Vor 50 Jahren am 1. Mai 1954:
Bundes­prä­si­dent Heuss in Oberko­chen zu Besuch bei der Firma Carl Zeiss

Der 1. Mai — ein herrli­cher Sonnen­tag vor genau 50 Jahren — und der Bundes­prä­si­dent in Oberkochen.

In vier Ausga­ben von »Bürger und Gemein­de« wurde auf dieses inzwi­schen histo­ri­sche Ereig­nis, das nun schon ein halbes Jahrhun­dert zurück­liegt, eingegangen:

BuG vom 30. April 1954, Seite 73:
Ein herzli­ches »Grüß Gott« dem Herrn Bundes­prä­si­den­ten!
Grußwort von Bürger­meis­ter Gustav Bosch zum »Feier­tag der Arbeit«
Grußwort von Landrat Dr. Huber

BuG vom 7. Mai 1954, Seite 82:
Dank der Gemein­de­ver­wal­tung — (Oberko­chen war noch Dorf) dafür, daß der Ort so »reich geschmückt« war. Auch Minis­ter­prä­si­dent Dr. Gebhard Müller hat dem Bürger­meis­ter gegen­über »Dank und Anerken­nung über das Festge­wand der Gemein­de« ausge­spro­chen.
Die Redak­ti­on bittet um »gute Fotos« für eine in Vorbe­rei­tung befind­li­che Bildbei­la­ge in der nächs­ten Nummer von »BuG«.

BuG vom 14. Mai 1954, Seiten 87 bis 90
4‑seitiger Bild- und Textbe­richt über den Besuch des Bundes­prä­si­den­ten. »Bundes­prä­si­dent Prof. Heuss besuch­te Oberko­chen am 1. Mai 1954« 11 Photos. Dazu ein Textbe­richt von Rudolf Heller und ein zusam­men­fas­sen­der Bericht zur Oberko­che­ner Anspra­che des Bundes­prä­si­den­ten von Dr. Hans Schmid. »Aus der Rede des Herrn Bundes­prä­si­den­ten an das deutsche Volk am 1. Mai 1954«

BuG vom 21. Mai 1954, Seite 93
»Der Gruß des Bundes­prä­si­den­ten« — Repro­duk­ti­on eines Schrei­bens des Bundes­prä­si­den­ten an Bürger­meis­ter Bosch mit seinem Dank für das herzli­che »Grüß Gott« in BuG v. 30. April 1954
Wir möchten den 50. Jahres­tag dieses denkwür­di­gen Besuchs zum Anlass nehmen, zum ersten Mal den gesam­ten Wortlaut der Oberko­che­ner Rede von Bundes­prä­si­dent Theodor Heuss abzudru­cken.
Als Vorla­ge dient der 1954 als Privat­druck im Auftrag von Hanns W. Brose, in Frank­furt a.M. erschie­ne­ne biblio­phi­le Sonder­druck Nr. 73 aus einer limitier­ten Gesamt­auf­la­ge von 500 Stück, der uns für diesen Zweck aus Oberko­che­ner Privat­be­sitz überlas­sen wurde.
Das Büchlein trägt den Titel: »Gerech­tig­keit erhöht ein Volk« und den Unter­ti­tel »Theodor Heuss — Zwei Reden zur Sozial­po­li­tik« 1954.
Die Oberko­che­ner Rede ist überschrie­ben: »Anspra­che in den Carl-Zeiß-Werken in Oberko­chen am 1. Mai 1954«.

Oberkochen

Anmer­kung:
Die Schreib­wei­se der nachste­hend aufge­führ­ten Rede von Bundes­prä­si­dent Prof. Dr. Theodor Heuss ist im Origi­nal­text wiedergegeben.

Geehr­te, festli­che Versamm­lung!
Als vor ein paar Monaten die Frage kam, ob ich den lange verspro­che­nen Besuch in Oberko­chen vielleicht am 1. Mai machen könne, habe ich diese Anregung gerne aufge­nom­men. Denn mit der Stiftung Carl Zeiß weiß ich mich, wenn auch nicht persön­lich, doch durch mancher­lei Arbeit, die ich dieser Stiftung litera­risch und wissen­schaft­lich gewid­met habe, lange verbun­den und weiß vor allem dies, daß der Name Ernst Abbé mit der Proble­ma­tik, die hinter dem 1. Mai steht, fast biogra­phisch verknüpft ist. So kann am Anfang und so wird am Schluß meiner Ausfüh­run­gen eine Huldi­gung an diesen Mann stehen müssen.

Es sind etwas über acht Jahre her, ich war damals Mitglied des württem­ber­gi­schen Kabinetts, als wir erfuh­ren, die Zeiß-Leute sind in Heiden­heim und sie wissen nicht recht, wo sie bleiben werden, wenn sie wieder anfan­gen. Und es ist für mich eine persön­li­che Genug­tu­ung, ohne daß ich damit mich jetzt als einen Mitbe­grün­der der neuen Arbeits­stät­te anmel­den möchte, daß ich damals im Kabinett ein schönes Plädoy­er für- Zeiß, für Abbé ablegen konnte und dies sagen: wenn diese Männer zu uns kommen. wenn sie bei uns bleiben, so haben sie in unserem Land mit die besten Chancen, wieder ihre Wirkung zurück­zu­ge­win­nen. Denn Württem­berg ist ja ein klassi­sches Land der Fertig­fa­bri­ka­ti­on. Mit herzli­chem Inter­es­se habe ich die Entwick­lung verfolgt und möchte heute dies sagen: so ungeheu­er schwer es war ein geschicht­lich an Jena gebun­de­nes Werk, auch wenn es ander­wärts seine Nieder­las­sun­gen besaß, aus den mensch­li­chen Voraus­set­zun­gen, aus denen allein es gewor­den war, verpflan­zen, — die Umpflan­zung ist geglückt. Ihr habt hier wieder Wurzel gefaßt. Ihr seid von Jena in Hunder­ten herüber­ge­kom­men. Ihr habt vom Härtfeld her Flücht­lin­gen Arbeit bieten können und meine Zuver­sicht, daß auch die einsäs­si­gen Schwa­ben gute Zeiß-Leute werden, hat sich — wie ich mir erzäh­len ließ — aufs beste bestätigt.

In wenigen Werken von Weltsicht­bar­keit ist so das deutsche Schick­sal markiert wie in diesem Zeiß-Werk. Noch in ein paar großen ehrwür­di­gen Namen von Verla­gen aus Leipzig, aus Jena, aus Breslau stellt es sich auch dar: in Mittel‑, in Ostdeutsch­land gewach­sen und nun hier wieder vor neue Aufga­ben um des gesam­ten Vater­lan­des willen gestellt! Das hat einen tiefen Sinn, — ich folge gerne dem, was Profes­sor Bauers­feld gespro­chen hat — daß wir hier die Flaggen von Thürin­gen und von Jena um uns wehen spüren und sehen; denn sie sind der Ausdruck dafür, daß die Menschen drüben seelisch heute mit in unserer Mitte sind.

Ich darf ein Wort der Erinne­rung an manchen Aufent­halt in Jena einfü­gen. Was hat Ernst Abbé dieser Stadt bedeu­tet, wo heute noch das Denkmal von Max Klinger und van de Velde steht und von ihm zeugt, wo das »Volks­haus« mit dieser Benen­nung ein Denkmal seiner Gesin­nung bleibt, wo die Leistung der Carl-Zeiss-Stiftung auch für die Univer­si­tät Jena und die Stadt Jena Kraft­quel­le gewesen war? An dieser Univer­si­tät Jena hatten einmal auch die großen Schwa­ben Schil­ler und Hegel gelehrt. Und nun kommen die Jenen­ser zu uns und ich denke, daß Schwa­ben jetzt diesem Werk Rückhalt gegeben hat. So, wie es Jena einmal gut bekom­men war, diese Schwa­ben in seiner Mitte zu haben, so wird es auch den Zeiß-Leuten und ist es ihnen schon gut bekom­men, jetzt bei uns zu sein.

Doch das kann nicht der Inhalt meiner Mai-Rede sein. Man weiß, im Jahr 1889 ist die Losung des Achtstun­den­ta­ges bei der tägli­chen Arbeits­zeit des gewerb­li­chen Arbei­ters als inter­na­tio­na­le Forde­rung verkün­det worden. Dieses Problem der Arbeits­zeit ist fast ein Stück von Abbes Autobio­gra­phie, der in seinen litera­ri­schen Arbei­ten mit dieser unerhör­ten Entper­sön­li­chung und Versach­li­chung der Darstel­lung auf einmal von der Erinne­rung berührt wird, da er davon erzählt, der Arbei­ter­sohn, daß er als 6, 7‑jähriger Junge in der Mittags­stun­de mit dem kleinen Topf voll Suppe in die Spinne­rei ging, wo sein Vater Arbei­ter war, — 14 Stunden Arbeits­zeit das norma­le, wenn Arbeits­auf­trä­ge sich häuften, 15, 16 Stunden. Und der junge Bub sieht zu, wie der überle­bens­gro­ße Vater, an die Maschi­ne gelehnt, schnell, ganz schnell aus dem Topf die Mittags­sup­pe herun­terlöf­felt, um wieder an die Arbeit gehen zu können. Und er spricht davon, welchen Eindruck der Erschüt­te­rung es für den Vater gemacht hat und in dem Kinder­sinn geblie­ben war, als im Jahr 1847 das engli­sche Parla­ment die Zehn-Stunden-Bill, Arbeits­zeit für Frauen und Kinder, angenom­men hat. Von der Jugend­zeit her blieb dieser Vorgang in ihm lebendig.

Der Achtstun­den­tag für die gewerb­li­che Arbei­ter­schaft zuerst einge­führt schon im Ausgang der 50-er Jahre in Austra­li­en, wo es keine sogenann­te »indus­tri­el­le Reser­ve-Armee« gab, wo der quali­fi­zier­te Arbei­ter noch eine Selten­heit war, wurde im Jahr 89, auf jenem Inter­na­tio­na­len Kongreß in Paris zur großen Frage­stel­lung. Aber, es bleibt wichtig genug, sich dessen zu erinnern: nicht eindeu­tig beurteilt, auch von den Arbei­tern nicht. Als damals, 1889, der Jalou­sie-Fabri­kant Gustav Freese in Berlin seinen Arbei­tern den Achtstun­den­tag angebo­ten hat, haben sie ihn abgelehnt; erst zwei Jahre später haben sie ihn angenom­men. Dort, aus handwerk­li­chem Betrieb heraus sich entwi­ckelnd, war das noch keine Angele­gen­heit der überlo­ka­len Markt­kon­kur­renz; was bis in unsere Tage hinein eine der kontro­ver­sen Fragen bildet. Der gesetz­li­che Achtstun­den­tag — erstau­nen Sie nicht — wird zum ersten Mal einge­führt, wo denn?, bei den Marine­werk­stät­ten der Royal Navy in England. Mit Torpe­do­boo­ten konnte man nicht auf den Markt gehen, um sie zu verkau­fen. Also dort, wo das indus­tri­el­le Konkur­renz­pro­blem nicht vorhan­den, beginnt die Entschei­dung in Europa.

Die grund­sätz­li­che Erörte­rung über die Frage war schon vorher unter­wegs. Ich darf früher Gesag­tes hier wieder­ho­len. Im Jahr 1875 hatte mein Lehrer. Lujo Brenta­no gegen Äußerun­gen des preußi­schen Handels­mi­nis­ters Camph­au­sen und gegen seinen Mitar­bei­ter Achen­bach jene erste Unter­su­chung geschrie­ben über den Zusam­men­hang von Arbeits­zeit und Arbeits­leis­tung. Und im Jahre 1893 erschien dann sein Buch: »Arbeits­zeit-Arbeits­lohn-Arbeits­leis­tung«, das hat Ernst Abbé gelesen und es hat ihn mitbe­ein­druckt. Er hat dann, Freese folgend, den Achtstun­den­tag einge­führt, und ein paar Jahre später ist ihm Robert Bosch in Stutt­gart gefolgt.

Warum erzäh­le ich das? Um daran zu erinnern, daß im konkre­ten Beispiel der prakti­schen Erfah­rung, nicht in der dogma­ti­schen Vertre­tung des Für und Wider die Entwick­lung ihren Weg suchte, um einen Durch­bruch zu der Klärung zu finden, daß die Leistung in bestimm­ten Hantie­rungs­pro­zes­sen, unter bestimm­ten techni­schen Voraus­set­zun­gen, bei gekürz­ter Arbeits­zeit nicht bloß nicht sank, sondern stieg; vor allem auch, weil der Ausfall wegen Krank­heit, wegen Ermüdung, wegen Betriebs­un­fäl­len und derglei­chen gerin­ger wurde.

Oberkochen

Erzäh­le ich hier Geschich­te oder gar Geschich­ten, um den aktuel­len Fragen auszu­wei­chen? Fünf-Tage-Woche — heißt das, bei gesetz­li­chem Achtstun­den­tag, 40 Stunden­wo­che oder werden die durch­schnitt­li­chen 48 Stunden sonst auf die fünf Wochen­ta­ge verteilt? Ist, wie und wo, dieser oder jener Prozeß durch­führ­bar unter Aufrecht­erhal­tung der Wochen­lohn­er­geb­nis­se? Ist, wie und wo, dieser Prozeß mit der Erhal­tung der Gesamt­pro­duk­ti­vi­tät oder gar ihrer Steige­rung verein­bar? Ich spreche diese Fragen, die durch diese Tage und Wochen gegan­gen sind, in ihrer generel­len Verein­fa­chung unbefan­gen aus, um auch ebenso unbefan­gen zu sagen, daß sie nach meiner Meinung generell heute gar nicht zu beant­wor­ten sind.

Die Lohnpo­li­tik selber ist weit diffe­ren­zier­ter als die Frühzeit der Arbei­ter­be­we­gung sie kannte. In den alten Schrif­ten, — wer so alt ist wie ich, hat sie noch im Nachhall, — hieß es: »Akkord­lohn = Mordlohn!« Die Ausein­an­der­set­zung ging um Zeitlohn, Stück­lohn, Akkord­lohn, Leistungs­zu­la­ge und so fort. Der Arbeits­pro­zeß als solcher mit der Ratio­na­li­sie­rung und Mecha­ni­sie­rung ist vielfach ertrag­rei­cher gewor­den, auch auf die einzel­ne Arbeits­kraft umgerech­net. Diese Arbeits­kraft selber aber, wo wesent­lich einsei­ti­ge Beanspru­chung, geisti­ge und seeli­sche Konzen­tra­ti­on gefor­dert, anfäl­li­ger, früher verbraucht, früher zur Rente hinge­lei­tet. Die ökono­mi­sche Gesamt­wir­kung dieser Entwick­lung ist keines­wegs eindeu­tig: das sieht nach Branchen verschie­den aus, nach der Verkehrs­la­ge eines Gewer­bes, nach dem Charak­ter der Vor- und Zurich­tungs­ar­beit, auch nach dem einzel­nen Stand inner­halb der gleichen Branche, nach der Verschie­den­heit der Techni­sie­rung und Ratio­na­li­sie­rung; vom Arbei­ter aus gesehen auch nach, der Entfer­nung zum Arbeits­platz, Ausmaß des Pendler­tums, Nähe, Ferne von der Fabrik. Dies eben, daß es die von der theore­ti­schen Konstruk­ti­on her fast notwen­di­ge gefor­der­te Verein­fa­chung in der konkre­ten Sachsi­tua­ti­on eindeu­tig gar nicht gibt, das schafft ja für die Kalku­la­ti­on ein so varia­bles Bild.

Ich will und kann nicht in den Gang kommen­der Ausein­an­der­set­zun­gen eingrei­fen wollen, vor denen jetzt gerade die Metall­in­dus­trie dieses Landes steht. Aber ich darf mir die Freiheit nehmen — auf jeden Fall tue ich es — ein paar Worte der Mahnung gegen­über der Verein­fa­chung der Begrif­fe hier auszu­spre­chen. Denn als ich die Äußerun­gen im Hin und Her las, da habe ich etwa erfah­ren, daß die sogenann­te »Selbst­fi­nan­zie­rung« der indus­tri­el­len Betrie­be in den letzten sechs Jahren eigent­lich erfolgt sei auf Kosten der Arbei­ter und auf Kosten der Konsu­men­ten. Da aber nun kaum, da überhaupt kein Kapital­markt vorhan­den war, war dieser Prozeß für jeden Einsich­ti­gen unver­meid­lich. Und die heute mit dieser Klage oder Ankla­ge kommen, die dürfen doch nicht verges­sen, daß damit erst überhaupt neue Arbeits­plät­ze von Dauer geschaf­fen werden konnten. Das darf nicht verges­sen werden. Es darf aber auch nicht verges­sen werden, daß nach 1945, 1946 die indus­tri­el­len Arbei­ter unter sinnlos schwe­ren Voraus­set­zun­gen, an die heute nicht viele mehr gerne denken, gehol­fen haben, ihre alten Fabri­ken überhaupt wieder in Betrieb zu bringen, um ihre Arbeits­plät­ze zu retten, auch um den Namen des Werkes, in dem sie standen, in dem vielleicht schon ihre Väter oder Großvä­ter standen, nicht unter­ge­hen zu lassen.

Die Proble­ma­tik der Wirtschaft­lich­keit, des Ertrags, der Rendi­te, ist eine sehr komple­xe Sache. Die Ansicht, die neulich an wichti­ger Stelle vorge­tra­gen wurde, daß die Lohnpo­li­tik­ge­stal­tung mit der Kalku­la­ti­on wenig, mit der Währungs­fra­ge gar nichts zu tun habe, ist eine — ich will vorsich­tig in der Wortwahl sein — zum mindes­ten nicht unbedenk­li­che Isolie­rung des ökono­misch-sozia­len Fragen­krei­ses. Das neue Schlag­wort von der »expan­si­ven Lohnpo­li­tik«, mit der zumal für das in die Folgen der Nieder­la­ge, mit Substanz­ver­lust und Verschul­dung, gezwun­ge­ne Deutsch­land sehr fragwür­dig gewor­de­nen sogenann­ten Kaufkraft­theo­rie, reicht nicht aus. Ich plädie­re statt für »expan­si­ve Lohnpo­li­tik« für »inten­si­ve Lohnpo­li­tik«. Ich weiß, das ist auch ein Schlag­wort. Aber es heißt, die Entwick­lung jener Produk­ti­on, bei der ein Maximum von Lohn, d. h. mensch­li­chem Geist, mensch­li­cher Fertig­keit, in ein Minimum an Rohstoff gesteckt wird. Denn damit, damit allein wird unser aller, unser aller Leben in den Schwan­kun­gen des Weltmark­tes allein gerettet.

Ich will nicht weiter theore­ti­sie­ren. Ich bin ja schließ­lich nicht hier herge­kom­men zu einer Vorle­sung über Sozial­öko­no­mie und habe selber vorhin meine Sorge geäußert, daß die Formeln einer dogma­ti­schen Behaup­tung in diesen Raum wieder eindrin­gen könnten und zwar von beiden Seiten. Ich will nicht sagen: sie sind allzu­mal Sünder, aber ich sehe auf beiden Seiten der sogenann­ten Sozial­part­ner Leute, die ich, man gestat­te es mir, für Sünder halte.

Ich wieder­ho­le, was ich schon einmal an einem 1. Mai gesagt habe: der freiheit­li­che, demokra­ti­sche Staat, der ein politi­sches, nicht ein ökono­mi­sches Unter­neh­men ist, soll nach meiner Auffas­sung hier nicht im Konkre­ten eingrei­fen, sondern den Rechts­bo­den des vertrag­li­chen Seins sichern. Dafür hat er die Arbeits­ge­rich­te. Aber die Verbän­de der Arbeit­neh­mer wie der Arbeit­ge­ber sollen sich in loyaler Partner­schaft gegen­über­tre­ten. Das hatte vor ein paar Jahren in Hatten­heim und in Maria Laach gut einge­setzt, das war im verwi­che­nen Jahr, etwas zöger­lich, in Östrich wieder aufge­nom­men worden, bleibt aber im Ungewis­sen schwe­ben. Und eben dies Ungewis­se gibt den Skepti­kern und den Mißge­stimm­ten auf beiden Seiten immer wieder Chancen. Und dabei ist es so, ich weiß dies selber aus mancher­lei Gesprä­chen, daß im Grunde beide Teile den sogenann­ten »politi­schen Lohn« nicht wollen, d. h. von einem staat­li­chen Schlich­ter als verbind­lich ausge­spro­che­nen und verord­ne­ten. Er gefähr­det nicht nur die Beweg­lich­keit, sondern die Freiheit, und wälzt auf Parla­ment oder Bürokra­tie oder Kabinet­te — die anwesen­den Mitglie­der werden so einsichts­voll sein, mir in meiner Auffas­sung zu folgen — eine Aufga­be, für die sie im Elemen­ta­ren nach gar nicht bestimmt sind und der sie auch nicht gewach­sen sind. Immer wieder, freilich bis jetzt erfolg­los, habe ich beide Teile auf den Vertrag hinge­wie­sen, der im Jahre 1937 in der Schwei­zer Metall­in­dus­trie abgeschlos­sen wurde. Dort hat man gerade­zu ein Modell geschaf­fen für den sozia­len Frieden. Und die Schwei­zer metall­ver­ar­bei­ten­de Indus­trie ist sehr entwi­ckelt, sehr diffe­ren­ziert und hat einen hohen Lebens­stan­dard der in ihr beschäf­tig­ten Arbei­ter­schaft. Dort nämlich hat es seit dem Jahr 1937 überhaupt keinen Arbeits­kampf mehr gegeben, weil mit großer Klugheit für alle Situa­tio­nen Kräfte und Organe einge­schal­tet sind, die beider Vertrau­en besit­zen und denen beide sich unterordnen.

Aber ich weiß freilich nicht, ob die Syndi­ci der Arbeit­ge­ber­ver­bän­de oder die Sekre­tä­re der Gewerk­schaf­ten die Reden des Bundes­prä­si­den­ten so ernst nehmen, um die Dinge in der Zwischen­zeit einmal gelesen zu haben; denn man muß sich in die Sache vertiefen.

Drüben, in der Sowjet­zo­ne fehlt die Möglich­keit einer echten Partner­schaft, von der ich eben gespro­chen habe. Es hat einen tiefen Sinn, wenn die Gewerk­schaf­ten der freien Welt in ihrem Aufruf zum 1. Mai sich scharf abheben von dem, was im sowje­ti­schen Bereich den Namen Gewerk­schaft trägt. Früher einmal, als ich in Berlin bei den Borsig­leu­ten gespro­chen habe, hatte ich mir die Mühe gemacht, sie war lehrreich im Ertrag, einen sogenann­ten »Betriebs­kol­lek­tiv­ver­trag« zu studie­ren. Ich habe ihn dann zu analy­sie­ren versucht. Dort sind die Gewerk­schaf­ten auf einmal nichts anderes als die Funktio­nä­re des staat­li­chen Willens, die, was die alte Gewerk­schaft mit Recht verur­teil­te, als »Antrei­ber« in den Betrie­ben zur Errei­chung eines so oder so oder so gesetz­ten Solls zu dienen haben.

Ich habe jetzt den Entwurf einer sogenann­ten Betriebs­kon­sti­tu­ti­on für das Jenaer Werk von 1952 studiert und dabei daran gedacht, wie Abbé seiner­zeit sein Stiftungs­sta­tut sorgfäl­tig durch­ge­ar­bei­tet hatte, verhal­ten in den Formu­lie­run­gen; jetzt bricht der ganze Wortzau­ber einer armse­li­gen Demago­gie in diese Konsti­tu­ti­on ein, mit den »Arbeits­bri­ga­den« und so fort. Es ist ja die seltsa­me Situa­ti­on, daß die milita­ris­ti­sche Ausdrucks­wei­se die pazifis­ti­sche DDR durch­drun­gen hat; auch dort, wo in dieser Konsti­tu­ti­on kultur­po­li­ti­sche Aufga­ben umschrie­ben werden, geht es vom Klägli­chen bis zum Tragi­ko­mi­schen. Dort kann man lesen als Anwei­sung an die Mitglie­der der Jenaer Werke: »Einübung der Stalinkantate«.

Das gehört nämlich auch dazu. Die meisten der alten Zeiß-Leute werden solche Sprüche nur mit Mißbe­ha­gen, mit Trauer lesen, denn sie waren eine andere Haltung gewöhnt.

Wir denken ihrer heute, die wir stell­ver­tre­tend empfin­den für die Deutschen in der Sowjet­zo­ne. Und wir wissen und nehmen gerne auf jenen Akzent im heuti­gen Aufruf des Deutschen Gewerk­schafts­bun­des, daß dieser 1. Mai auch als Bekennt­nis zu nehmen ist für die natio­na­le Einheit, der unsere Arbeit und unsere Sehnsucht gilt.

Herr Profes­sor Bauers­feld hat vorhin ein Wort mitge­rich­tet an die alten Zeiß-Leute in Jena. Wenn die heute an dem Denkmal von Ernst Abbé vorbei­zie­hen, sollen sie sich nicht nur erinnern, das läßt sich ja nicht auswi­schen, daß dieser Mann in seinem subti­len Gewis­sen die Sorge für das Wohlerge­hen seiner Mitar­bei­ter mittrug und daß seine Weitsicht und Einsicht die Pflege der Wissen­schaf­ten forder­te. Aber sie möchten auch spüren, daß dieser Ernst Abbé ganz einfach an die Freiheit glaub­te. Er war nämlich — und dies nicht nur neben­her gesagt — politisch ein Libera­ler, sogar ein ortho­do­xer Libera­ler, ein kräfti­ger Partei­gän­ger des Eugen Richter. Wenn ich das sage, so bringt das natür­lich in Westdeutsch­land manche heute in Verle­gen­heit, denn das Wort »liberal« ist von den Natio­nal­so­zia­lis­ten zum Schmäh­wort gemacht worden und viele Leute, die gar keine Pg.’s waren, haben das im Ohr behal­ten und sie verwen­den es in unbeküm­mer­ter oder ungebil­de­ter Unbefan­gen­heit. Sie sind dann erstaunt, wenn man ihnen sagt, wie sehr in der Mitte dieses Ernst Abbé das libera­le Bekennt­nis war. Sie glaub­ten bisher, er sei ein »Sozia­list« oder was man so nennen mag. Ich merke dies an, weil es sozial und geistes­ge­schicht­lich nicht unwich­tig ist, sich dessen zu erinnern, nämlich der Respekt vor der freien Selbst­ver­ant­wor­tung des Menschen, gleich­viel welchen Glaubens, welcher Partei, welcher Herkunft, dieser Respekt war der inners­te Antrieb seines sozia­len Tuns.

Man möge es mir nicht verübeln, wenn ich an einem Tag, der seine innere Kraft aus dem Gemein­schafts­ge­fühl, der Solida­ri­tät in der Berufs­ar­beit und aus dem Bekennt­nis zu dem Frieden zwischen den Völkern bezog und bezieht, nun eben, vor diesem Abbé stehend, als ein Bekennt­nis, eben das Bekennt­nis zu diesem Einzel­men­schen ausspre­che. Dieser Ernst Abbé hat eine Wissen­schaft revolu­tio­niert. Er hat in seinem Freun­de Schott den konge­nia­len und selbstän­di­gen Mitge­stal­ter dieses Auftra­ges gefun­den. Ohne deren beider Leistung ist die ganze neubio­lo­gi­sche Wissen­schaft, ist die Entwick­lung der physi­ka­li­schen Erkennt­nis­se gar nicht zu denken. Aber davon reden wir in dieser Stunde nicht, auch nicht von dem ratio­na­lis­ti­schen indus­tri­el­len Organi­sa­tor, der sich entper­sön­lich­te und schein­bar eine Paragra­phen­fol­ge wurde.

Aber wer diese Paragra­phen lesen kann, spürt, wie ein großes Herz durch sie hindurch­schlägt. Hier steht ein Mann, ernst, schwer­le­big, vielleicht sogar schwer­fäl­lig. Er konnte ein Herrscher sein in jener Frühzeit der indus­tri­el­len Entfal­tung — er will es nicht, er kann es nicht. Er will aber auch nicht »dienen«. Dafür ist er inner­lich zu stolz und das Wort ihm zu sprich-worthaft senti­men­tal. Er will bloß helfen, er will den Menschen helfen, Mensch zu sein. Das ist sein Beispiel. An dieser Stelle hier, da seine irdische Leistung geret­tet wurde, darf und muß an einem 1. Mai diese beispiel­haf­te, unsterb­li­che Leistung Mitte des Denkens und des Dankens sein. So begriff er, so lebte er: das Recht der sozia­len Ordnung und die Freiheit des bürger­li­chen Wesens als die Klammern und Stützen der vater­län­di­schen Einigkeit.

Oberkochen

Dietrich Bantel

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