Sie waren schon im letzten Jahr im »Wolfertstal« und im Ort und keiner wollte das so richtig wahr haben: Die Wildschweine.
Nun sind sie wieder da — jede Nacht.
Sie kommen von drauß vom Walde her und von oben vom Berg herab, und nähern sich unserer kleinen Stadt in erschreckendem Maße — ja, sie sind schon mitten drin in der Siedlung, die im Lauf der letzten 20 Jahre im »Spitztal« zwischen dem Sträßchen zum Aussiedlerhof Pflugwirt und der Langertstraße entstanden ist.
Die am weitesten vorgedrungenen Wildschweine graben derzeit wurzelsuchend zu nächtlicher Stunde ungeniert bereits auf der Höhe des Kinderspielplatzes und der vis-a-vis befindlichen geschlossenen Bebauung ortseinwärts am rechten »Roina«. Sie wühlen sich auf der Suche nach »wilde Gäalrieaba« (wilde Möhren) in den steilen Hang des »Roina« und schmeißen dabei Erde und Steinbrocken auf die Straße herab. Man muss das Schlimmste befürchten.
Zwar ist die Schwarzwild Schonzeit seit dem 14. Juni vorbei, aber die Grundregel, dass auf einzelne Bachen nicht geschossen wird, gilt trotzdem — sie könnten ihre noch pflegebedürftigen Frischlinge »abgelegt« haben und dürfen deshalb nicht erlegt werden. Die Ortsjäger haben bei den Schwarzkitteln offenbar nur bedingt Chancen.
Es ist also nicht auszuschließen, dass die Wildschweine demnächst bis zum Eugen-Bolz-Platz und damit zum Rathaus vordringen. Nicht auszudenken, wenn eines Morgens der Bürgermeister kommt und seine Wirkungsstätte von Wildschweinen in Besitz genommen vorfände.

Die folgende Geschichte trug sich, wie mir einer unserer Jäger berichtete, wahrhaft zu:
Kürzlich ruhte sich gegen Mitternacht ein »Tschocker« auf der Bank gegenüber des Spielplatzes an dem beschriebenen Sträßchen aus. Plötzlich schnuffelte es gar seltsam im Gebüsch hinter dem »Tschocker«. Der Mann drehte sich herum und blickte entsetzten Auges direkt in das monderhellte lüsterne Antlitz einer mittelalterlichen Wildsau. Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf und sauté kopflos davon vor der Sau, ortseinwärts, der Meinung, das Untier werde ihm nicht in die Geborgenheit der dichteren Bebauung folgen — ein granatenmäßiger Irrtum, wie sich alsbald zeigte; denn die Wildsau, nicht faul, setzte ihm schnurstracks nach, wobei sie ihm einen Vorsprung von ca. 5 Metern gewährte. Die wilde Jagd führte unweit des Wohngebäudes unseres ahnungslos in seligem Schlummer befindlichen Bundestagsabgeordneten vorbei, dann um die Ecke beim Segelfliegerhäusle herum in die ehemalige Schillerstraße einbiegend Richtung Versöhnungskirche — die Sau noch immer hinter dem »Tschocker« her, mitnichten an Versöhnung denkend. Nun bogen der Verfolgte und seine Verfolgerin, d.h. der »Tschocker«, dem die Beine langsam schwer wurden, und hinterher die immer noch muntere Sau, nach links Richtung Rathaus ab. Dort konnte der so übel Gehetzte nicht mehr, brach folgerichtig in sich zusammen und schloss mit dem Leben ab. »Bild« würde berichten: »Tschocker vor Oberkochener Rathaus von Wildsau gefressen«. Aber es passierte nichts. Rein gar nichts. So dachte dieser nach geraumer Zeit, die Sau habe Angst vor einem toten »Tschocker« bekommen und sei abgehauen. Dieser fasste sich alsdann ein Herz und öffnete die Augen. Aber oh weh! Voll Entsetzen blickte er abermals in dieses gräuselig lüsterne wildsäuliche Antlitz. Er spürte den warmen Atem der Sau auf sich herabsinken und schloss erneut mit dem Leben ab. Da hörte er, wie die Sau über ihm sprach: »Jetz, was isch, Kumpel, packat mr’s wieder?«
Wer sich also in den Sommernächten luftschnappenderweise im »Spitztal« oder im »Wolfertstal« ergeht, muss dies eingedenk dieses atemberaubenden Berichtes tun.
Dietrich Bantel