Unser Mitglied Wilfried Müller hat in den letzten Monaten in engagier­ter und mühsa­mer Arbeit einen sehr fundier­ten heimat­kund­li­chen Bericht ganz beson­de­rer Art geschrie­ben, den wir im Lauf der nächs­ten Wochen in einer Folge von zwei Beiträ­gen in gekürz­ter Form veröf­fent­li­chen. Unser Dank gilt vor allem ihm, ferner den vielen Perso­nen, die ihm bereit­wil­lig Auskunft gegeben und ihn in seinen Nachfor­schungs­ar­bei­ten unter­stützt haben. Die weite­re Folge erscheint im Amtsblatt »Bürger und Gemein­de« unter Vereins­nach­rich­ten am 02.10.2008. Da wir, um den Kino-Bericht nicht ausein­an­der­zu­rei­ßen, vom üblichen Dreiwo­chen­rhyth­mus abwei­chen, bitten wir um Verständ­nis dafür, dass nach der Veröf­fent­li­chung einige Amtsblatt-Ausga­ben ohne heimat­kund­li­che Bericht­erstat­tung erscheinen.

Dietrich Bantel

Teil 1
Vor 40 Jahren, am 26. Febru­ar 1968, schloss das Kino in Oberko­chen für immer seine Pforten und Oberko­chen verlor dadurch einen zentra­len Treff­punkt gesell­schaft­li­chen Lebens, an das sich viele von uns noch gerne erinnern. Durch Recher­chen und Gesprä­che ist es mir gelun­gen, diese Vergan­gen­heit wieder leben­dig werden zu lassen. Ich lade Sie ein, mit mir zusam­men eine Reise durch das Land des Films zu unter­neh­men. Treten Sie ein in eine längst vergan­ge­ne Zeit …

Als die Bilder laufen lernten

Für einen allge­mei­nen histo­ri­schen Abriss und eine kleine Vorschau auf die Zukunft des Films im Allge­mei­nen verwei­sen wir auf das Inter­net. Dort können Sie den ersten allge­mei­nen Teil bei Inter­es­se anfor­dern. Aus Platz­grün­den können wir diesen Teil leider nicht veröffentlichen.

Mach Dir ein paar schöne Stunden, geh’ ins Kino

Mit diesem berühm­ten Werbe­slo­gan lockte man uns in meiner Kindheit in die Kinos und beson­ders in eines — das Filmthea­ter Oberkochen.

Wir gehen zurück in die Zeit des ersten Weltkrie­ges. Nicht weit von hier, in Pflaum­loch, lebte die Familie Wilhelm (geb. 1875 gest. ?) und Walbur­ga Schlei­cher geb. Rathge­ber (geb. ? gest. 1966). Sie waren Butter­groß­händ­ler und ernähr­ten, wie für die damali­ge Zeit üblich, eine große Familie. Das Geschlecht der „Schlei­cher von Baldin­gen“ lässt sich bis in das Jahr 1674 zurückverfolgen.

Oberkochen

Walbur­ga schenk­te Ihrem Wilhelm 12 Kinder (There­sia, Emma Maria, Franz Josef, Josef Wilhelm, Leonhard, Walbur­ga, Vikto­ria, Marta, Matthi­as, Anton, Albert und Josefa). Einige von ihnen kamen wohl schon mit „Kaufmanns­blut“ auf die Welt, so auch Albert, der am 16.11.1917 geboren wurde. Seine Ehefrau, Erna Kaufmann, über deren Eltern uns derzeit nichts bekannt ist, wurde am 10.3.1923 in Utzmem­min­gen geboren. Ihre Eltern erwirt­schaf­te­ten sich ihren Lebens­un­ter­halt in Utzmem­min­gen als Schmid und als In- haber eines Lebens­mit­tel­ge­schäf­tes. Wann die Großel­tern gestor­ben sind, ist derzeit nicht bekannt (es ist anzuneh­men, dass sie vor der Geburt von Hans Schlei­cher gestor­ben sind). Aus der Kindheit und Jugend­zeit von Albert und Erna Kaufmann ist nichts Näheres bekannt. Später kam die Kriegs­zeit, die Albert als Soldat verbrach­te und Erna als Handar­beits­leh­re­rin in Utzmem­min­gen. Dort spiel­te sie auch während des Krieges die Kirchen­or­gel, da alle Männer in den Krieg zogen. Als der Krieg zu Ende war, ging es überall im Land aufwärts und Männer mit Mut, Gespür und kaufmän­ni­schem Geschick nutzten ihre Chance. So auch Albert Schlei­cher. Er gründe­te mit seiner Schwes­ter Dora Streh­le in Nördlin­gen eine Beklei­dungs­fa­brik mit dem Namen „Schlei­cher und Streh­le“. Die damali­ge Produkt­pa­let­te umfass­te preis­wer­te Schutz­klei­dung aus Gummi, Bakel­lit u.ä.m. Später zog sich Albert aus der Firma zurück.

Oberkochen

Diese nannte sich dann „Streh­le“ und vor ca. 30 Jahren änder­te sich die Firmie­rung in „Strenes­se“ und ist heute ein weltweit operie­ren­des Unter­neh­men, das edles Tuch in moder­nem Design herstellt.

Albert und Erna verkauf­ten nun das Wohnhaus mit der Schmie­de und das Lebens­mit­tel­ge­schäft in Utzmem­min­gen und mit diesem Erlös wurde der Plan eines Kinos in Oberko­chen in die Tat umgesetzt. Die Familie, inzwi­schen fast komplett (Hans geb. 18.02.1949 und Alfred geb. 16.01.1951), zog 1951 in das neue Haus ein. Am 05.04.1953 wurde Roswi­tha geboren und komplet­tier­te die Familie, zu der inzwi­schen auch ein kleiner schwar­zer Hund mit Namen „Waggerl“ gehörte.

Die Familie hatte in diesem großen Haus sehr viel Platz und die Kinder genos­sen die großzü­gi­gen Räume, um eine schöne Kindheit zu verbrin­gen. Die Kinder hatten wohl gemein­sam mit dem Dienst­mäd­chen unter dem Dach ein Stock­werk mit ca. 300 qm für sich.

Oberkochen

Albert und Erna Schlei­cher waren ein Paar, das sich gegen­sei­tig ergänz­te. Albert war streng, ehrgei­zig, witzig, verschmitzt, gesel­lig und sehr umtrie­big, was sich durch verschie­de­ne Aktivi­tä­ten auch im Oberko­che­ner Kultur­le­ben nieder­schlug (siehe 8. Bezirks­mu­sik­fest Juli 1952 — Bericht folgt später). Erna war von sanfter Natur und ausglei­chen­dem Wesen und hatte künst­le­ri­sches Blut in den Adern, das beson­ders an Roswi­tha weiter­ge­ge­ben wurde. Die Kinder erhiel­ten eine gute Erzie­hung und gute Möglich­kei­ten zur Ausbil­dung. Hans ist heute Techni­scher Direk­tor bei „Strenes­se“ in Nördlin­gen, Alfred ist Beamter bei der Bundes­wehr in Ellwan­gen und Roswi­tha arbei­tet bei der Fraun­ho­fer­ge­sell­schaft in München.

Nach 4 1/2 monati­ger Bauzeit eröff­ne­te Albert Schlei­cher das Kinozeit­al­ter 1951 in seinem Kino „Filmthea­ter Oberko­chen’ mit dem Film „Verklun­ge­nes Wien“. Die Technik war zeitge­mäß modern und wurde von dem Filmvor­füh­rer Günter Pusch bedient, der die „Lizenz zum Vorfüh­ren“ durch einen 3‑Tages-Kurs in Stutt­gart erhielt. Grund­kennt­nis­se erhielt er auch von Frau Lotz, die früher im Martha-Leitz-Haus Filmvor­füh­re­rin war und später im UNION-Kino in Aalen arbei­te­te. Herr Pusch war vom Anfang bis zum Ende (1968) verant­wort­li­cher Haupt­vor­füh­rer und unter­wies auch die Kolle­gen Manfred Penzing und Albert Neuhaus. Der ganze Betrieb wurde von Albert Schlei­cher geführt. Im Laufe der Jahre arbei­te­ten dort mit: Erna Schlei­cher im Karten­ver­kauf, der Platz­an­wei­ser Harry Motsch (bekannt für seinen roten Pullover), die Holden­rieds im Karten­ver­kauf und als Rekla­me­chef, die Filmvor­füh­rer und Perso­nen, die putzten. Ein- bis zweimal im Jahr wurde eine große „Kaugum­mi-Abkratz-Aktion“ durchgeführt.

Oberkochen

Verdient wurde anfangs nichts. Man arbei­te­te ohne Bezah­lung und durfte dafür die Filme umsonst anschau­en, bekam hin und wieder ein Vesper oder Albert machte mit seiner Truppe einen kleinen Ausflug. Erst in späte­ren Jahren wurden auch diese Diens­te entlohnt. Das galt nicht für den Filmvor­füh­rer. Dieser wurde von Anfang an mit 2,50 DM pro Vorstel­lung (später gab es dann 5 DM) entlohnt. Urlaub gab es keinen und Herr Pusch musste sich notfalls Vertre­tun­gen selbst suchen und diese bezah­len. Als Heizung diente eine Holz- und Kohlen­hei­zung. Über deren Geblä­se wurde etwas Fichten­na­del­duft einge­bla­sen, wenn das Kino voll besetzt war und die Gefahr bestand, dass das Klima „unerträg­lich“ wurde. Mitun­ter wurden auch beson­ders inten­si­ve duften­de Besucher separat platziert, um die anderen Gäste nicht über die Maßen zu belästigen.

In den ersten Jahren war das Kino oft hoffnungs­los überfüllt und man holte im Notfall noch Stühle aus der Nachbar­schaft (z.B. beim Maler Hausmann) und stell­te alle zusätz­li­chen Klapp­stüh­le auf, bis alle Flucht­we­ge gänzlich versperrt waren, um den Andrang bewäl­ti­gen zu können. Karten­vor­be­stel­lun­gen waren üblich und es wurde reich­lich davon Gebrauch gemacht. So kam es nicht selten vor, dass 50 % der Plätze im Vorver­kauf schon belegt wurden. Samstag und Sonntag gab es keine freie Platz­wahl, um das Ganze organi­sa­to­risch gut über die Bühne zu bringen. So gab es auch komplet­te Abos und man verband diese „gnaden­los“ an der Kasse mit dem Namen des Besuchers. Als „Parkett mit Kaugum­mi“ war unser Hartmut Müller bestens bekannt. Die Schlan­gen am Kassen­häus­chen gingen nicht selten bis auf die Dreißen­tal­stra­ße hinaus. Die erfolg­reichs­ten Filme waren damals „Der Förster vom Silber­wald“, „Brücke am Kwai“, „Ben Hur“, die „Sissy-Filme“, die „Karl-May-Filme“, „Tarzan“ und unver­ges­sen „Fuzzy“, „Jerry Cotton“ und „Eddie Constantine“.

Wie kam man aber an die Filmrol­len? Dafür gab es Filmver­tre­ter wie die Herren Blunk und Kampmül­ler. Diese vertrie­ben die Filme an die Kinobe­trei­ber. Das Geschäft war hart und nicht ohne Risiko. Wenn man einen guten oder einen sehr guten Film wollte, musste man einen 12er- oder gar einen 24er Block nehmen. D.h. für einen guten Film musste man 11 oder 23 mittel­präch­ti­ge bis schlech­te Filme nehmen. Da gab es keine Wahl, wenn man gegen Aalen und Heiden­heim bestehen wollte. Da war es dann eine Frage des Geschicks, auch die schlech­ten Filme so zu vermark­ten, dass genug Zuschau­er kamen. Auch war es durch­aus üblich, die Filme schon zu vertrei­ben, wenn sie noch gar nicht gedreht waren (!). Mit den Abschlüs­sen der Vertre­ter ging der Produ­zent zu den Banken, lieh sich das notwen­di­ge Geld, ließ den Film dann von dem Regis­seur drehen und schnei­den, um ihn dann möglichst schnell in die Kinos zu bringen. Ich finde diese Art der Finan­zie­rung faszinierend.

Oberkochen

Die Filmrol­len wurden per Bahnex­press angelie­fert und Günter Pusch oder Alfred Schlei­cher holten die Filme dann mit einem Handwä­gel­chen oder mit dem Moped am Bahnhof ab. Auf einer Rolle waren ca. 600 Meter Film bei einem Gewicht von ca. 25 bis 30 kg.

Da musste man schon hart arbei­ten, bis die Filme im Vorführ­raum waren. Werbung wurde über „Bürger und Gemein­de“ sowie über einen Aushang beim heuti­gen Haus „Elektro-Schurr“ (Seite Bahnhofstras­se) gemacht, in dem Franz Holden­ried seine Plaka­te und Bilder aufhäng­te. Und nicht selten wurde dabei von den männli­chen Dorfbe­woh­nern gefragt, was er da wieder für „Teufels­zeug“ aushängt. Es ist wohl anzuneh­men, dass die Herren das „Teufels­zeug“ dann auch im dunklen Kinosaal begeis­tert ansahen.

Das schlimms­te „Teufels­zeug“ der 50er Jahre schaff­te es jedoch nicht ins Oberko­che­ner Kinopro­gramm. „Die Sünde­rin“ mit Hilde­gard Knef konnte wegen Einspruchs der Kirche nicht gezeigt werden.

Oberkochen

(Origi­nal­mahn­wort des Kölner Erzbi­schofs Frings: »Ich erwar­te, dass unsere katho­li­schen Männer und Frauen (.) in berech­tig­ter Empörung und in christ­li­cher Einmü­tig­keit die Licht­spiel­thea­ter meiden, die unter Missbrauch des Namens der Kunst eine Auffüh­rung bringen, die auf einer Zerset­zung der sittli­chen Begrif­fe unseres christ­li­chen Volkes heraus­kommt.« So mussten auch alle geplan­ten Filme von Albert Schlei­cher mit dem Bürger­meis­ter und dem Pfarrer abgespro­chen werden, denn für „Teufels­zeug“ ist natür­lich die Kirche zustän­dig. Das versteht sich ja von selbst. Der Bürger­meis­ter war natür­lich mehr an den Steuern inter­es­siert, denn für jeden Film mussten 20 % Vergnü­gungs­steu­er bezahlt werden. Albert war natür­lich daran inter­es­siert, weniger Steuern zu bezah­len und das ging, wenn der Film mit dem Prädi­kat „wertvoll“ ausge­zeich­net war. Überhaupt ist es inter­es­sant, wie die Einnah­men verteilt wurden: 40 % gingen an den Filmver­leih, 20 % als Vergnü­gungs­steu­er an die Stadt, die Beleg­schaft musste bezahlt werden und der Rest verblieb dann dem Kinobetreiber.

Die Kinokar­ten mussten rollen­wei­se im Rathaus geholt werden. Anhand der aufge­druck­ten Nummern wurde der Verkauf errech­net und die Steuer erhoben. Die Vergnü­gungs­steu­er musste bis Ende 1968 bezahlt werden. Da verstand der damali­ge Bürger­meis­ter Bosch keinen Spaß denn Vergnü­gen ist Vergnü­gen! Am besten lief das Geschäft für alle Betei­lig­ten in den 50er Jahren.

Fortset­zung folgt.

Wilfried Müller

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