»Oraosa« ist ein schwä­bi­scher Begriff, der auf der Ostalb durch­aus bekannt aber nachweis­lich nicht allen Alt-Oberko­che­nern geläu­fig ist, — ein Wort, das Nicht­schwa­ben so viel phone­ti­schen Aufwand abver­langt, dass das Unter­fan­gen, es ihnen mit Erfolg nahe bringen zu wollen, glück­li­cher­wei­se völlig hoffnungs­los ist. Für Beute­schwa­ben und andere Zugereis­te, die nicht wissen, was »Oraosa« sind, gibt es einschlä­gi­ge Lexikas. Zum Beispiel das bekann­te Schwä­bi­sche Handwör­ter­buch von »Mohr und Siebeck« (1986), wo man das Wort aller­dings und leider mit negati­vem Erfolg sucht — ein Beweis dafür, dass es immer wieder Dinge gibt, die es gar nicht gibt. Aus diesem Grund gegebe­nen­falls bitte weiterlesen.

Ein weite­res bedeu­ten­des Lexikon der Schwä­bi­schen Sprache ist neuer­dings der »Wax«. Hermann Wax, der in Oberko­chen durch seinen hervor­ra­gen­den Vortrag über den schwä­bi­schen Dialekt, den er vor 7 Jahren im Schil­ler­haus in Oberko­chen beim Heimat­ver­ein gehal­ten hat, in bester Erinne­rung ist, hat sein schon damals angekün­dig­tes »Lexikon der Etymo­lo­gie des Schwä­bi­schen« im Jahr 2005 heraus­ge­bracht. Vor zwei Jahren erschien es bereits in der 3. erwei­ter­ten Aufla­ge. Doch höchst betrüb­li­cher Weise sucht man auch in diesem inzwi­schen zu einem vielzi­tier­ten Standard­werk avancier­ten Lexikon vergeb­lich nach dem Wort »Oraosa«, seiner Bedeu­tung und seiner etymo­lo­gi­schen Herkunft. Also weiter­le­sen. Erfolg­reich wird man nämlich erst, wenn man in dem im Konrad Theiss Verlag im Jahr 1983 heraus gekom­me­nen Werk »Schwä­bisch vom Blatt« nachschlägt. Dort findet man auf Seite 186 in der rechten Spalte gleich mehre­re Schreib- und Ausspra­che­va­ri­an­ten dieses schwä­bi­schen Wortunikums.

Oberkochen

Als Stutt­gar­ter kannte ich das Wort nicht — ich lernte es aber bereits vor weit mehr als 40 Jahren in Oberko­chen kennen. Damals wurden wir einen Tag nach einem runden Nur-in- Familie-Geburts­tag von einer Alt-Oberko­che­ne­rin zu einem kleinen Nachge­burts­tags­kaf­fee­schwätz einge­la­den. Zu diesem Kaffee gab es ausdrück­lich und unmiss­ver­ständ­lich angekün­digt die »Oraosa« vom Vortag; das waren die übrig geblie­be­nen lecke­ren Kuchen vom Fest.

Der Zusam­men­hang »Reste vom Feste« scheint deutlich in Richtung der Urform der inhalt­li­chen Herkunft des Worts zu gehen, denn eine — aller­dings nicht beleg­ba­re — etymo­lo­gi­sche Erklä­rung für das Wort »Oraosa« ist, dass man anläss­lich einer solchen Nachfei­er nicht, wie tags zuvor, an mit »Rosen« festlich geschmück­ter Tafel, sondern an einem normal wie wochen­tags gedeck­ten schmuck­lo­sen Tisch sitzt, symbo­lisch also »ohne Rosen«. »o« »un«, = »ohne«, — ohne Rosen, — aber mit durch­aus noch intak­ten Kuchenstücken.

Dass die Vorsil­be »un« (= ohne) im Schwä­bi­schen als langes nasalier­tes »oh« ausge­spro­chen wird, ist bekannt — oheim­lich, ohgad­dich, ohmeeglich, ohahg­nehm, ohbacha… usw.

Die Dipthong-Verdre­hung von »ao« nach »oa« käme dem symbo­li­schen Rosen-Tisch­schmuck näher, denn zumin­dest in Oberko­chen sagt man zu Rosen nicht »Raosa« sondern »Rosa« oder auch »Roasa«.

Kleine Brösel oder Krümel auf dem Tisch, die man zur Unsicht­bar­ma­chung im Handbe­trieb hinun­ter auf den Teppich wischt, sind selbst­ver­ständ­lich auch »Oraosa«, die man in Oberko­chen gelegent­lich auch als »Oarao­sa« ausge­spro­chen hört. Auch die Form »Uraosa« hört man in Oberkochen.

»Oraosa« sind jedoch, wie unser Beispiel zeigt, nicht unbedingt nur »Brösel oder kleine Reste« — es können durch­aus auch größe­re Reste in der Bedeu­tung von »Übrig­ge­blie­be­nem« sein, wie im Lexikon »Schwä­bisch vom Blatt« zu recht erklärt ist.

Der Begriff »Oraosa« wird — was nicht im Lexikon steht, auch im bildli­chen Sinne verwen­det: »Mach«, oder »Machat mr fei koine Oraosa« ist im übertra­ge­nen Sinn eine mit symbo­lisch erhobe­nem Zeige­fin­ger ausge­spro­che­ne Ermah­nung an Zöglin­ge, sich anstän­dig zu beneh­men Fest steht, dass die Begrif­fe »Oraosa« und »Oroasa« zu den Wörtern gehören, die der Urknall des schwä­bi­schen Dialekts hervor­ge­bracht hat.

Über das Wort »Oraosa« stolper­te ich erst wieder, als ich es jüngst wie selbst­ver­ständ­lich im Gespräch mit einer Alt-Oberko­che­ne­rin verwen­de­te, die mich mit dem »Wie-bitte-Blick« ungläu­big anschau­te und äußer­te, dass sie das Wort noch nie gehört habe. Erst als ich dann mit Seite 186 meines Lexiki­ons »Schwä­bisch vom Blatt« kam, reagier­te sie gleich jeman­dem, der in den Grund­fes­ten alter Überzeu­gung erschüt­tert wurde — denn sie schien mir nicht zu glauben. Unsere Bekann­te war dann sozusa­gen prophy­lak­tisch oder postphy­lak­tisch noch am gleichen Tag zur Nachba­rin geeilt, um sich die Richtig­keit meiner Aussa­ge von einer ebenfalls echten Einge­bo­re­nen bestä­ti­gen zu lassen. Jetzt glaubt sie’s.

Stutt­gar­ter sind im alten Oberko­chen eben nach wie vor verdächtig.

Dietrich Bantel

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