Nicht weit nördlich des Volkmars­berg­turms, dort wo die flach geneig­te Heide in hohen Misch­wald übergeht und der Hang als immer steiler werden­de Klinge über die Märchen­wie­se hinab ins Wolfert­s­tal abfällt, da liegt zwischen Wachol­der­bü­schen ein riesi­ger Felsklotz. Auf der topogra­phi­schen Karte von 1927 im Maßstab 1:25000 ist dieser Felsklotz als »Bergstein« einge­zeich­net. Den gleichen Namen weist das Bergrund­schau-Panora­ma des Schwä­bi­schen Albver­eins von 1930 auf. Hin und wieder hört man auch einfach die Bezeich­nung »dr Schdoi«. Aber die meisten Oberko­che­ner und Älbler sagen einfach »dr Fels«, (»dr Felsa«) oder »beim Fels« oder »am Fels vorbei«. Auch die Bezeich­nung »s’Fels­le« wurde mir genannt.

Oberkochen

Niemand mehr weiß aber, dass man den »Fels« noch vor 250 Jahren den »Hexafels« nannte. Weil die Hexen und später auch die Erinne­run­gen an sie aus der Mode gerie­ten, geriet auch der Name »Hexafels« in Vergessenheit.

Vor 22 Jahren aber traf ich mit einer ganz alten Frau zusam­men, die mir über aller­lei Oberko­che­ner Sagen zu berich­ten wusste. Von dieser Frau weiß ich, dass es noch heute um die Mitter­nachts­zeit in klaren Sommer­näch­ten bei Vollmond um den «Fels« herum so hin und wieder nicht ganz geheu­er sein soll. Wenn sich weit und breit kein Lüftlein regt, dann weht um den »Fels« ein leiser Wind, und manch­mal hört man ein Geräusch, wie wenn ein leich­ter Stoff über den Stein gezogen würde. Auch ein leises Kichern und unver­ständ­li­ches Tuscheln von Mädchen­stim­men sollen hin und wieder zu spätnächt­li­cher Stunde aus dem »Fels« herauskommen.

Im 18. Jahrhun­dert, so erzähl­te mir die Frau, sei einmal ein Schäfer neben seiner Herde beim »Fels« einge­schla­fen am helllich­ten Tag und soll daran aufge­wacht sein, dass ihm ein Stoff übers Gesicht gezogen wurde. Als er die Augen öffne­te war niemand weit und breit, aber neben ihm lag ein mit einem Goldfa­den umwickel­ter Strauß mit ihm unbekann­tem Kraut, das dunkel­rot­brau­ne Blüten trug. An dem Fa-den hing ein Zettel, auf den äußerst kunst­voll ein großes dunkles Auge gezeich­net war, und darun­ter stand geschrie­ben: »Vom Bilzle«.

Dem Schäfer ward recht unheim­lich zumute aber er traute sich nicht, mit jeman­dem über den seltsa­men Vorfall zu sprechen. Jedes­mal, wenn er daran dachte, lief es ihm aber so leicht schau­rig den Buckel runter, bis er eine der krauti­gen Pflan­zen aus dem Gebin­de rupfte und einen Quack­sal­ber nach dem Namen der Pflan­ze fragte. Zu seiner Überra­schung erfuhr er, dass die Pflan­ze »Bilsen­kraut« heißt. Nun war ihm klar, dass ein Zusam­men­hang zwischen dem Kraut­bü­schel und irgend­ei­nem Wesen bestehen musste, das den Strauß neben ihn gelegt hatte, während er im Schat­ten vom »Fels« schlief.

Bald darauf verlieb­te sich der Schäfer in ein fremdes Mädchen mit langen dunklen Haaren und außer­ge­wöhn­lich großen dunklen Augen. Sie führten eine perfek­te Ehe und hatten 5 Kinder — eines hübscher als das andere. Manch­mal aber ging die Frau des Schäfers allei­ne in den Wald, um draußen in der »Bilz«, einem abgele­ge­nen und sagen­um­wo­be­nen Waldstück, Pilze und Beeren zu sammeln wie sie sagte. Und immer, wenn sie vom Wald zurück­kam, hatte sie außer Pilzen und Beeren beson­ders dunkle und große Augen, mit denen sie alle Menschen verzau­ber­te — vor allem aber ihren aller­liebs­ten Schäfer­mann. Und weil ein Teil ihres geheim­nis­vol­len Wesens offen­bar mit dem Wald in der Bilz zu tun hatte und weil er eine Querver­bin­dung zu seinem Erleb­nis auf dem Berg beim »Fels« wähnte, nannte der Schäfer das Mädchen sein »Bilzle«.

Ehe sie in ihrer Geschich­te fortfuhr, versi­cher­te mir die alte Frau, dass sie eine Ururur­urur Enkelin der bildhüb­schen Schäfers­frau noch persön­lich gekannt hat.

Und dann erzähl­te sie, dass zu eben diesen alten Zeiten eine größe­re Zahl Oberko­che­ner Frauen einmal im Jahr zur Sommers­zeit in die »Ellwan­ger Bilz«, wie der große finste­re Wald damals noch hieß, zogen, um dort angeb­lich Pilze und Beeren, in Wirklich­keit aber das Bilsen­kraut und auch die Tollkir­sche und andere Kräuter zu sammeln, aus denen sie dann oben auf dem Berg überm Feuer am »Fels« eine zauber­kräf­ti­ge Tinktur zubereiteten.

Das war vor etwa 250 Jahren, wie mir die Alte erzähl­te. Außer der Frau des Schäfers, die man »s’Bilz­le« nannte, zählten zu diesen Frauen »d’Schul­des­se (die Frau vom Bürger­meis­ter), d’Hef­addl (die Hebam­me), d’Bee­de (die Bötin also die Frau, die für kranke Mitbür­ger Medizin in Aalen besorg­te und andere Boten­gän­ge verrich­te­te), d’Ondrmil­le­re (die Frau des Müllers von der Unteren Mühle, heute Schee­rer­müh­le), ferner vier Wirts­frau­en, nämlich d’Och­sa­wi­er­de, Greeabaum­wier­de, d’Röss­les­wier­de, und d’Hie­schwier­de (die Frau vom Hirsch­wirt), des weite­ren d’Dorf­schul­moisch­de­re (die Frau vom Herrn Lehrer), d’Uff­bas­se­re, (die Frau des Nacht­wäch­ters), d’Pfar­re, (die Frau vom evange­li­schen Pfarrer) und ganz zuletzt S’Fak­to­dom (die Haushalts­ge­hil­fin des katho­li­schen Pfarrers).

Während diese 13 Oberko­che­ner Frauen auf die Mitter­nacht zu um den »Fels« auf dem Berg herum­tanz­ten, köchel­te das nach uraltem Rezept zuberei­te­te Bilsen­kraut und Tollkir­schen-Gebräu im Kupfer­kes­sel, der an einem Metall­stab mit Haken am Ende überm Feuer hing. Das Loch, in welchem die Haken­stan­ge steck­te, kann man heute noch im »Fels« sehen und auch die Feuer­stel­le ist bis auf den heuti­gen Tag an der schwar­zen Verfär­bung des Bodens zu erkennen.

Wenn aus dem Tal herauf die Turmglo­cken die Mitter­nacht einläu­te­ten, so erzähl­te die Alte weiter, setzten sich die 13 putzmun­te­ren Frauen, die natür­lich alles andere als Hexen waren, in plötz­li­cher großer Stille um das Feuer beim »Fels« und träufel­ten sich ein paar Tropfen des dunkel­ro­ten gifti­gen Elixiers in die Augen und ein paar in den Mund. Hernach begann sich der Reigen wieder zu drehen. Nach vielen weite­ren Runden noch wilde­ren und wie berausch­ten Tanzes zogen sich die 13 Frauen dann unter hellem Lachen zurück Richtung Dorf. Um nicht aufzu­fal­len ging aber ab dem Waldrand eine jede still für sich allein des Wegs nach Hause. Am Morgen des nächs­ten Tages jedoch hatten alle diese Frauen wunder­vol­le große Augen wie Zauber­feen und waren beson­ders lieb zu ihren Männern. Und denen war das gerade recht.

Natür­lich krieg­ten es die anderen Männer im Dorf so nach und nach auch spitz, wenn sich da oben auf dem Berg was abspiel­te, aber keiner traute sich hinauf. Es war, wie wenn alle Frauen im Dorf unter einer Decke stünden: In den fragli­chen Nächten befah­len sie ihren Männern statt auf dem Berg herum­zu­spio­nie­ren besser ins Wirts­haus zu gehen. Das befolg­ten die Männer willig, denn die Frauen übten damals wie heute eine kolos­sa­le Macht in der Ehe aus. Kein Wunder also, dass diesen 13 Frauen von den Männern im Dorf mit der Zeit der Ruf der Hexerei angedich­tet wurde.

Ein einzi­ges Mal war ein verirr­ter Wanders­mann als Zeuge einer solch nächt­li­chen Orgie ansich­tig gewor­den und berich­te­te im Dorf, und zwar in der »Grube«, dass oben auf dem Berg und just um Mitter­nacht, 13 Hexen mit Husch und Hui rund um einen Felsklotz und ein Feuer tanzten. Da machte sich eine Abord­nung von tapfe­ren Männern unter der Anfüh­rung des Wanders­man­nes, des Polizei­die­ners und des Bürger­meis­ters auf den Weg, um Erkun­di­gun­gen vom Berge einzuholen.

Als sie aber an den »Fels« kamen, da war da nichts, aber auch rein gar nichts. Der Boden beim »Fels« war jedoch schwarz, wie wenn dort einmal ein Feuer gebrannt hätte. So wurde der Wanders­mann ausge­lacht, er habe wohl Geister gesehen und die Männer kehrten unver­rich­te­ter Dinge in ihre Wirtschaf­ten zurück, um die von ihren Frauen verord­ne­ten Sitzun­gen zu vollenden. Als sie am frühen Morgen in ihre Häuser zurück­kehr­ten, da wurden sie von ihren Frauen nicht mit dem Wellholz, sondern mit großer Liebe empfangen.

Seit dieser Zeit hieß der Fels auf dem Berg nur noch »dr Hexafels«. Und erst Napole­on verbot dann in seinem berühm­ten Reichs­de­pu­ta­ti­ons­haupt­schluss von 1803, der das Ellwan­gi­sche Land ins Württem­ber­gi­sche Herzog­tum einfüg­te, allen »Zauber, den die Weibs­leut zu nächt­li­cher Stunde in und außer­halb der Dörfer ausübten«.

Wir aber wissen, dass es in Oberko­chen nie richti­ge Hexen gegeben hat, denn alle Oberko­che­ner Ehegat­tin­nen waren, wie diese Geschich­te lehrt, stets treu lieben­de Frauen zum Wohlge­fal­len ihrer braven Männer.

Der »Hexafels« indes liegt bis heute an seinem alten Platz.

Zum guten Schluss sagte die alte Frau zu mir: Die Geschich­te ist aus, dort läuft eine Maus. Wer sie fängt, kann sich eine große Pelzkap­pe aus ihrem Fell machen, auf der man wunder­schön ins Neue Jahr 2002 rutschen kann.

Dietrich Bantel

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