Ihre Herkunft und frühe Geschich­te bis zum Unter­gang des Thüringerreiches

Sind die Thürin­ger Nachkom­men der Hermun­du­ren? Ist Thürin­gen Hermun­du­ren­land? Diese Frage hat gegen Ende des letzten Jahrhun­derts die Vor- und Frühge­schicht­ler sehr heftig bewegt. So versuch­te z.B. der um die Erfor­schung der altthü­rin­gi­schen Geschich­te sehr verdien­te Erfur­ter Oberforst­rat Werne­burg nachzu­wei­sen, daß die Thürin­ger Nachkom­men der Cherus­ker sind, was auch deren Verschwin­den aus der Geschichts­schrei­bung erklärt hätte. Ihm wurde u.a. sehr heftig von dem Histo­ri­ker Alfred Kirch­hoff in dessen Schrift »Thürin­gen doch Hermun­du­ren­land« widersprochen.

Es hat auch nicht an Versu­chen gefehlt, den Namen Thürin­ger aus dem der Hermun­du­ren abzulei­ten. Der Name Hermun­du­ri besteht aus dem verstär­ken­den indoger­ma­ni­schen Bestim­mungs­wort * ermun und dem Grund­wort * doroz, so daß sich die Überset­zung Groß-Duren daraus ergeben könnte. Der große Germa­nist und Sprach­for­scher Jacob Grimm äußer­te in seiner »Geschich­te der deutschen Sprache« Beden­ken gegen die sprach­li­che Ablei­tung, da nach den Geset­zen der Lautver­schie­bung das gotische th, das althoch­deut­sche d, eigent­lich ein latei­ni­sches t verlangt, so daß es in den latei­ni­schen Texten Hermun­tu­ren heißen müßte. Er hat diese Beden­ken aber unter­drückt, da ihm die Ablösung der Hermun­du­ren durch die Thürin­ger als erwie­sen galt. Gerade Grimms Beden­ken haben immer wieder zu Zweifeln geführt, die bis in unsere Zeit angehal­ten haben, obwohl nach dem im Jahre 1875 von dem dänischen Sprach­for­scher Karl Verner formu­lier­ten Gesetz die Ablei­tung des Wortes Thürin­ger von den Hermun­du­ren sprach­wis­sen­schaft­lich wieder als möglich angese­hen werden kann.

Die Endung »-ing« bezeich­net im Germa­ni­schen sowohl die Zugehö­rig­keit zu einer meist ethni­schen Gemein­schaft als auch die Abstam­mung; die Thürin­ger könnten also durch­aus auch schon vom Namen her Nachfah­ren der (Hermun-)Duri sein.

Aller­dings wäre dann der selte­ne Fall einer Namens­kür­zung einge­tre­ten, während der umgekehr­te Fall der übliche in der Geschich­te ist. Eine endgül­ti­ge Namens­deu­tung ist bis heute noch nicht gelungen.

Wer sind sie nun diese Thürin­ger?
Wenn auch für das 3. und 4. Jahrhun­dert schrift­li­che Quellen über die Bevöl­ke­rung zwischen Mittel­el­be und Thürin­ger Wald fehlen, so sind doch archäo­lo­gi­sche Zeugen in reicher Zahl vorhan­den. Sie erlau­ben einen guten Einblick in die Geschich­te dieser Zeit.

Anhand des Fundma­te­ri­als läßt sich schlüs­sig bewei­sen, daß eine leich­te Verschie­bung des elbger­ma­ni­schen, also hermun­du­ri­schen Siedlungs­rau­mes nach Südwes­ten statt­ge­fun­den hat. Dabei wurden rhein-weser-germa­ni­sche Bevöl­ke­rungs­tei­le aufge­so­gen und mit den hermun­du­ri­schen verschmol­zen, so daß daraus sehr bald eine einheit­li­che Kultur vorwie­gend elbger­ma­ni­scher Prägung entstand. Aus den Grabungs­fun­den läßt sich eine Linie von den Hermun­du­ren zu den Thürin­gern ziehen. Trotz der Völker­wan­de­rung und den mannig­fa­chen Verschie­bun­gen der Siedlungs­räu­me zu dieser Zeit haben die Hermun­du­ren ihre Wohnsit­ze nicht oder nur wenig verändert.

Thürin­gen ist also Hermun­du­ren­land. Teile der Hermun­du­ren sind aber in Bewegung geraten. Wir haben bereits von den Südher­mun­du­ren gehört; auch die Alaman­nen, die im 3. Jahrhun­dert den süddeut­schen Raum besie­del­ten, bestan­den in ihrer Mehrheit aus elbger­ma­ni­schen Stämmen, vor allem wohl Semno­nen und Hermunduren.

An der Bildung des Thürin­ger­rei­ches waren aber offen­sicht­lich auch norddeut­sche Germa­nen­stam­me betei­ligt. Die schrift­li­chen Quellen des frühen 6. Jahrhun­derts nennen die Thürin­ger mehrfach in Verbin­dung mit Angeln und Warnen. In dem im 9. Jahrhun­dert aufge­zeich­ne­tem Volks­recht der Thürin­ger »lex Anglio­rum et Werino­rum, hoc est Thuring­orum« (Gesetz der Angeln und Warnen, das heißt der Thürin­ger) werden die Namen sogar synonym gebraucht, danach gehören wohl auch die Angeln und Warnen zu den Kernvöl­kern des Thürin­ger­rei­ches. Vermut­lich sind sie im 3. oder 4. Jahrhun­dert in das nördli­che Thürin­gen eingewandert.

Manche Namen erinnern daran: Im Norden Thürin­gens ist der Gauna­me Engelin überlie­fert mit der Dörfer­grup­pe Kirch‑, Holz‑, Feld- und Westeren­gel. Auf die Warnen weist die Bezeich­nung Weren­o­feld für das Land östlich der Saale hin. Auch die im nördli­chen Thürin­gen häufi­gen Ortsna­men auf ‑leben gehen auf nördli­che Zuwan­de­rer zurück.

Wie lebten die alten Thürin­ger, was sagen uns darüber die Funde?

Ihre Siedlun­gen bestan­den aus kleine­ren oder größe­ren Gehöft­grup­pen, die häufig auf kleinen Anhöhen über Gewäs­sern angelegt wurden. Die Thürin­ger waren ebenso­we­nig wie die anderen Germa­nen jene martia­li­schen Gesel­len, als die sie uns heute erschei­nen, weil uns die Geschichts­schrei­bung vor allem ihre Kriegs­ta­ten überlieferte.

Der Pflug stand ihnen näher als das Schwert, sie waren vor allem Acker­bau­ern und Viehzüch­ter. Neben Schwei­nen, Rindern, Schafen und Ziegen wurden auch Pferde, Hunde und Hühner als Haustie­re gehal­ten. Die Jagd spiel­te für die Versor­gung eine unter­ge­ord­ne­te Rolle. In den bäuer­li­chen Haushal­ten wurde gespon­nen, gewebt und einfa­che Keramik herge­stellt. Daneben gab es aber auch regel­rech­te Töpfer­werk­stät­ten, die eine hochwer­ti­ge, für Thürin­gen charak­te­ris­ti­sche Drehschei­ben­ke­ra­mik aus feinge­schlämm­tem dunkel­grau­en Ton produ­zier­ten. Diese Töpfe­rei­en waren offen­bar ebenso wie die Bronzegießer‑, Kunst- und Goldschmie­de­werk­stät­ten an die meist abseits der bäuer­li­chen Siedlun­gen gelege­nen Adels­hö­fe gebun­den. Zeugen des kunst­hand­werk­li­chen Könnens sind vor allem Fibeln (Gewand­span­gen) aus Bronze oder meist vergol­de­tem Silber.

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Die Fibeln waren Schmuck­stü­cke und dienten gleich­zei­tig einem prakti­schen Zweck, mit ihnen wurde z.B. das Frauen­gewand über den Schul­tern geschlos­sen, größe­re Fibeln hielten den aus einem Stück bestehen­den Mantel zusam­men. Typisch für Thürin­gen sind die oft sehr kunst­vol­len Zangen- und Vogel­kopf­fi­beln mit Alman­din-Einla­gen als Vogel­au­gen (Alman­din ist ein zur Granat-Gruppe gehören­der roter Schmuck­stein). Ein heraus­ra­gen­des Beispiel für die thürin­gi­sche Goldschmie­de­kunst sind die bei Großör­ner, Krs. Hettstedt, gefun­de­nen golde­nen Pferde­tren­sen. Es gab auch kleine Werkstät­ten, die Knochen und Gewei­he zu oft reich verzier­ten Kämmen und anderen Gebrauchs­ge­gen­stän­den verarbeiteten.

Männer und Frauen trugen Gürtel aus Stoff oder Leder, die mit einer metal­le­nen Schnal­le geschlos­sen wurden. Am Gürtel der Frauen war ein Beutel für Messer und anderes Klein­ge­rät befes­tigt. Die ebenfalls am Gürtel getra­ge­ne Leder­ta­sche der Männer enthielt meist Messer oder Schere und Feuer­zeug (Feuer­stein und Pinkstahl). Viel von unserem Wissen über die damali­ge Lebens­wei­se verdan­ken wir der Sitte, den Toten das persön­li­che Eigen­tum mit in das Grab zu geben: den Frauen vor allem Schmuck, den Männern Waffen. Auffal­lend häufig wurden in Thürin­gen sehr hochwer­ti­ge, damas­zier­te Schwer­ter gefunden.

Seit der Mitte des 5. Jahrhun­derts wurden die Toten gleich dem Brauch der Alaman­nen, Bajuwa­ren und Lango­bar­den in westöst­lich orien­tier­ten Reihen­grä­bern beigesetzt. Bei den benach­bar­ten Sachsen war zu dieser Zeit noch Brand­be­stat­tung üblich.

Nach der Ersterwäh­nung der Thürin­ger in der »Mulome­di­ci­na« des römischen Veteri­närs werden die Thürin­ger — wie schon gesagt — unter den Truppen des Hunnen­kö­nigs Attila bei der großen Schlacht auf den Katalau­ni­schen Feldern in der Champa­gne im Jahre 451 genannt. Die Einbe­zie­hung in den hunni­schen Macht- und Kultur­be­reich dokumen­tiert auch die künst­li­che Defor­ma­ti­on der weibli­chen Schädel, die in 22 thürin­gi­schen Gräber­fun­den nachge­wie­sen wurde. Die Ausbrei­tung dieser Sitte, den Kopf durch Umschnü­rung mit Binden vom Säuglings­al­ter an zu einem Turmschä­del zu defor­mie­ren, stammt aus Klein­asi­en und kam mit den mongo­li­schen Reiter­völ­kern nach Westen. Die Turmschä­del kommen nur bei Germa­nen­stäm­men vor, die stärke­ren Kontakt mit den Hunnen hatten bzw. direkt zu deren Herrschafts­be­reich gehör­ten, wie Ostgo­ten, Gepiden, Hermun­du­ren und Burgun­der. Diese defor­mier­ten Schädel sind so etwas wie ein Gradmes­ser für die Inten­si­tät des hunni­schen Einflus­ses in der ersten Hälfte des 5. Jahrhun­derts. Etwa die Hälfte der mit Schädel­de­for­ma­ti­on gefun­de­nen Frauen dürfte nach ihrem Habitus einhei­misch gewesen sein, die anderen Toten zeigen mongo­li­schen Einschlag: entwe­der waren es Hunnin­nen, die bei Thürin­gern einge­hei­ra­tet haben, oder solche, die nach Zerschla­gung der Hunnen­macht unter diesen als Unfreie lebten. Verbin­dun­gen zwischen Germa­nen und Hunnen hat es wohl gegeben, denn auch Attilas zweite Frau war eine Germanin.

(Fortset­zung folgt.)

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Dr. Jochen Kämmerer

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