Café Weidl
  • den Foto-Kristen
  • die Friseu­re Hahn, Hurler und Linert
  • den Maler Steier
  • den Bestat­tungs­ord­ner Fröhlich
  • die Apothe­ke Irion
  • die Elektri­ker Betzler und Blum
  • die Flaschen­bier­hand­lun­gen Breit­weg, Kolb und Staschek
  • die Metzge­rei Reber
  • sowie das Gasthaus und Metzge­rei zur Sonne

Und mit dem Gasthaus und der Metzge­rei »ZUR SONNE« will ich begin­nen. Ich habe mich im Sommer letzten Jahres mit Franz Betz und Rosema­rie Ziesche geb Betz (die als Schul­ka­me­ra­din zu Maria Kaufmann noch heute Kontakt zu Oberko­chen hält) zu einem Gespräch zusam­men­ge­setzt und daraus resul­tiert dieser Artikel, der Ihnen hoffent­lich gefal­len wird und Sie zu einem Ausflug in vergan­ge­ne Zeiten einlädt. Alois Betz aus Berswang bei Bargau (geb 26.02.1908, gest 27.05.1969), und seine Frau Anna Betz geb. Laub (aus Lands­hau­sen in Baden) (geb 28.11.1909, gest 02.08.1983) haben zuerst in Waldstet­ten den Gasthof HIRSCH gepach­tet und sind 1938 nach Oberko­chen gezogen, wo wie den GRÜNEN BAUM in der Heiden­hei­mer Straße pachte­ten (heute Metzge­rei LERCH). Neben­bei sei angemerkt, dass Anna Betzen’s Vorfah­ren zu den Astor’s gehör­ten, die vor demnäcsht 100 Jahren (1912) auf der TITANIC ums Leben gekom­men sind. Die ganze Familie hat in der Wohnung über der Wirtschaft zum GRÜNEN BAUM gewohnt und wurde mit der Zeit immer grösser. Franz wurde bereits 1936 in Waldstet­ten geboren, Rosa Maria (Rosema­rie) wurde 1943 geboren und Anne There­sa (Annere­sie) kam 1949 zur Welt. Jetzt da die Familie groß war, wurde es Zeit für eine Verän­de­rung – ein eigenes Haus und eine eigene Metzgerei.

Oberkochen
Das Gasthaus »ZUR SONNE«
Oberkochen

Die Gaststu­be

Oberkochen

Die Beset­zung

Der Bau des Gasthau­ses »ZUR SONNE« begann im Herbst 1949. Der Aushub wurde, wie das damals üblich war und wie ich es auch noch kenne, mit Pickel, Schau­fel und Mannes­kraft durch­ge­führt. Die Männer, die das vollbrach­ten, waren der Sohn Franz Betz und ein Hr. Burr. Der Bau selbst wurde von der Fa. Apprich aus Aalen ab Frühjahr 1950 begon­nen und 1951 oder 1952 (ist unklar) fertig­ge­stellt. Durch diesen Schritt von Alois Betz began­nen auch harte Jahre für die Kinder, denn alle mussten mit anpacken. Alle Kinder konnten im elter­li­chen Betrieb eine Lehre machen, da der Vater den Meister­brief hatte. Franz hatte seine Lehre als Metzger bereits im GRÜNEN BAUM begon­nen und vollende­te diese in der SONNE. Die Mädchen Annero­se und Rosema­rie mussten sich die Lehrstel­le als Verkäu­fe­rin gegen den Vater erkämp­fen. Denn für Mädchen war seiner­zeit noch die Heirat vorge­se­hen und dafür brauch­te es keine Lehre. Franz erinnert sich noch heute daran, dass ihn Hr. Gillmei­er sen. mit seinem schwe­ren alten schwar­zen Motor­rad (das auch mich als Kind noch sehr beein­druckt hat) zur Gesel­len­prü­fung nach Aalen gefah­ren hat.

All die Jahre in der SONNE waren für alle von viel und harter Arbeit geprägt. Urlaub, Freizeit, Feier­abend waren für Alois Betz Fremd­wor­te und fanden damit für die Kinder auch nicht statt. Alois war ein harter Mann, der eiser­ne Prinzi­pi­en hatte, diese vorleb­te und von seiner Familie einforderte.

Für Franz war es beson­ders schwer. Er musste so früh aufste­hen wie ein Bäcker (3 Uhr morgens). Aber es gab keinen Feier­abend gemäß dem Motto seines Vaters: Ein Handwer­ker hat keinen Feier­abend. Es gab im Jahr 2 freie Tage, an denen die Familie ausschla­fen konnte: Am 1. Weihnachts­fei­er­tag und am Karfrei­tag. Sonst standen immer das frühe Aufste­hen und die Arbeit im Vorder­grund. Alois Betz hätte auch gerne am Karfrei­tag gearbei­tet, aber es durfte an diesem Tag in der Wirtschaft kein Fleisch gekocht oder verkauft werden. Viele thürin­ger Mitbürger/innen hatten dafür kein Verständ­nis und so schloss Alois kurzer­hand das Geschäft an diesem Tag und auf diese Weise kam die Familie zu einer Freizeit­stei­ge­rung um 100 % (von einem auf zwei Tage !)

Schlacht­vieh (Rinder, Kälber und Schwei­ne) kamen vom Viehhänd­ler Hoffmann aus Adels­mann­fel­den. Zu Zeiten des GRÜNEN BAUMS war es noch üblich, dass Franz mit Bargeld zu Fuß unter­wegs war, um in Roten­sohl, am Zahnberg oder in Ochsen­berg Bullen zu kaufen und diese dann zum Schlach­ten nach Oberko­chen treiben musste. Geschlach­tet wurde immer montags, und diens­tags gab es immer Schlacht­plat­te mit allem was dazuge­hört. Ich erinne­re mich auch, dass wir als Kinder beim Schlach­ten zuschau­en konnten. Wir sahen die Sauen im Trog liegen und die Bullen am Gestän­ge hängen. Franz hat uns hin und wieder etwas erklärt. Das waren für uns schon aufre­gen­de und beein­dru­cken­de Erlebnisse.

Die SONNE, wie wir alle sagten, hatte also mehre­re Stand­bei­ne und war erfolg­reich. Die Metzge­rei mit dem Verkauf von Fleisch und Wurst, die Wirtschaft und die Fremden­zim­mer. Ein einträg­li­ches Geschäft mit viel harter Arbeit und wenig Freizeit.

Es gab 9 Zimmer mit fließend Wasser und einem Bad und einer Toilet­te je Etage. Der Zimmer­preis lag bei ca. 10–12 DM incl. Frühstück. Da das Zimmer­an­ge­bot für die Geschäfts­leu­te und Monteu­re in Oberko­chen damals noch recht überschau­bar war (Sonne, Pflug und Grube), war es selbst­ver­ständ­lich die Gäste zum Konkur­ren­ten zu schicken, wenn man selbst belegt war. Häufig war man auch überbucht, d.h. Rosema­rie musste dann ihr Zimmer räumen und bei Papa und Mama schlafen.

Seiner­zeit hatte Wurst in Oberko­chen einen Namen – Alois Betz. Die Alten unter uns schwär­men heute noch von Alois’ Künsten des Wurst-Machens. Jedoch wurde das Geschäft mit der Wurst zuneh­mend härter, denn es gab Konkur­renz in der Umgebung: Reber, Sogas, Engel und Meroth boten ebenso Wurst an, die auch gut war und wir Kinder bekamen die Anwei­sung, zB die Schwarz­wurst in der SONNE und den Bierschin­ken beim Sogas zu kaufen. Vielleicht wissen es manche noch, Anton Schle­cker hat damals Wurst über Sogas verkauft. Zudem kam, dass die Warte­zei­ten an norma­len Wochen­ta­gen einfach zu lang waren, bis Fr Betz jedes Mal aus der Wirtschaft in den Laden herüber­kam. An Wochen­en­den, wenn alle Frauen hinter der Theke standen, gab es Schlan­gen bis auf die Stras­se hinaus. Der absolu­te Renner war Teller­sül­ze von Anna Betz, die wurde sogar sonntags in unvor­stell­ba­ren Mengen verkauft wurde. Auch die Wirtschaft war sonntags immer brechend voll. Es gab einfa­che und gute bürger­li­che schwä­bi­sche Küche: Schwei­ne­bra­ten, Schnit­zel mit Spätz­le, Bratkar­tof­fel, Kartof­fel­sa­lat. Wir Jungen gaben uns meist mit einem Teller ‚Spätze mit Soß’ zufrie­den. Auch zur jährli­chen Kirch­weih gab es immer reich­lich Zulauf. Der Stamm­tisch, gleich am Eingang rechts, war bekannt und immer gut besetzt. Die Haupt­dar­stel­ler waren u.a. die Herren Kolb, Dobschik, Geis, Sauer und Bestle.

Als Alois Betz 1969 verstarb, hat Franz mit seiner Mutter das Geschäft noch ca 1,5 Jahre weiter­ge­führt, aber irgend­wann ging es einfach nicht mehr und die Zeit der Verpach­tun­gen begann. Franz wechsel­te dann 1968 zu Hees & Eberhard, 1969 zu Rehm Esslin­gen, 1974 zu Ramme & Betz Stutt­gart und 1979 zu Barth & Seibold Aalen, wo er bis zu seiner Pensio­nie­rung im Jahre 1999 blieb.

Der Verkaufs­raum wurde an Brenner Fachsen­feld, an Schmid­le Charlot­ten­burg, an Zinnbau­er, an einen Türken (?) und an Sprin­ger verpach­tet. Die Gaststu­be wurde an Theil­a­cker (Cheetah), Gruber, Bischof, Kett, Pohl, Schub­ke, Vorwerk u.a. andere verpach­tet . Das ganze Ensem­ble wurde letztes Jahr an die Betrei­ber der jetzi­gen Gaststät­te HEXASTIABLE verkauft und damit ist die Geschich­te der Betzen’s auf der SONNE defini­tiv zu Ende.

Und doch gibt es noch etwas zu Franz zu sagen? Franz ist ein leben­des Lexikon auf zwei Beinen zum Thema METZGEREI. Jeder Mensch hat einen Traum. Oft einen, der sich nicht verwirk­li­chen ließ. Das gilt auch für Franz. Der Lebens­traum von Franz war immer „In Chica­go Metzger sein“. Das kann man nur verste­hen, wenn man weiß , dass Chica­go das El Dorado der Metzger war und dort die größten Schlacht­häu­ser der Welt waren. Aber dieser Traum konnte aus Kosten­grün­den nicht gelebt werden. So hat er sich litera­risch mit dieser Welt ausein­an­der­ge­setzt und sich das weltbe­rühm­te Buch ‚The Jungle’ von Upton Sinclair beschafft, der sich mit den Zustän­den anfangs des 20ten Jahrhun­derts in Chica­go beschäf­tigt hat. Auch hat sich Franz in einem Kochbuch von Franz Inzin­ger verewigt. Das Absur­de daran ist, dass er diese Rezep­te nie selbst auspro­biert hat. Er hat es sich nur überlegt, nach dem Motto ‚wie könnt’t m’r des macha’ und hat die Rezept an Max Inzin­ger geschickt und der hat sie in seinem Kochbuch veröf­fent­licht. Unglaub­lich, aber wahr.

D’r Franz isch scho au a b’sond’rer Kerl ond a Metzger mit Leib’ ond Seel, ganz wie d’r Alois, sei Vadd’r, nur mit oim Onder­schied – mit FEIERAOBAD, und seit 1999 mit 100-prozen­ti­gem Feier­abend, der Rente.

Wilfried Müller

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