Teil 2
Ich will nun noch einige persön­li­che Erinne­run­gen aufzei­gen, die mir zugetra­gen wurden oder mir durch eigene Erleb­nis­se in Erinne­rung geblie­ben sind:

Es gab anfangs jeden Tag Vorstel­lun­gen (7 Tage die Woche), Montags bis Freitags eine Abend­vor­stel­lung, Freitags zusätz­lich eine Spätvor­stel­lung gegen 23 Uhr, Samstag­nach­mit­tags und — abends und Sonntags eine Matinée, eine Nachmit­tags- und eine Abendvorstellung.

Bei Filmen „freige­ge­ben ab 18 Jahren“ war oft die Polizei anwesend um Ausweis­kon­trol­len vorzu­neh­men und war das Wetter schlecht oder kalt, blieben die Hüter des Geset­zes gleich da, um sich das „Teufels­zeug“ gleich mit anzuschau­en. Es gab Vorstel­lun­gen, bei denen man volks­fest­ähn­lich mit dem Schif­fer­kla­vier ins „Parkett“ einge­zo­gen ist.

Auch kam mir zu Ohren, dass ein Besucher einge­schla­fen ist und nächtens von Albert Schlei­cher befreit werden musste, da er nach dem Erwachen großen Radau veran­stal­te­te, um sich bemerk­bar zu machen. Seitdem musste nach jeder Vorstel­lung geprüft werden, ob sich noch jemand im Saal befand, um sich von der Anstren­gung des Betrach­tens des „Teufels­zeugs“ schla­fen­der Weise zu erholen. Nicht wenige nutzen die Dunkel­heit des Kinos, um ihrem Schatz näher sein zu können, als es sonst in der Öffent­lich­keit möglich war und ich kann bestä­ti­gen, dass es auch für uns Jungpu­ber­tie­ren­de ein emotio­nal erheben­des Gefühl war, mit dem Schatz in der Loge zu sitzen und neben­bei den Film anzuschauen.

Beson­de­res Glück hatten natür­lich die Schul­freun­de von Hans Schlei­cher (hier sei beson­de­res der berühm­te „Sechser-Club“ erwähnt) und meine Klasse, die das Glück hatte, Alfred in ihren Reihen zu wissen. Hans und Alfred Schlei­cher gaben für ihre besten Freun­de manch­mal Privat­vor­stel­lun­gen. Bei denen wurde dann schon mitun­ter auf den Seiten­gän­gen Rollschuh gefah­ren und vor der Bühne elegant nach rechts und links abgeschwenkt. Alfred hatte leider etwas Angst vor Bruder und Vater und so mussten wir uns immer mit einer Vorfüh­rung ohne Ton begnü­gen. Das war zwar nicht ganz das Wahre, aber man konnte damit immer­hin das Problem der Alters­frei­ga­be umgehen und da saßen wir oft mit heißen Ohren und staunen­den Augen ob der Darbie­tun­gen auf der Leinwand.

Einmal haben wir Alfred so gedrängt, dass er uns Freikar­ten „beschafft“ hat, ohne zu ahnen, was da auf ihn zukam. Sein Vater merkte natür­lich, dass Karten plötz­lich fehlten (alle Karten waren numme­riert und Freikar­ten wurden äußerst sparsam kontrol­liert ausge­ge­ben). Nicht nur, dass wir für unsere „Freikar­ten“ nichts bezahl­ten, es mussten natür­lich Steuern auf diese Karten bezahlt werden. Alfred hat dafür sicher­lich eine ernst­haf­te körper­li­che Ermah­nung bekommen.

Oberkochen

Faszi­nie­rend war für mich auch das gesam­te Vorpro­gramm, das jedem Haupt­film voraus­ging und wir als „Vorspei­se“ zum „Haupt­ge­richt“ betrach­te­ten. Da war zuerst die Wochen­schau „Welt im Film“ mit ihrem musika­li­schen Fanfa­ren­vor­spann, der einpräg­sa­men Stimme des Sprechers und die äußerst inter­es­san­ten Filme, die wir mit den heuti­gen Nachrich­ten­sen­dun­gen verglei­chen können. Dann gab es da noch Kultur­fil­me, Trailer­shows und Kurzfil­me. Ich mochte das und war umso glück­li­cher, je mehr es davon gab, da es mir Welten eröff­ne­te, die ich nicht kannte.

Begeh­rens­wert waren auch die Filmpro­gramm­hef­te. Die „Illus­trier­te Filmbüh­ne“ konnten in den Kinos für ein paar Pfenni­ge gekauft werden und waren eine Schatz­gru­be an Zusatz­in­for­ma­tio­nen zu den Filmen. Daneben gab es noch „Das neue Filmpro­gramm“ und den „Illus­trier­ten Film-Kurier“. Schwie­rig war es, Filmpla­ka­te zu bekom­men, um das eigene Zimmer mit Lieblings­schau­spie­lern und ‑Filmen auf möglichst reiße­ri­schen Plaka­ten auszu­stat­ten. Hier war ich schon sehr auf die Unter­stüt­zung von Alfred angewie­sen, der mir hier und da doch einen Wunsch erfül­len konnte.

An der Kinokas­se war es nahezu unmög­lich, sich in einen Film „ab 16“ einzu­schmug­geln, wenn Albert Schlei­cher an der Kasse saß. Er wusste genau, wie alt wir waren und schick­te uns gnaden­los wieder hinaus. Ein Erleb­nis der beson­de­ren Art war auch der Auftritt vom „Motschen­ba­cher“, der mitun­ter, wenn er im „blauen Done und Gummi­stie­feln“ durch das Dorf lief, den Stock schwang und auf die Kinobe­su­cher, die sich am Heimweg befan­den, einbrüll­te, was sie für verlot­ter­te Wesen seien, sich so einen „Schwein­kram“ anzuschau­en. Die Älteren unter uns können sich sicher noch gut an ihn erinnern. Er wohnte im Staren­weg und für uns war es immer eine beson­de­re Mutpro­be, ihm nicht aus dem Weg zu gehen, wenn er uns entge­gen kam — aber ein ungutes Gefühl hatten wir immer, wenn wir ihm begeg­ne­ten. In meiner Kindheit wurde gemun­kelt, dass sein Verhal­ten wohl auf inten­si­ve Kriegs­er­leb­nis­se zurückging.

Auch gab es Sonder­ver­an­stal­tun­gen wie z.B. Verkaufs­ak­tio­nen für Heizde­cken und Haushalts­ar­ti­kel. Hier erinne­re ich mich an Sonder­film­vor­füh­run­gen für die Schulen wie z.B. „Die Olympi­schen Spiele in Rom“. Hartnä­ckig hält sich auch das Gerücht, dass „Pat und Patachon“ in Oberko­chen waren. Dem war nicht so. Es war zwar geplant, konnte aber nicht reali­siert werden. Auch Didi Bantel hatte ein nettes Erleb­nis. Aufre­gen­den Filmge­nuss versprach der Film, Deine Frau, das unbekann­te Wesen. (Der Film hat nicht viel Licht ins Dunkel gebracht. Wir sind heute noch manch­mal ratlos) Didi und Susi rechne­ten mit großem Andrang, aber nichts derglei­chen geschah. Man fand sich zu sechst im Kinosaal ein, zusam­men mit dem evange­li­schen Pfarrer und seiner Frau sowie einem Lehrer­kol­le­gen vom hiesi­gen Gymna­si­um und dessen Frau und gelang­te dann nach 2 Stunden mühsa­mer spannungs­lo­ser unero­ti­scher Darbie­tung völlig geschafft wieder ins Freie. Das ließ auch schon darauf schlie­ßen, dass die Tage des Oberko­che­ner Kinos gezählt waren.

Oberkochen

In den 60er Jahren ging das Geschäft immer schlech­ter. Albert Schlei­cher hatte zwar schon Pläne entwor­fen, auf dem gleichen Grund­stück ein zweites Kino zu erstel­len (Richtung Frühling­s­tra­ße wo heute das Wohnhaus steht), nahm dann aber doch Abstand davon. Wahrschein­lich bewahr­te ihn hier sein kaufmän­ni­sches Gespür vor einem großen Fehler.

Oberkochen

Es kam das Jahr 1964. Das Kino wurde in einem letzten Versuch an den Filmver­tre­ter Kampmül­ler verpach­tet und dieser betrieb das Filmthea­ter noch bis ins Jahr 1968. Danach war endgül­tig Schluss. Oberko­chen wurde offizi­ell zur Stadt ernannt und das Kino für alle Zeiten geschlos­sen. Das Gebäu­de wurde an die Firma Zeiss vermie­tet, die im alten Kinosaal hohe Regale errich­te­te und ihr Werbe­mit­tel­la­ger darin unter­brach­te. Später ließ Albert Schlei­cher hinter dem Kino und neben der Zahnarzt­pra­xis Gebert, ein Büroge­bäu­de errich­ten, das er ebenfalls an die Firma Zeiss vermie­te­te. Diese unter­hielt dort ihre Werbe­ab­tei­lung. Als dann Carl Zeiss die Strate­gie verfolg­te, ausge­la­ger­te Firmen­ein­hei­ten aufzu­lö­sen und auf das Firmen­ge­län­de zurück­zu­ho­len, wurde der vorde­re Bereich als Pizze­ria und der hinte­re Bereich in einen Wohnungs­trakt umgebaut. Die Immobi­li­en, wie wir sie heute kennen (inkl. dem „Fässle“) gehören heute den Kindern von Albert und Erna Schlei­cher. In deren Namen kümmert sich der ältes­te Sohn Hans heute um die organi­sa­to­ri­schen und finan­zi­el­len Belan­ge. Inter­es­sant fand ich noch bei den Recher­chen, dass das Thema „Kino, Film, Bild“ in der Familie Schlei­cher weit verbrei­tet war und teilwei­se noch ist. Alberts Schwes­ter Marta Bley (geb. 1913), die als einzi­ge bis heute alle Geschwis­ter überleb­te, war Kinobe­sit­ze­rin in Herbrech­tin­gen. Das dorti­ge Kino war an die Familie Walde­mai­er verpach­tet worden und ich erinne­re mich, dass ich einmal aus deren Wohnzim­mer direkt durch eine zu öffnen­de Klappe in den Kinosaal schau­en konnte und dadurch in den Genuss kam, meinen ersten „Godzil­la-Film“ zu sehen. Bruder Wilhelm, der als Landarzt in Leutkirch tätig war, war ebenfalls Kinobe­sit­zer. Hans und Alfred hatten in jungen Jahren die Fotogra­phie und das Entwi­ckeln von Papier­ab­zü­gen zu ihrem Hobby erkoren. Roswi­tha veröf­fent­licht heute wunder­ba­re Fotos im Inter­net (siehe dazu folgen­de Web-Adres­se) http://www.foto-community.de/pc/pc/pcat/248616

Ich danke ganz beson­ders den Kindern Hans, Alfred und Roswi­tha, sowie den Puschs und den Holden­rieds, die es mir ermög­lich­ten, dies alles zusam­men­zu­tra­gen und für Sie aufzu­be­rei­ten. Keine Frage, Oberko­chen wurde damals durch die Schlie­ßung gesell­schaft­lich ärmer, weil ein Kino damals eine Funkti­on hatte, welche die heuti­ge Jugend nicht mehr zu erken­nen vermag und auch für sich nicht mehr braucht. Es war eine emotio­nal aufre­gen­de Zeit, da es wenige kultu­rel­le Angebo­te gab, das Filmerleb­nis einen Einblick in eine aufre­gen­de und unerreich­ba­re Welt gab und man nicht viele Möglich­kei­ten hatte, seinem/seiner Liebs­ten im Dunklen nahe zu sein.

PS:
Jetzt stellt sich natür­lich die Frage: Was war vor der Zeit des Schlei­cher-Kinos und danach? Hier kam nur sehr vage und wenig Licht ins Dunkel. Davor gab es, wie so oft in Oberko­chen die Familie Grupp, die etwas bewerk­stel­lig­te. Anton Grupp (der Vater von Horst Grupp im Wiesen­weg) und dessen Schwa­ger Hans Hillmer betrie­ben in grauer Vorzeit die „Kocher-Licht­spie­le“. Es handel­te sich dabei um ein Wander­ki­no, mit dem sie im Gasthof HIRSCH (Saal) in Oberko­chen vorführ­ten und auch auf dem Land wie z.B. in Dorfmer­kin­gen, Pfahl­heim und anderen Orten. Dann kam die Zeit des 1.000-jährigen Reiches. Aus diesen 12 Jahren war nicht viel zu erfah­ren, außer dass es im Martha-Leitz-Haus Vorfüh­run­gen gab. (Deshalb verwei­se ich hier auf die Berich­te 518 und 519 von Didi Bantel).

Das Martha-Leitz-Haus wurde am 15. Novem­ber 1982 abgeris­sen. Nach 1968 übernahm die damali­ge „Junge Gemein­de“ das Filmge­schäft für einige Zeit. Bis 1994 war es dunkel in Oberko­chen, was die Kinoge­schich­te in Oberko­chen angeht. Seit 1994 gibt es die Kino-Mobil AG, die regel­mä­ßig Filme für Alt und Jung im Bürger­saal zeigt. Ich wünsche mir, dass der Artikel eigene Erinne­run­gen wach ruft und würde mich freuen, wenn weite­re Infor­ma­tio­nen und Fotos zu diesem Thema beim Heimat­ver­ein oder bei Didi Bantel, Tel. 07364–7377 eintref­fen würden und verab­schie­de mich mit Löwen­ge­brüll von MGM.

Wilfried Müller

Oberkochen

Weitere Berichte aus dieser Kategorie

Weitere Berichte