1945 – Neues Leben

Deutsch­land am Boden. Laut Google 55 Millio­nen Kriegs­to­te. Zerstör­te Städte. Lebens­mit­tel­man­gel, Geldnot. — Und dennoch:

Das Leben ging weiter.

Einer der ungezähl­ten Bewei­se dafür ist die Gastspiel­di­rek­ti­on Martha Kunz, die sich ab 1945 in Oberko­chen aufge­baut und gegrün­det hatte. Unser Aufruf im Amtsblatt vom 17. April 2009 hat ein überra­schend reich­hal­ti­ges Echo hervor­ge­ru­fen. Die uns gegebe­nen Infor­ma­tio­nen zu Martha Kunz und ihrer „Schau­stel­ler-Truppe“, wie sie von einem Zeitzeu­gen genannt wurde, haben wir deshalb im folgen­den Bericht zusammengefasst.

Am Anfang war „Marie­chen“ Schuh­ma­cher aus Düssel­dorf, von woher diese „ausge­bombt“ nach Oberko­chen kam, wohl 1944 schon, und zusam­men mit weite­ren Verwand­ten und Bekann­ten gegen Kriegs­en­de im Hause Max Tritt­ler von dessen Mutter in der Aalener Straße 43 aufge­nom­men worden war. Dem damals erst 9 Jahre alten Max Tritt­ler ist unver­gess­lich, wie eines Tages der Oberko­che­ner Dritte-Reichs-Bürger­meis­ter Heyden­reich ins Haus kam und Marie­chen mitteil­te, dass ihr Mann gefal­len sei.

Unter den im Hause Tritt­ler weiter aufge­nom­men Heimat­lo­sen aus Deutsch­lands Norden war dann bald auch Martha Kunz, — ebenfalls aus Düssel­dorf kommend (und nicht aus Köln, wie sich andere Zeitzeu­gen erinner­ten). Martha Kunz hat mit dem kleinen Max zur Nacht gebetet und ihm Zauber­kunst­stü­cke vorge­macht, die sie im Wohnzim­mer übte. An Ostern hat sie den Has für ihn legen lassen.

Martha Kunz war zusam­men mit dem Oberko­che­ner Otto Kopp nach Oberko­chen gekom­men. Sie hatte ihn in Düssel­dorf kennen­ge­lernt, wo er als Stukka­teur tätig gewesen war. Mögli­cher­wei­se entstan­den so die ersten Kontak­te zwischen Düssel­dorf und Oberko­chen schon gute Zeit vor Kriegs­en­de. Zunächst wohnte Martha Kunz dann bei Tritt­lers in der Aalener Straße. Später im Jahr 1945 kam sie im damals so genann­ten „HJ-Heim“, dem späte­ren Bergheim (Sonnen­berg­schu­le) unter. 1918 geboren hatte sie, wie berich­tet wird, im Zweiten Weltkrieg als Varie­té-Künst­le­rin à la Hilde­gard Knef in unter­halt­sa­men Darbie­tun­gen eines Theaters für deutsche Solda­ten an der russi­schen Front mitge­wirkt. Selbst Erinne­run­gen an Marilyn Monroe werden wach…

Martha Kunz wird von den Zeitzeu­gen in der Summe als hübsche, unter­neh­mungs­lus­ti­ge tempe­ra­ment­vol­le, leutse­li­ge, saube­re, lusti­ge, witzi­ge und charman­te Person beschrie­ben, die in Oberko­chen schnell die „Haupt­ma­che­rin“ einer Varie­té-Gastspiel­trup­pe gewor­den ist, die sie um sich herum aufge­baut hat. Martha Kunz lief im Nachkriegs-Oberko­chen offizi­ell unter dem Attri­bu­ten „Schau­spie­le­rin“ und „Zaube­rin“. Sie hatte, wie die Schwa­ben sagen „Verputz aufge­legt“, das heißt: sie schmink­te sich, — weshalb sie von den Oberko­che­ne­rin­nen hin und wieder „scho schee schäpps aguckt“ wurde — den Manns­bil­dern habe sie besser gefallen.

Zu dieser mindes­tens 9‑köpfigen – mögli­cher­wei­se 10- oder 11-köpfi­gen Truppe gehör­ten in sehr unter­schied­li­chen Funktio­nen. 1) Marthas Bruder, Helmut Kunz, ein hervor­ra­gen­der Schif­fer­kla­vier­spie­ler, von dem bekannt ist, dass er den Oberko­che­nern mit seinem Instru­ment auch außer­halb der Vorstel­lun­gen Freude berei­tet hat; vor allem erinnert man sich, dass er auf Oberko­che­nes Straßen häufig das Lied „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“ gespielt hat. 2) Marthas Bruder Jupp Kunz, Schrei­ner, wohl in dieser Funkti­on auch in der Truppe aktiv – Kulis­sen­bau. 3) Hans Bewers­dorff (Lotto­stel­le), der als Confé­ren­cier fungier­te und als solcher aktuel­le Geschich­ten und Witze ins Programm einstreu­te. Herr Bewers­dorff zählte zu den langjäh­ri­gen Freun­den von Martha Kunz. 4) Ein Herr Jooß, der, zusam­men mit einer Mina Linder, als Akrobat und Tänzer auftrat. 5) Mina Linder führte Spitzen­tanz vor und beherrsch­te zur Freude der Zuschau­er auch Schuh­platt­ler­ein­la­gen. Dann erinner­ten sich Zeugen an 6) ein Fräulein Karin Schaupp, (später Maier) das auch das „Fräulein Nummer“ genannt wurde, weil sie als Nummern­an­sa­ge­rin für die einzel­nen Programm­punk­te über die Bühne schweb­te. Zur Gruppe gehör­te auch 7) eine Frau Engel­hard mit bislang unbekann­ter Funkti­on. Frau Engel­hard war auch im Kiosk „Ennepez“ in der Bahnhof­stra­ße beschäf­tigt. (Von dem Ennepez-Kiosk suchen wir noch immer ein Foto). Ferner gehör­te zur Truppe 8) ein ca. 17-jähri­ges Mädchen, nicht aus Oberko­chen, dessen Namen mit den Jahrzehn­ten verlo­ren ging. Inwie­weit die Schwes­ter des Josef Wehrle, 9) die Benedic­ta Wehrle, deren Künst­ler­na­me „Benne­wer­re“ (Benn von Benedic­ta, Werre von Wehrle) war, zu der Truppe gehör­te, oder ob sie die Truppe nur gefah­ren hat, (sie war Kraft­fah­re­rin bei Peters­hans und Betzler) ist noch nicht geklärt. Dann wurde 10) noch ein Geiger namens Koch als Mitglied in der Schau­stel­ler­grup­pe genannt. Und zu guter Letzt natür­lich 11) Martha Kunz selbst. Unser Foto 1 aus dem Jahr 1958 zeigt

Oberkochen

die als Schau­spie­le­rin und unter anderem auch als Magie­rin mit Zauber­tricks auftre­ten­de Künst­le­rin. Zeugen­zi­tat: „… mit so Gegge­le ennama Huat, — on plötz­lich war halt nix meh dren em Huat“. Auch Jonglie­ren gehör­te zu ihrem Programm. — Die Truppe, die zahlrei­che Veran­stal­tun­gen selbst organi­sier­te, aber auch „gemie­tet“ werden konnte, hatte es sich unter der „Direk­ti­on“ von Martha Kunz gegen alle Vernunft und alle Widrig­kei­ten der Zeit zur Aufga­be gemacht, durch Tanz, Akroba­tik, Musik und Unter­hal­tung etwas Freude in die düste­re Zeit zu bringen – gewiss auch zum Zwecke des Geldverdienens.

Als öffent­li­che Veran­stal­tungs­or­te, natür­lich mit Eintritts­kar­ten, sind bekannt: das „Martha-Leitz-Haus“ in Oberko­chen, das „Rössle“ in Königs­bronn und das „Konzert-Haus“ in Heiden­heim. Die ersten öffent­li­chen Auftrit­te des Ensem­bles waren gemäß der Erinne­run­gen der Zeugen bereits im Septem­ber 1945.

Martha Kunz lebte zunächst zusam­men mit dem bereits erwähn­ten Otto Kopp, Sohn des „Difte­le“- der einen Koloni­al­wa­ren­la­den — ein „richti­ges Tante Emma Lädle“, in der Heiden­hei­mer Straße führte, in dem auch Martha Kunz mitar­bei­te­te. Sie wohnte dann, nach Haus Tritt­ler und dem Bergheim als Logie-Inter­mez­zo in der Sperber­st­a­ße 15 bei Josef Wehrle. Nachdem Otto Kopp und sie 1947 gehei­ra­tet hatten, wohnte sie im Haus des Koloni­al­kauf­manns Otto Kopp in der Heiden­hei­mer­stra­ße 44, wo sich dann auch die Agentur der Gastspiel-Direk­ti­on befand – also vis-à-vis des Geschäfts der Marga­re­te Unfried (Schreib­wa­ren, Spiel­wa­ren, Lederwaren).

Martha Kopp starb 1972 in einem Heiden­hei­mer Kranken­haus bereits im Alter von 54 Jahren an einem Gehirn­tu­mor. Otto Kopp heira­te­te 1988 wieder und lebt heute 85-jährig zusam­men mit seiner zweiten Frau in Giengen.

Es ist erstaun­lich, dass sich eine solche Varie­té-Truppe in dem kleinen Nachkriegs­dorf Oberko­chen doch gerau­me Jahre lang halten konnte; die auf ein Kuvert aufge­druck­te Firmie­rung „Gastspiel­di­rek­ti­on Martha Kunz, 14 a Oberko­chen“ spricht für sich. Martha Kopp war eine echte Unter­neh­me­rin. Hut ab.

Oberkochen

Unser Foto 2 zeigt den Aufdruck auf das Kuvert aus dem Besitz des Ostalb-Schrift­gut­ar­chivs Wieland / Lautern, das den Ausschlag für unsere Nachfor­schun­gen gegeben hat.

Was nur noch die Älteren wissen: Martha Kunz (Kopp) war genau genom­men die Begrün­de­rin der Oberko­che­ner Fasnet – aller­dings nicht in der im Schwä­bi­schen tradi­ier­ten aleman­ni­schen Form der Fasnet, sondern in der Form des rheini­schen Karne­vals (Fasching). Sie hatte diese Form des Feierns aus Düssel­dorf mitge­bracht, aber auch in einer in ihr selbst angebo­re­nen origi­na­len Form der Reinlän­de­rin. Die ersten Oberko­che­ner Faschings­ver­an­stal­tun­gen fanden auf Martha Kopps Initia­ti­ve hin ab der Fünfig­zer­jah­re des letzten Jahrhun­derts in einem großen Raum im „Grünen Baum“ in der Heiden­hei­mer Straße (heute Lerch) statt.

Oberkochen

Unser Foto 3 zeigt Martha Kunz (Kopp) auf einem Foto der Alters­ge­nos­sen ihres Jahrgangs 1918 (5. von rechts in der vorde­ren Reihe). Unter ihnen befin­det sich Edwin Gold (6. von rechts in der mittle­ren Reihe), dessen Witwe uns das Foto, das anläss­lich des 40er-Fests im Jahr 1958 vor dem Bergheim aufge­nom­men wurde, freund­li­cher­wei­se zur Verfü­gung stell­te. Von den Jahrgangs­ge­nos­sen 1918 leben heute noch 4. Frau Gold wies darauf hin, dass sich 1958 erst ganz wenige „Fremde“ unter den Alters­ge­nos­sen befanden.

Herzli­chen Dank allen Infor­man­ten: Helmut Gold, Gertrud Gold, Valeria Franz, Josef Wehrle, Max Tritt­ler, Hilde Friebe, Regine Soutschek, Ursula Kopp, Krista Hurler und ein Oberko­che­ner, der nicht genannt sein will, sowie zahlrei­chen weite­ren Oberko­che­nern, die durch kleine Hinwei­se Materi­al zu diesem Bericht beigetra­gen haben.

Dietrich Bantel

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