Ihre Herkunft und frühe Geschich­te bis zum Unter­gang des Thüringerreiches

Wie uns Venan­ti­us Fortu­na­tus, der Dichter und Bischof von Poitiers im fränki­schen Aquita­ni­en, berich­tet, hatten die Thürin­ger am Ende des 5. Jahrhun­derts einen sehr mächti­gen König namens Bisinus. Die Bezie­hun­gen zu anderen Germa­nen­stäm­men suchte er durch familiä­re Verbin­dun­gen fester zu knüpfen. So lag ihm vor allem an einem guten Einver­neh­men mit den Lango­bar­den, die im 5. Jahrhun­dert aus der Altmark und von der unteren Elbe kommend durch thürin­gi­sches Gebiet in das »Rugiland« (Nieder­ös­ter­reich) gezogen waren. Bisinus’ Gattin Menia stamm­te aus einem lango­bar­di­schen Adels­ge­schlecht. Zweimal heira­te­ten lango­bar­di­sche Könige dann thürin­gi­sche Königs­töch­ter (siehe Stamm­ta­fel des Thürin­gi­schen Königs­hau­ses), eine Bündnis­po­li­tik, die sich gegen die aufkom­men­de fränki­sche Großmacht richte­te. Theode­rich der Große, der Ostgo­ten­ko­nig, glieder­te die Thürin­ger in sein antifrän­ki­sches Bündnis ein, indem er um 510 Hermi­n­af­red, dem Sohn des Bisinus, seine Nichte Amala­ber­ga zur Frau gab. Sie war die Tochter seiner Schwes­ter Amalaf­rie­da und des Vanda­len­kö­nigs Thrasamuch. Als Braut­ge­schenk übersand­te Hermi­n­af­red an Theode­rich Grauschim­mel aus edels­ter Thürin­gi­scher Pferde­zucht. Der Dankes­brief Theode­richs ist uns überlie­fert: »Mit Dank teilen wir euch mit, daß wir von eurem Gesand­ten die kostba­ren Gaben angenom­men haben. Pferde mit silbri­ger Farbe beklei­det, wie sie sich als Braut­ge­schenk ziemten. Ihre Brüste und Schen­kel sind ansehn­lich mit rundli­chem Fleisch ausge­stat­tet. Die Rippen erstre­cken sich in ziemli­cher Breite, der Bauch ist auf kurzem Raum zusam­men­ge­drängt. Der Kopf gibt das Bild eines Hirsches wieder, mit einem solchen haben sie sicht­bar Ähnlich­keit, wenn sie seine Schnel­lig­keit nachah­men. Sie sind bei beträcht­li­cher Wohlge­nährt­heit sanft, durch große Schwe­re auffal­lend, im Anblick erfreu­lich, im Gebrauch recht angenehm«. Die Bedeu­tung der Pferde­zucht im Thürin­gi­schen Reich bestä­ti­gen auch die über 50 aufge­fun­de­nen Pferdegräber.

Mit Amala­ber­ga kam sicher auch das gotisch-ariani­sche Chris­ten­tum an den thürin­gi­schen Königs­hof, denn ein Brief Theode­richs an Hermi­n­af­red läßt erken­nen, daß dieser, wie auch Theode­rich, ariani­schen Glaubens war. Die Arianer betrach­te­ten Chris­tus nur als Gott wesens­ähn­lich, nicht aber als wesens­gleich, vernein­ten also die Gottheit Christi.

Das Reich der Thürin­ger war im 6. Jahrhun­dert ein bedeu­ten­der Macht­fak­tor in Mittel­eu­ro­pa. Ihr Gebiet war wesent­lich umfang­rei­cher als die heuti­ge thürin­gi­sche Landschaft. Nach den zeitge­nös­si­schen u. frühmit­tel­al­ter­li­chen Quellen bilde­te die südli­che Grenze die Donau, im Mainge­biet zwischen Thürin­ger Wald und Würzburg grenz­te es an das Gebiet der Alaman­nen; im Nordos­ten reich­te es mindes­tens bis an die Elbe.

Der Vollstän­dig­keit halber sei erwähnt, daß um 500 auch Thürin­ger am Nieder­rhein bezeugt sind, die das angel­säch­si­sche »Widsith­lied« von den Ostthü­rin­gern unter­schei­det. Vermut­lich unter­nahm eine Gruppe der Thürin­ger einen der vielfach bezeug­ten Landnah­me­zü­ge, der schließ­lich zur Nieder­las­sung zwischen Maas und Schel­de führte. An den König dieser westli­chen Thürin­ger war wohl der Brief Theode­richs gerich­tet, der diesen zum Eingrei­fen gegen die Franken zuguns­ten der Westgo­ten veran­las­sen sollte.

Nach der um 508 erfolg­ten Einglie­de­rung der Chatten in das Franken­reich grenz­te dieses nun direkt an das der Thürin­ger. Kurz zuvor hatten auch die Alaman­nen ihre politi­sche Selbstän­dig­keit verlo­ren. Als der Ostgo­ten­kö­nig Theode­rich im Jahre 526 starb, hielten die Franken den Augen­blick für gekom­men, sich auch die letzten freien Germa­nen­stäm­me Mittel­eu­ro­pas, die Thürin­ger und Burgun­den, einzu­ver­lei­ben. Die Thürin­ger waren zu dieser Zeit isoliert; mit den benach­bar­ten Sachsen waren sie verfein­det, die ehemals verbün­de­ten Lango­bar­den suchten sich mit den Franken durch Heirats­po­li­tik zu arrangieren.

Wie das Franken­reich war auch Thürin­gen geteilt, neben dem König Hermi­n­af­red traten seine Brüder Berthach­ar und Baderich als Teilkö­ni­ge auf. Der erste Vorstoß des Franken­kö­nigs Theude­rich in das Gebiet der Thürin­ger im Jahre 529 führte zwar zur Besei­ti­gung des Teilkö­nigs Berthach­ar, der bei diesen Kämpfen fiel, er brach­te aber nicht die gewünsch­te Unter­wer­fung der Thürin­ger. Erst ein gemein­sa­mes Aufge­bot beider fränki­schen Teilrei­che, zusätz­lich unter­stützt durch sächsi­sche Kontin­gen­te, brach­te 531 den Franken den Sieg. Sicher ist, daß zu dieser Zeit nur noch Hermi­n­af­red lebte und das ganze Thürin­ger­reich in seiner Hand verei­nigt hatte.

Die von dem fränki­schen Bischof und Geschichts­schrei­ber Gregor von Tours in seiner »Histo­ria Francorum« erwähn­ten Strei­tig­kei­ten im Thürin­gi­schen entspre­chen wohl ebenso wie die angeb­li­che Ermor­dung Berthach­ars durch Hermi­n­af­red und die Einla­dung an den Franken­kö­nig Theude­rich zum gemein­sa­men Kampf gegen Hermi­n­af­reds zweiten Bruder Baderich nicht den Tatsa­chen; sie sind wohl zur morali­schen Legiti­ma­ti­on des fränki­schen Überfal­les in Umlauf gesetzt worden — ein frühes Beispiel für Geschichtsfälschung.

Der Hergang des Krieges ist im einzel­nen nicht feststell­bar. Sicher haben mehre­re Schlach­ten statt­ge­fun­den. Die letzte und entschei­den­de Schlacht an der Unstrut endete in einer bluti­gen und vernich­ten­den Nieder­la­ge der Thürin­ger. Eine der schöns­ten deutschen Sagen, das Iringlied, kündet von der Königs­burg Scinthin­gi (Burgschei­dun­gen) als der Residenz des Thürin­ger­kö­nigs Hermi­n­af­red und als Schau­platz der großen Schlacht. Die dichte­ri­sche Form dieses Liedes ging leider verlo­ren, seinen Inhalt kennen wir jedoch aus der im 10. Jahrhun­dert entstan­de­nen Sachsen­ge­schich­te des Widukind von Corvey. Nur wenige Thürin­ger entka­men dem Blutbad an der Unstrut, unter ihnen König Hermi­n­af­red mit seiner Familie. Die Franken zerstör­ten den Hof des Königs und entführ­ten seinen Neffen und seine Nichte Radegun­de, die am Königs­hof leben­den Kinder seines Bruders Berthach­ar. Um Radegun­de entbrann­te ein Streit unter den fränki­schen Königen, sie wurde schließ­lich zur Ehe mit König Clothar gezwun­gen. Die Absicht war wohl dabei, den Anspruch Clothars auf Thürin­gen zu legiti­mie­ren. Nachdem Clothar Radegun­des Bruder kaltblü­tig ermor­den ließ, verließ sie ihn und ging in das Kloster von Poitiers. Venan­ti­us Fortu­na­tus, der ihr naheste­hen­de Bischof von Poitiers hat uns ihr Leben in der »Vita Radegun­dis« und auch ihre Klage­lie­der überlie­fert, in denen sie ergrei­fend den Unter­grund des Thürin­ger­rei­ches schildert:

»O du trauri­ges Los des Krieges, du neidi­sches Schick­sal!
In wie plötz­li­chem Sturz sinken doch Reiche dahin! Lange gesicher­te Stätten des Glücks, hochra­gen­de Giebel
Liegen, vom Sieger verbrannt, kläglich in Trümmern und Schutt.«

Wir erfah­ren von der Königs­hal­le mit goldschim­mern­dem Dach, die nun glühen­de Asche bedeckt. Sie klagt, daß die edlen blonden Frauen in die Gefan­gen­schaft abgeführt wurden, während die Leichen der Männer unbeer­digt auf dem Schlacht­fel­de liegen müssen. Radegun­de starb hochver­ehrt, später heilig gespro­chen, im Kloster zum heili­gen Kreuz in Poitiers. Den Verlust der Heimat hat sie nie verges­sen können:

»Ein jeder hat sein eigenes Leid gehabt, ich allein aber das Leid von allen:
Der Schmerz des Reiches ist zugleich mein eigener Schmerz.
Gut gemeint hat es das Geschick mit den Männern, welche der Feind getötet hat.
Ich allein habe alle überlebt und lebe, um sie zu beweinen.«

Hermi­n­af­red sammel­te die Reste seines Heeres im Südos­ten Thürin­gens jenseits der Saale. Im Jahre 534 wurde er von den fränki­schen Königen unter Verbür­gung seiner Sicher­heit zu Verhand­lun­gen nach Zülpich im Rhein­land gelockt und dort arglis­tig ermor­det, indem man ihn von einer Mauer stürz­te. Die Königin Amala­ber­ga floh mit ihren Kindern zu ihrem Bruder Theoda­had nach Itali­en und geriet dort in den Unter­gang der Ostgo­ten hinein. Sie kam als Gefan­ge­ne nach Byzanz; ihr Sohn Amalaf­red trat als Herrmeis­ter in römische Diens­te. Es ist bezeich­nend für die Stellung des thürin­gi­schen Königs­hau­ses, daß es einem thürin­gi­schen Königs­sohn ohne weite­res möglich war, eine so hohe Positi­on im Oströ­mi­schen Reich einzunehmen.

In Thürin­gen war die Kraft des Stammes durch die Besei­ti­gung des König­tums gebro­chen. Für ihre Hilfe­leis­tung fiel den Sachsen das thüri­ni­gi­sche Gebiet nördlich der Unstrut und östlich der unteren Helme und des sogenann­ten Sachsen­gra­bens zwischen Wallhau­sen und Sangerhau­sen zu. Das restli­che Thürin­gen bilde­te fortan einen Teil des fränki­schen Staates.

(Schluß folgt).

Oberkochen

Dr. Jochen Kämmerer

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